Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich – nach der gemeinhin gängigen, reichlich überstrapazierten Formel ist das „die Begegnung zwischen einem Mann oder einer Frau und dem Volk“ .
Das klingt pompös – sagt aber immerhin einiges aus über die französische Besonderheit im Chor der europäischen Demokratien, über diese aus dem Algerienkrieg geborenen 5. Republik und über die Statistenrolle der politischen Parteien bei dieser alles überragenden Wahl.
Zwar sind die Kandidaten entweder von Parteigremien nominiert, von ihren Mitgliedern oder, wie diesmal bei den Sozialisten, von Sympathisanten in einer Vorwahl gewählt worden. Doch seit der Wahlkampf eingeläutet wurde, scheinen die Kandidaten himmelhoch über den Parteien zu schweben – deren Programme sind für sie bestenfalls ein Selbstbedienungsladen, aus dem sie hin und wieder etwas herauspicken. Ansonsten sind die Parteimitglieder, die Lokal- und Regionalpolitiker nur mehr das einfache Heer, das Fussvolk für die schnöde Drecksarbeit im Wahlkampf. Diese 5. Republik gewährt einem einzigen Mann oder einer einzigen Frau so viel Macht, wie es keine andere westliche Demokratie – die USA eingeschlossen – tut. Entsprechend extrem ist der französische Wahlkampf auf die einzelnen Personen ausgerichtet.
François Hollande hat den sozialistischen Lokal- und Regionalpolitikern, die in 62 von 102 Departements, in 23 von 26 Regionen und in fast allen grossen Städten mit über 100'000 Einwohnern die Mehrheit haben , zumindest eine Art Informanten- und Transmissionsrolle eingeräumt. Nicolas Sarkozy dagegen verachtet die Seinen in aller Offenheit, nach dem Motto: Ich und das Volk und nichts dazwischen, vor allem niemand an meiner Seite, der mir auch nur einen Quadratzentimeter Sonne wegnehmen könnte.
Merkwürdiges Klima
Eigentlich ist es die heisse Phase des Wahlkampf, und doch herrscht dieser Tage ein seltsam ungewisses Klima im Land und der Eindruck, dass dieser Wahlkampf nicht so recht toben will, wie man das in diesem Land von früher gewohnt war. Selbst dem umtriebigen Nicolas Sarkozy geht alles zu schnell, ein Thema jagt das andere, für Argumente scheint keine Zeit. „Ein wildes Durcheinander, ein Spektakel ohne Hand und Fuss“, lautet der resignierte Kommentar von François Bayrou, dem Kandidaten des Zentrums.
Idealerweise waren die Monate vor dieser Wahl der Wahlen eine Phase, in der über grosse Themen, Projekte, ja Visionen für das Land diskutiert und gestritten wurde. Heute ist es, als hätte jeder Angst vor den grossen komplizierten Themen, als seien Visionen ein Schimpfwort und als könnte das Reden darüber nur Stimmenverluste nach sich ziehen. Taktik ist alles, Inhalte sind drittrangig. Europa und die Euro-Krise z.B. scheinen vergessen, sind als Thema vom Tisch gewischt. Wobei ohnehin die reichlich bizarre Situation vorherrscht, dass bei sieben von zehn Kandidaten Europa überwiegend negativ besetzt ist. Selbst Nicolas Sarkozy hat Brüssel im letzten Moment noch zum Sündenbock gemacht, angeblich verantwortlich für die angebliche Immigrationswelle. Lauthals hat er mit dem Austritt Frankreichs aus dem Schengenabkommen gedroht.
Begnadet der, der in der Lage wäre zu sagen, welches derzeit die grossen Themen im französischen Wahlkampf sind. Die Wähler sagen ganz klar, was sie sorgt und umtreibt: die drohende oder erlebte Arbeitslosigkeit in allererster Linie, die Sorge um die schwindende Kaufkraft folgt gleich danach, Schule und Ausbildung ihrer Kinder, sowie Gesundheitsversorgung sind nicht weit. Doch die sozialen und ökonomischen Themen sind in der Endphase dieses Wahlkampfs wie ausgeblendet.
