Papst Schenuda III., seit 1971 der 117. „Papst von Alexandria“ und damit Repräsentant der koptischen Christen in Ägypten, hat seine Heilige Schrift ganz genau studiert. Aus der Bibel, liess der fast Neunzigjährige wissen, gehe hervor, dass ziviler Ungehorsam gegen die regierende Obrigkeit nicht statthaft sei.
Göttliche Offenbarungen - nach Gusto interpretierbar
Auch Mohammed Hassaan, ein bekannter salafistischer Prediger, hat seine Heilige Schrift, den Koran, genauestens gelesen und, wie bei frommen muslimischen Gelehrten üblich, vermutlich auch auswendig gelernt - Sure für Sure. Und aus keiner Sure gehe hervor, sagte er, dass man der Obrigkeit durch passiven Widerstand entgegen treten solle.
Wie das bei heiligen Schriften üblich ist, die einem Propheten in einem früheren Zeitalter unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen von einer himmlischen Macht eingegeben wurden, kann man diese göttlichen Offenbarungen Hunderte von Jahren später je nach Gusto interpretieren. Im Falle der ägyptischen Kopten und der ägyptischen Salafisten kommt man dem Wunder der plötzlichen, aber ungewollten und für beide Seiten vermutlich peinlichen politischen Einigkeit wohl am besten mit einer schnöden Analyse der derzeitigen politischen Interessenlage beider Gruppen auf die Spur.
Koptenführer - Anpassung an die Herrschenden
Die koptische Kirche, die etwa zehn Prozent der Ägypter vertritt, war im Grunde ein Teil des Systems Mubarak. Die Institution Kirche war vom Regime anerkannt, zum Gottesdienst am koptischen Weihnachtsfest kam stets ein Vertreter des Regimes, zuletzt, am 7.Januar 2011, kurz vor Ausbruch der Revolution, liess sich Gamal Mubarak blicken. Hosni Mubarak hat den 7.Januar sogar um allgemeinen Feiertag erklärt. Gegen die Menschenrechtsverletzungen des Regimes hat Papst Schenuda nie protestiert, gegen die ständige Inhaftierung von Muslimbrüdern auch nicht.
Als im Mai 2011 in Afieh bei Heluan südlich von Kairo eine Kirche niedergebrannt wurde, blieb der Protest der Kirche zurückhaltend – obwohl schnell klar wurde, dass der Zwischenfall von Vertretern des alten Regimes provoziert worden war. Das berichtet wenigstens ein Mitglied der nach Afieh geschickten Untersuchungskommission. In Afieh nämlich hätten junge Männer und junge Frauen beider Religionen Beziehungen geknüpft, schnell habe das Wort von aufkommender Prostitution die Runde gemacht.
Diese Situation hätten Anhänger des alten Regimes genutzt; sie hätten Schläger angeheuert, denen sie den Auftrag gegeben hätten, die Kirche in Brand zu setzen. Ziel der Aktion: Chaos zu schaffen und zu beweisen, dass ohne Mubarak das Land instabil werde. Die Worte Schenudas nach der Brandstiftung an einer seiner Kirchen blieben ebenso unverbindlich wie nach den Ereignissen im Stadtteil Maspero im Oktober 2011. Damals waren Kopten aus dem Stadtteil Shubra in Richtung Informationsministerium, das auch Staatsfernsehen und Staatsradio beherbergt, marschiert, um gegen den Angriff auf eine Kirche in Oberägypten zu protestieren.
Nachdem das Staatsfernsehen Horrormeldungen über einen angeblichen Angriff von Kopten auf Muslime verbreitet hatte, griff das Militär ein, 24 Menschen starben. Papst Schenuda betrauerte die Toren, nahm aber von einer Kritik des regierenden Militärrates Abstand. Wie schon zu Zeiten Mubaraks sucht, so muss man die zurückhaltende Stellungnahme interpretieren, die Institution Kirche Schutz unter dem herrschenden Regime. Als Minderheit, so glaubt die Führung der Kopten, dürfe man sich nicht wehren.
Die Taktik der Salafisten
Aus dieser, teils selbst eingeredeten Schwäche agieren die Salafisten nicht. Sie gehören zur muslimischen Mehrheit – und sie haben bei den Parlamentswahlen stattliche 25 Prozent der Stimmen bekommen. Was also sind ihre Interessen am derzeit herrschenden Status quo? Anders als manche ausländischen Beobachter glaubten (der Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen), sind die Salafisten kein gänzlich neues Phänomen in Ägypten.
Um sich eine neue Machtbasis zu suchen, hat Präsident Anwar al-Sadat in den 1970er Jahren die Verfassung ändern und die islamische Scharia als eine Hauptquelle der Gesetzgebung bezeichnen lassen. Damals entstanden viele islamische Gruppen, die später auch gewalttätig wurden wie etwa die Gama Islamiya, (der Sadat im Oktober 1971 zum Opfer fiel). Auch eine andere Strömung, die Salafisten, kam aus dem Untergrund.
