In den letzten Monaten haben wir Wahlen im Irak, im Sudan, in Bahrain erlebt - ebenso in Jordanien, Afghanistan und Ägypten. Wahlen gibt es immer wieder auch in Syrien, in Libanon, in Iran, Pakistan, Malaysia, Indonesien, in der Türkei, in den drei Maghreb-Ländern, Tunesien, Algerien und Marokko, sowie im Jemen und in den Kleinstaaten am Golf.
Einzig Libanon - ein Land, das nur am Rande zur muslimischen Welt gehört - besitzt ein funktionierendes demokratisches System. Doch die libanesische Demokratie zeigt von Zeit zu Zeit immer wieder schwere Defizite.
Die Türkei ist ein Sonderfall: Dort gewinnt die demokratische Selbstbestimmung zunehmend an Bedeutung. Über 60 Jahre lang wurde der demokratische Prozess von der Armee gesichert, aber auch eingeengt. Jetzt ist man dabei, sich vom Gängelband des Militärs zu lösen.
Indonesien kannte 33 Jahre "gelenkter Demokratie". Dann, 1998, nach dem Sturz Suhartos konnte ein wirklich demokratisches Regime eingeführt werden.
Malaysia ist seit der Unabhängigkeit von 1957 als "Malaya" und seit 1963 in seiner heutigen Form als Malaysia, ziemlich demokratisch geblieben, wenn auch nicht ohne Schönheitsfehler. Trotz der Spannungen zwischen der malaiischen Mehrheit und den zugewanderten Chinesen und Indern konnten die Malaien ihre "malaiische Demokratie" aufrecht erhalten.
Nur Libyen und Saudiarabien kommen ohne Wahlen aus
In den meisten islamischen Ländern Schwarzafrikas gibt es zwar Wahlen, aber keine funktionierende Demokratie. Senegal stellt eine Besonderheit dar. Das Land ist eine einzigartige Demokratie, in der religiöse Orden (Muriden, Tijani usw.) eine grosse Bedeutung haben.
Nigeria ist zur Hälfte muslimisch. Nach Bürgerkrieg und drei Jahrzehnten der Militärdiktaturen ist das Land seit 1998 eine gewichtige, afrikanische Demokratie mit ihren spezifischen Schwierigkeiten.
Ganz ohne Wahlen scheinen eigentlich nur die beiden Erdölstaaten Libyen und Saudi Arabien, auszukommen. Der Erdölreichtum erlaubt es dem saudischen Königreich, eine sich auf den Islam berufende absolute Monarchie aufrecht zu erhalten. Auch in Libyen ist es das Erdöl, das es Ghaddafi ermöglicht, ein Regime seiner eigenen Erfindung zu führen; er ist der absolute Herrscher.
Gewählt wird nach religiösen oder ethnischen Kriterien
Doch Wahlen bedeuten noch lange nicht Demokratie. Wo gewählt wird, geschieht dies fast ausnahmslos nicht zwischen Parteien, die unterschiedliche Programme anbieten. Gewählt wird zwischen Gruppierungen und Subgruppen ethnischer und religiöser Natur. Wenn Parteien als solche auftreten, sind sie nichts anderes als ein Sammelbecken dieser oder jener religiösen Richtung oder Ethnie.
Innerhalb dieser ethnisch und religiös umrissenen Gruppierungen kann es unterschiedliche Bewerber um Parlamentspositionen geben, die einen scharfen Wettkampf untereinander führen. Wobei manchmal auch viel Geld ausgegeben wird. Solche Gruppen werden regelmässig von "starken Männern" angeführt, welche die Rolle von Klientelchefs übernehmen. Alle haben sie nur "ein" politisches Programm. Sie wollen die Interessen der eigenen Klientelgruppe wahren und sie gegen rivalisierende Gruppen verteidigen.