Vor zwei Monaten, bevor Nicolas Sarkozy offiziell Kandidat war, sah das noch ganz anders aus: Frankreichs Staatsschulden, der Verlust der Topbonität, die Eurokrise oder der Nachbar Deutschland als wirtschaftliches Modell standen im Vordergrund. Es erscheint einem heute, als läge dies schon ein ganzes Jahr zurück. Auch der Niedergang der französischen Industrie oder das katastrophale Aussenhandelsdefizit des Landes wurden diskutiert. Selbst Nicolas Sarkozys offizielles Wahlplakat ist aus dieser Phase des Wahlkampfs inspiriert. Es zeigt die Büste des Präsidenten vor blauem Meer – sollte heissen: der Kapitän hält Kurs bei schwerem Wetter - auch wenn das blaue Meerwasser auf dem Plakat dafür ein wenig zu aalglatt ist. Ein Wink auch an François Hollande, den der Linkskandidat Mélenchon als Tretbootkapitän in stürmischer See apostrophiert hatte.
Ein Kindergarten
Heute hat man den Eindruck: Jeder schaut in erster Linie auf seinen eigenen Nabel und gleichzeitig verstohlen auf den des anderen, um die nächste Stichelei, die nächste Breitseite, die nächste faustdicke Ungeheuerlichkeit so schnell wie möglich abfangen und kontern zu können – es geht zu, wie auf dem Bolzplatz oder im Kindergarten.
François Hollande hat letzte Woche vom Platzhalter des Postens, den er anstrebt, gesagt, Nicolas Sarkozy verhalte sich wie der Typ, den jeder von uns aus seiner Schulzeit kennt: der, der im Schulhof mit jedem Streit sucht, stichelt, provoziert und für Ärger sorgt - kurzum: einer, dem man am besten aus dem Weg geht.
Und Hollande tut das auch, lässt sich in der Tat, so selten wie möglich provozieren, ist vielleicht deswegen aber auch in den letzten zwei, drei Wochen mehr oder weniger vom grossen Wahlkampf-Radarschirm verschwunden.
Da er zudem keiner ist, der die grossen Massen wirklich begeistern kann, für die grosse Euphorie sorgt und Hunde scharenweise hinter dem Ofen hervorgeholt hätte, darf sein Lager wahrlich damit zufrieden sein, dass er in den Meinungsumfragen nach wie vor widersteht.
Gewiss: Nicolas Sarkozy hat in den letzten vier Wochen rund drei bis vier Punkte gegenüber seinem sozialistischen Herausforderer aufgeholt – doch ein echter Trendwechsel ist nur drei Wochen vor dem 1. Wahlgang bislang ausgeblieben. Alte Hasen glauben zu wissen, dass diese Trendumkehr so kurz vor der Wahl auch nicht mehr kommen kann - seit Frankreichs Präsident direkt vom Volk gewählt wird, so wissen sie zu berichten, ist so etwas nie passiert.
Erkenntnisse
Die wichtigste Erkenntnis, die man aus den Meinungsumfragen der letzten beiden Wochen ziehen kann: Im ersten Wahlgang liegen Sarkozy und Hollande seit 14 Tagen und trotz der Ereignisse von Toulouse in allen Meinungsumfragen mehr oder weniger Kopf an Kopf bei 27 bis 28 %, wobei die symbolische Bedeutung nicht zu unterschätzen ist, dass Sarkozy zuletzt in den meisten Umfragen um 0,5 bis 1,5 % vor Hollande angesiedelt wird.
Die zweite Erkenntnis: Während der Sozialist Hollande einige Prozente eingebüsst hat, ist der Linkskandidat, Volkstribun und Ex-Sozialist, Jean Luc Mélenchon, die eigentliche Überraschung dieses Wahlkampfs. Er hat immerhin vor acht Tagen 120‘000 Menschen auf der Pariser Place de la Bastille angezogen. Und er hat mindestens ebenso viele Punkte zugelegt wie Sarkozy. Er darf inzwischen mit 13 bis 14 % der Stimmen rechnen. Über 80% seiner Wähler werden im 2. Wahlgang mit fast absoluter Sicherheit für François Hollande stimmen.
