14 Tage vor dem ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl hofft der eine, die Ablehnung, auf die der amtierende Präsident beim französischen Volk stösst, möge ausreichend gross bleiben, damit es am Ende doch zum Wahlsieg reicht. Der andere versucht es nun mit einer Blut-, Schweiss- und Tränenrhetorik, mit Patriotismus und heftigen Attacken unter der Gürtellinie.
Mit mehrmonatiger Verspätung gegenüber seinem Herausforderer hat Nicolas Sarkozy nun doch eine Art Programm für eine Wiederwahl vorgestellt – in geschriebener Form, wie er ausdrücklich betonte: Das Geschriebene verpflichte.
Ein inhaltsschwerer Brief
Wie einst François Mitterrand vor seiner souveränen Wiederwahl 1988 mit über 54 Prozent der Stimmen, hat Nicolas Sarkozy die Form des Briefs gewählt. 34 Seiten ist der „Brief an das französische Volk“ lang, handgeschrieben die Einleitung, die da lautet: „Meine lieben Landsleute. Es gibt nichts Schöneres in einer Demokratie, als die Liebe zu seinem Land“.
Handgeschrieben ist auch das Schlusswort, in welchem es heisst: „Eine Gesellschaft ohne Grenzen ist eine Gesellschaft ohne Respekt. Ein Land ohne Grenzen ist ein Land ohne Identität. Ein Kontinent ohne Grenzen ist ein Kontinent, der am Ende Mauern hochzieht, um sich zu schützen … Helfen Sie mir, ein starkes Frankreich zu bauen." Damit liegen die Dinge klar zu Tage, jeder weiss jetzt, welches die Prioritâten sind und welche Geister gerufen wurden.
Vom Jetlag nach einem 24-Stunden-Trip ins Überseedepartement La Réuinion gezeichnet, gab Sarkozy, vor 450 Vetretern der nationalen und internationalen Presse, ein wenig stammelnd und nach Worten ringend, den Verantwortungsbewussten - Die Kürzung der Staatsausgaben und das Erreichen eines ausgeglichenen Haushalts im Jahr 2016 hätten absolute Priorität, jeder einzelne Programmpunkt unterliege dieser Oberhohheit, diktierte der Präsident den Journalisten in die Notizbücher.
Drohen mit spanischen Verhältnissen
Und damit dem Letzten klar wird, wie ernst die Sitution und wie wichtig es ist, dass er, Nicolas Sarkozy, an der Macht und am Ruder bleibt, tat er etwas, was in dieser Rumpelhaftigkeit und Unverschämtheit wohl noch kein französischer Präsidentschaftskandidat, zumal wenn er gleichzeitig noch Staatspräsident war, je gewagt hatte: Er nahm ein ganzes Nachbarland, ein ganzes Volk – in diesem Fall Spanien und die Spanier als Beispiel, um das Schreckgespenst eines ruinierten Landes an die Wand zu malen.
Kaum hatte Nicolas Sarkozy zu sprechen begonnen und betont, er gedenke die Werte Arbeit, Verantwortung und Autorität über sein politisches Handeln zu stellen, da zog er, nach nicht mal zwei Minuten, völlig unvermittelt und mit dem Fingerspitzengefühl eines Elefanten im Porzellanladen vom Leder. Man lasse sich das Zitat auf der Zunge zergehen und versetze sich in die Rolle eines beliebigen Spaniers oder eines spanischen Politikers, ob rechts oder links: „Die Situation, in der sich heute unsere spanischen Freunde befinden, und jene, die unsere griechischen Freunde gekannt haben, ruft uns gewisse Realitäten in Erinnerung. Schauen Sie sich Spanien an, nach sieben Jahren sozialistischer Regierung! Die Unfähigkeit, Verpflichtungen einzuhalten, die dieses grosse Land eingegangen ist. Die Vertrauenskrise, in der sich dieses grosse Land, Spanien, heute befindet. Es gibt wohl nicht einen Franzosen, der unserem Land die Lage wünschen würde, welche die Griechen gekannt haben, oder die Situation, die Spanien heute erlebt. Man muss sich einer Sache bewusst sein: Das geringste Nachgeben beim Erfüllen unserer Verpflichtungen, die geringsten Abweichungen vom Wort, das Frankreich gegeben hat, würde bedeuten: eine Vertrauenskrise und eine Situation wie jene, in der sich heute Spanien befindet - ein gigantisches Ansteigen der Zinsen und die Notwendigkeit, die Renten und die Gehälter zu senken.“
Der Krisenmanager
Der Grundton und die unzweideutige Botschaft bei Nicolas Sarkozys Auftritt vor dem Osterwochenende war: Ich, der grosse Zampano, der Macher und erfahrene Krisenmanager, habe Euch vor derartigem Unbill bewahrt. Überall sonst, mit Ausnahme Deutschlands und einiger Länder im Norden Europas, sind die Auswirkungen der Krise weit schlimmer, als in Frankreich. Wenn Ihr, Französinnen und Franzosen, aber den Sozialisten François Hollande am 6. Mai zum Staatspräsidenten wählt, wird ganz Frankreich von den Finanzmärkten abgestraft werden! Dieser unverantwortliche Sozialist würde Frankreich dorthin führen, wo das Nachbarland Spanien heute schon ist.
