Die Rückkehr Grossbritanniens ins Europäische Forschungsprogramm «Horizon» bewegt die Schweizerischen Gemüter. Warum eigentlich? Die Aufregung beruht auf einem fundamentalen Missverständnis über die rechtlichen Grundlagen der EU.
Jetzt singen sie wieder, die Illusionistinnen und Illusionisten in der Betrachtung des Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU. Die Rückkehr Grossbritanniens ins Europäische Forschungsprogramm Horizon ist ihnen willkommener Anlass. «Nicht einknicken!» wird da lautstark gerufen, denn mittlerweile hat sich die Erkenntnis in diesem Land immerhin durchgesetzt, dass die EU den Wiedereintritt der Schweiz in dieses Forschungsprogramm vom Zustandekommen eines institutionellen Abkommens abhängig macht. Und in diesem Abkommen ist der Knackpunkt bekanntlich die Anerkennung der letztinstanzlichen Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes EuGH zur Auslegung des EU-Rechts.
Wann endlich wird die Schweiz bereit sein, die elementarsten Grundbausteine der Europäischen Integration als objektiv vorhandene Fakten zur Kenntnis zu nehmen? Dafür braucht es keine juristische Ausbildung, sondern es genügt, die Fakten realistisch zu betrachten und keiner Illusion nachzuhängen. Die Illusion besteht darin zu meinen, das Verhandeln der Schweiz mit der EU geschehe nach den selben Regeln wie zum Beispiel eine Verhandlung der Schweiz mit Kanada, Japan, Brasilien oder Südafrika. Das sind souveräne Nationalstaaten, die – wenn sie es denn wollen – mit der Schweiz verhandeln können, was sie wollen.
Die EU ist das nicht, und ihre Mitgliedstaaten sind es auch nicht mehr, nachdem sie einen Teil ihrer Souveränität im Rahmen dieser EU gebündelt haben. Was ist sie dann eigentlich, diese EU? Faktisch wird die EU durch zwei Dinge zusammengehalten, zum einen durch das EU-Recht und zum anderen durch die politischen Verfahren, aus denen dieses Recht hervorgeht. Diese politischen Abläufe benutzen zwei Stränge: Zum einen den direkten über das Europäische Parlament, und zum anderen einen indirekten über die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten, welche den Rat mit ihren Ministern oder Staatschefs beschicken. Im Zusammenwirken von Ministerrat und Parlament entsteht EU-Recht, für das der Europäischen Kommission nur ein Vorschlagsrecht zusteht.
Gemeinsame Anwendung von EU-Recht
Die Europäische Union ist kein Staat, mit dem man so verhandeln könnte wie mit Kanada, Japan, Brasilien oder Südafrika. Neben dem EU-Recht gibt es viele Bereiche, in denen die Rechtssetzungskompetenz vollumfänglich bei den Mitgliedstaaten verblieben ist. Und auch für das EU-Recht liegt die Durchsetzung weitgehend bei den Mitgliedstaaten. Diese bringen immer wieder ihr nationales Recht mit dem EU-Recht in Übereinstimmung. Das nationale Recht wird durch die nationalen Parlamente erlassen, und dabei muss das EU-Recht immer wieder interpretiert werden, wobei die Mitgliedstaaten zu unterschiedlichen Resultaten kommen können. Im Konfliktfall entscheidet der EuGH über die Interpretation des EU-Rechtes. Gäbe es diese Regel nicht, würde die Europäische Union implodieren.
Nun möchte die Schweiz weiterhin am Binnenmarkt teilnehmen, dessen Träger das Rechtssystem der EU ist. Das bedeutet neben der Personenfreizügigkeit im Wesentlichen den Import und Export von Waren und Dienstleistungen. Was die Regeln des Binnenmarktes anbelangt, muss die Schweiz die Umsetzung des EU-Rechts also genau so wie die EU-Mitgliedstaaten selber vornehmen und das nationale Recht mit dem EU-Recht in Übereinstimmung bringen. Wie in den EU-Mitgliedstaaten werden Konflikte auch in der Schweiz zunächst einmal durch nationale Gerichte beurteilt. Sobald aber die Auslegung von EU-Recht betroffen ist, geht es gar nicht anders als die letztinstanzliche Auslegung dem EuGH zu überlassen, denn sonst könnte die schweizerische Auslegung von jener in den EU-Mitgliedstaaten abweichen.
Ohne EuGH keine Assoziation mit der EU
Reden wir Klartext: Wer weiterhin im Binnenmarkt verbleiben möchte, aber heute immer noch «nicht einknicken» ruft und damit den Widerstand gegen diese letztinstanzliche Auslegungskompetenz des EuGH meint, verlangt nicht weniger als dass die kleine Schweiz das ganze EU-Rechtssystem zum Implodieren bringt. Würde die EU einem Nicht-Mitgliedstaat erlauben, EU-Recht in eigener Kompetenz abschliessend zu interpretieren, müsste sie dieses Recht allen Mitgliedstaaten einräumen. Damit würde ein Grundbaustein der Europäischen Integration wegbrechen. Niemand könnte mehr sicher sein, dass er oder sie in anderen Mitgliedstaaten nicht diskriminiert wird, denn mit der nur noch nationalen Auslegung von EU-Recht wäre der Bevorzugung von eigenen Staatsangehörigen gegenüber jenen aus anderen Mitgliedstaaten Tür und Tor geöffnet.
Und wer wollte dann noch am Erlass von EU-Recht mitwirken – sei es auf dem direkten Weg über das Europäische Parlament, sei es indirekt aus dem nationalen Parlament über den Ministerrat –, wenn es den Mitgliedstaaten freistehen würde, unter Verletzung des Diskriminierungsverbotes dieses EU-Recht «nationalistisch» umzuinterpretieren? Die eben gestellte Frage ist völlig absurd. Es wäre das Ende der Europäischen Union! Wer in der Schweiz «nicht einknicken» ruft, befindet sich in einem einstimmigen Chor mit jenem EU-Mitgliedstaat, der schon einmal entscheiden hat, EuGH-Urteile nicht mehr anzuerkennen. Bisher blieb das zum Glück ohne Konsequenzen, aber die Probleme der EU mit Ungarn und Polen sprechen eine klare Sprache.
Zwischen der Schweiz und Grossbritannien gibt es einen entscheidenden Unterschied: Mit dem Brexit ist das Vereinigte Königreich aus dem Binnenmarkt ausgeschieden. Die Schweiz will aber drinnen bleiben. Die Briten haben sich nun ins Forschungsprogramm Horizon wieder eingekauft. Als Drittstaat können sie das. Als Teilnehmerin am Binnenmarkt wird die Schweiz erst wieder dabei sein können, wenn sie die institutionellen Fragen gelöst und insbesondere den EuGH für die Auslegung von EU-Recht anerkannt haben wird. Dass die EU für die Wiedereinbeziehung in das Forschungsprogramm diese Bedingung stellt, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern völlig logisch. Es macht deutlich, dass die Europäische Kommission Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa verteidigt, woran wir alle interessiert sind, auch hier in der Schweiz.
Gret Haller forscht zur Zeit als Gastwissenschaftlerin an der Universität Konstanz über «Politische Kultur in der Europäischen Union».