Dritte Erkenntnis : Die Möglichkeit, dass die rechtsextreme Marine Le Pen es, wie ihr Vater vor zehn Jahren, in die Stichwahl schafft, ist ausgeschlossen. Mehr als 10% Rückstand auf Sarkozy und Hollande in den Meinungsumfragen sind in zwanzig Tagen nicht wettzumachen. Vor allem auchg deshalb nicht, weil Nicolas Sarkozy jetzt seit zwei Wochen praktisch nichts anderes tut - und in der verbleibenden Wochen nichts anderes tun wird -, als mit schierer Brachialgewalt im rechtsextremen Themenwald zu wildern. Dies in der Hoffnung, auf diese Art doch noch zu schaffen, was ihm vor fünf Jahren gelungen war: einer Le Pen möglichst viele Stimmen abzunehmen und über ganz rechts aussen zum Sieg zu kommen.
Vierte Erkenntnis: Der Zentrist, François Bayrou, einer ohne Heer und Fussvolk, wird es auch diesmal, bei seinem 3. Anlauf nicht in die Stichwahl schaffen. Vor fünf Jahren hatte er mit 18% für eine echte Überraschung gesorgt - derzeit sagt man ihm bestenfalls noch 13% voraus.
Fünfte Erkenntnis: Für die entscheidende Stichwahl am 6. Mai nannten fast sämtliche Meinungsforschungsinstitute in der letzten Woche die Zahlen: 54 % für Hollande , 46 % für Sarkozy. Ein einziges Institut sah Hollande nur bei 53% und Sarkozy bei 47%. In Sarkozys Lager, so heisst es in den letzten Tagen, fängt man wieder an zu hoffen und daran zu glauben, dass der amtierende Präsident es am Ende doch noch hauchdünn schaffen könnte. Mit den Zahlen der Meinungsforschungsinstitute, so wie sie heute, drei Wochen vor dem ersten und fünf Wochen vor dem zweiten Wahlgang sind, wäre dies in der Geschichte der 5. Republik allerdings einmalig.
Ungewissheiten
Gleichzeitig aber sind die Politologen dieser Tage ziemlich ratlos, sagen unverhohlen, dass sie diesen Wahlkampf nur schwer einschätzen können. Sie haben den Eindruck, dass die Fronten immer noch hin und her schwappen und so etwas wie Resignation zu spüren ist – Wahlenthaltung oder starke Ergebnisse für die Extremen, quasi im letzten Moment, könnten die Folge sein.
Einig ist man sich: Dieser Wahlkampf, ganz anders als vor fünf Jahren, begeistert die Franzosen nicht wirklich. Ja, man ist gar mit dem ungewöhnlichen Phänomen konfrontiert, dass das Interesse an ihm vor drei Monaten grösser war, als heute und vor allem in den letzten Wochen spürbar zurückgegangen ist: die Einschaltziffern bei Wahl-Diskussionssendungen sind weitaus geringer als vor der Wahl 2007. Dasselbe gilt für die Verkaufszahlen der Tageszeitungen - mit Ausnahme des konservativen Figaro. „Es ist, als seien die Menschen von den Schwierigkeiten des Alltags erschlagen“, wird eine Spitzenpolitikerin zitiert als Erklärung für das mangelnde Interesse am Wahlkampfzirkus.
800 000 bis 2 Millionen Stimmen
Wenn man angesichts des inhaltsleeren Verlaufs der Wahlkampagne zynisch sein wollte, könnte man resigniert einfach sagen: Eine französische Präsidentschaftswahl, das mag vielleicht die Begegnung zwischen einem Mann/einer Frau und dem Volk sein, es ist aber vor allem viel Gezeter und Geschrei, viel Anstrengung und Emotion - und am Ende gewinnt immer einer, - mit einem Vorsprung zwischen 800'000 und zwei Millionen Stimmen bei über 40 Millionen Wahlberechtigten.