In kleinen, staatlich nicht kontrollierten Moscheen stellten sie oft die Prediger. Entscheidend aber war, dass der Geheimdienst begann, die Salafisten gegen die Muslimbrüder auszuspielen – in der Hoffnung, die Muslimbrüder zu schwächen. (Auch Israel hatte einst die Hamas unterstützt, um ein Gegengewicht gegen Arafats Fatah aufzubauen. Die Rechnung ging bekanntermassen nicht auf).
Die Salafisten sind also durch das Mubarak-Regime gestärkt worden, nun profitieren sie vom Militärrat, der sie ganz offiziell gewähren lässt. Die Allianz zwischen den Generälen und den Frommen muss aber – wie vieles derzeit in Ägypten - nicht von Dauer sein. Derzeit aber ist die Kongruenz der Meinungen für beide Seiten von Nutzen. Die Salafisten können, wie die Muslimbrüder, erstmals frei politisch agieren. Der Militärrat seinerseits braucht nicht zu befürchten, dass die Frommen zum Widerstand aufrufen.
Zweierlei Mass beim Militärrat
Diese Übereinstimmung der politischen Positionen passt auch in die vom Militärrat angefachte Kampagne gegen ausländische Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO). Westliche Gruppen, wie etwa das amerikanische „National Institute“, werden beschuldigt, widerrechtlich ausländische Gelder angenommen zu haben.
Dagegen ist es in Kairo ein offenes Geheimnis, dass Salafisten aus Saudi Arabien und Muslimbrüder überwiegend aus Dubai Gelder beziehen – ohne von den Militärs kritisiert zu werden. Ob dies jeweils staatliche oder private Gelder sind, bleibt umstritten. Saudi Arabien, oder doch reiche saudische Geschäftleute, versuchten - so lautet die Argumentation – durch Hilfe an die Salafisten zu verhindern, dass in Ägypten ein säkular-westliches, demokratisches System entstehe.
Dubai seinerseits schätze die Wirtschaftskompetenz der Muslimbrüder, durch Unterstützung der Brüder hoffe das ökonomisch ins Schlingern geratene Handelszentrum am Golf seinen eigenen Wirtschaftsstandort zu stärken.
Auch die koptische Kirche Ägyptens erhält reichlich Geld aus dem Ausland, vornehmlich aus den USA. Das Regime der Generäle hat daran bisher ebenso wenig Anstoss genommen wie an den Zuwendungen, welche die Brüder und die Salafisten erhalten. Papst Schenuda III. hat sich, so könnte man seine Haltung interpretieren, Zurückhaltung auferlegt. In einer Predigt kurz nach dem Sturz Mubaraks erwähnte er die Revolution mit keinem Wort.
Sadats und Mubaraks Machtspiele
Gegen die Diskriminierung seiner Kopten protestiert nicht er, das tun eher seine Glaubensbrüder in den USA. Jetzt erklärte er zivilen Widerstand für unstatthaft. Die Biographie des koptischen Papstes zeigt, dass er mit den Salafisten schlechte, mit dem Regime Mubarak indessen gute Erfahrungen gemacht hat. In den späten 1970er Jahren mussten Kopten unter Angriffen der Salafisten leiden, die sich erstmals unter Präsident Anwar el-Sadat aus dem Untergrund gewagt hatten.
Auf die Verfolgung der Kopten durch die Salafisten reagierte Sadat überraschenderweise damit, dass er 1981 Schenuda in ein Kloster im Wadi Natrun, zwischen Kairo und Alexandria gelegen, verbannte. Mit diesem staatlichen Willkürakt stärkte Sadat seine neuen Verbündeten, die Islamisten. Erst sein Nachfolger Hosni Mubarak drehte das Steuer 1985 herum. Er befreite Schenuda und begann die Verfolgung der von Sadat gross gezogenen Islamisten - bis ihm sein Geheimdienst vorschlug, man müsse eine Gruppe, die Salafisten, hofieren, um die andere Gruppe, die stärkeren Muslimbrüder zu schwächen.
Peinliche Komplizenschaft?
Fazit: Papst Schenuda sieht im Militärrat eine Fortsetzung des Regimes Mubarak, das ihn 1985 aus der Verbannung erlöst hat. Die Salafisten ihrerseits, einst von Sadat gefördert, von Mubarak erst verfolgt und dann benutzt, sind unter dem Militärregime zu einer unerwarteten politischen Grösse geworden. Auch sie haben Interesse an der Stabilisierung des so nützlichen Status quo. Dass die verfeindeten Religionsgruppen derzeit in ein und demselben politischen Boot segeln, ist ihnen wohl beiden eher unangenehm.