Den Finanzbedarf dafür bezifferte Sarkozy auf rund 130 Milliarden Euro – drei Viertel davon sollen durch Einspaarungen - etwa bei der staatlichen Krankenkasse - finanziert werden, aber auch durch das Einfrieren des französischen Beitrags zum EU-Haushalt.
Hollandes erste 100 Tage
Nicolas Sarkozy war mit der Präsentation seines Programms und dem Brief an das französische Volk dem sozialistischen Herausforderer François Hollande hinterher gehechelt. Der hatte nicht nur sein Programm bereits im Januar vorgestellt, sondern vergangene Woche am Vortag, just als der Präsident im Überseedepartement La Réunion weilte, seinen Zeitplan für die ersten 100 Tage und das erste Jahr seiner allfälligen Amtszeit vorgelegt.Ein Dreistufenplan mit insgesamt 35 Massnahmmen – von denen ein Dutzend noch vor Beginn des Sommers zur Anwendung kommen sollen.
Der allererste Punkt des Massnahmenkatalogs für die ersten zwei Monate von François Hollandes möglicher Amtszeit hat vor allem Symbolcharakter, man könnte auch sagen, er ist demagogisch: Präsident und Regierungsmitglieder würden auf 30 Prozent ihres Gehalts verzichten. Für mehr Kaufkraft soll der Benzinpreis unmittelbar drei Monate lang gedeckelt - und die Beihilfe zum Schulbeginn im kommenden September um ein Viertel erhöht werden. „Wir haben keine Zeit zu verlieren", so Hollande, "angesichts des Zustands der Staatsfinanzen und der Wirtschaft. Angesichts der Arbeitslosigkeit und des Kaufkraftschwunds wollen die Franzosen präzise und schnelle Entscheidungen.“
Das klingt natürlich nicht schlecht. Aber wie es finanziert werden soll, steht weitgehend in den Sternen. François Hollande hat sein Programm zwar durchrechnen und beziffern lassen, doch der breiten Öffentlichkeit ist die Finanzierbarkeit nicht wirklich klar geworden.
Aussenpolitik, Renten, Steuern
Bereits zwischen dem 18. und 21. Mai beim G-8-Gipfel in Camp David und anschliessend beim Nato-Gipfel in Chicago, so Hollande, würden die Partnerländer über den französischen Truppenrückzug aus Afghanistan bis Ende 2012 informiert – ein Jahr früher, als bislang geplant. Zu Hause werde per Dekret für alle, die 41 Beitragsjahre vorweisen können, der Rentenanspruch ab 60 wieder eingeführt. Und im Juli würde Hollande, im Fall eines Wahlsiegs, die Nationalversammlung zu einer einmonatigen Sondersitzung einberufen, um mit dem neu gewählten Parlament umgehend drei Reformen in Angriff zu nehmen: die Reform der Staatsfinanzen, um Ende 2017 einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren zu können, die Steuerreform, die unerlässlich sei für mehr Gerechtigkeit und für eine Reihe von Mehreinnahmen, sowie schliesslich eine Reform der Banken.
Zur François Hollandes Steuerreform gehört auch die Massnahme, die Anteile von Jahreseinkommen, die über 1 Million Euro liegen, mit 75 Prozent zu besteuern. Dies nenne er Patriotismus, so der sozialistische Kandidat. Man verlange schliesslich auch von gewöhnlichen Arbeitnehmern, dass sie Opfer bringen. Da sei es nur legitim, von denen, die am meisten hätten, zu verlangen, sich an der Sanierung der Staatsfinanzen und an der Ankurbelung der Wirtschaft auch stärker zu beteiligen. Nicolas Sarkozys Wahlkampfsprecherin kritisierte Hollandes Ankündigungen an diesem Tag umgehend als alptraumhafte Politik-Fiktion, die Frankreich binnen 100 Tage in den Ruin treiben würde.
Der Auftritt von Ségolène Royal
Doch dem sozialistischen Kandidaten, dem auch bis zu diesem Wochenende für die Stichwahl am 6. Mai im schlechtesten Fall immer noch 53 Prozent der Stimmen vorhergesagt wurden, war am Abend der Präsentation seines 100-Tage-Programms noch eines dieser Bilder gelungen, die haften bleiben und bei derartigen Wahlkämpfen ausschlaggebend sein können: Seine langjährige Gefährtin und Mutter seiner vier erwachsenen Kinder, die sozialistische Präsidentschaftsandidatin vor fünf Jahren, Ségolène Royal, hatte allen alten Groll und alle Frustrationen überwunden und sich in Rennes bei einer Wahlveranstaltung vor 15 000 Menschen - und sei es auch nur für einige Sekunden – auf dem Podium an der Seite von François Hollande gezeigt und ihm zuvor, in einer halbstündigen Rede, ohne Wenn und Aber ihre Unterstützung zugesichert. Die Botschaft: Die sozialistische Familie ist geeint, und - wie es Ségolène Royal einmal fast nebenbei gesagt hat: Unsere Partnerschaft war nicht so schlecht. Immerhin haben wir vier Kinder und zwei Präsidentschaftskandidaten zustande gebracht.