Die Klientelchefs verfügen über eine erhebliche Machtbasis. Der Sohn übernimmt dann die Rolle des Vaters. Das dauert, solange die Anführer-Familie im Wohlstand lebt. Dieser Wohlstand ist auf dem Land beständiger, da er an Grundbesitz gebunden ist. Die städtische Wirtschaft hingegen ist auf rascheren Umsätzen aufgebaut. Doch auch in den Städten gibt es angesehene und reiche Familien, deren Oberhäupter über Generationen hinweg erfolgreich die Rolle von Chefs einer grösseren Klientele spielen.
Diese Chefs werden von ihren Klienten, wenn es Wahlen gibt, fast automatisch in die Parlamente gewählt. Aber auch Würdenträger einer religiösen Ausrichtung, Sekte oder Sonderströmung innerhalb der Orthodoxie, die über ihre eigene Gemeinde verfügen, können damit rechnen, dass sie gewählt werden. Vorausgesetzt, die Staatsmacht erlaubt es, dass sie politisch aktiv sind und an Wahlen teilnehmen.
Staatsparteien legitimieren die Herrscher
Jedes Land ist anders, weil die sozialen Bedingungen verschieden sind. So gibt es Machthaber, die eine Staatspartei gegründet haben. Diese soll dann ihre Herrschaft legitimieren. Solche Staatsparteien haben kaum eigene Programme. Sie sollen vor allem eins: den Machthaber, seine Regierung und all seine Vorhaben unterstützen. Die Aushängeschilder der Staatspartei werden dann belohnt: mit Parlamentssitzen, Ministerposten, Gouverneursmandaten oder anderen Schlüsselstellungen im staatlichen Apparat. Auch Geschäftsleute gehören immer wieder den Staatsparteien an. Sie erhalten dann wirtschaftliche Privilegien, die ihnen erlauben, noch reicher zu werden.
Opposition ohne Einfluss
Geführt werden solche Staatsparteien oft von den Söhnen der Machthaber oder von engen Verwandten aus der kommenden Generation. Sie können so das Funktionieren des Machtapparates kennenlernen. Sie decken natürlich dann auch eventuelle Fehler oder Ungeschicklichkeiten der Machthaber.
Zwar werden manchmal Oppositionsparteien zugelassen. Sie wollen die Interessen jener Gruppen verteidigen, die sich im Staat benachteiligt fühlen. Doch meistens erreichen sie wenig. Denn der Staat unter Führung eines absoluten Machthabers ist kaum gewillt, die Vorschläge von Minderheiten zu akzeptieren. Vor allem dann nicht, wenn die Minderheiten nicht seiner Kontrolle unterstehen. Eher lässt er die lästigen "Unzufriedenen" von der Polizei und Sicherheitskräften "beruhigen". Dazu hat er schliesslich Generäle, Geheimdienste und einen Innenminister.
Beratung, Bestandteil der politischen Tradition
Wahlen sind nicht ein Teil des kulturellen Erbes der muslimischen Welt. Konsultationen sind etwas anderes. Sie, "Shura" genannt, werden schon im Koran (42/38) empfohlen. Sie wurden allerdings schon lange vor dem Koran praktiziert. Die Shura gehört seit jeher zur Kultur der Stammesgesellschaften. Der Stammeschef hört seine Berater an. Von ihnen wird angenommen, sie wüssten, was die einfachen Leute begehrten und wie sie dächten. Doch die Berater beraten nur. Der Machthaber entscheidet dann und trägt die Verantwortung für seine Entscheide.
Importiert aus Europa und den USA
Die Idee allgemeiner Wahlen für gesetzgebende Parlamente stammt aus Europa und Amerika. Diese Idee wurde, wie so viele andere Dinge und Ideen, von den islamischen Staaten im 19. und 20. Jahrhunderts übernommen. Es war die Zeit, als die Europäer wirtschaftlich und militärisch immer mächtiger wurden. Die islamischen Länder sahen sich deshalb gezwungen, zahlreiche sogenannte Reformen einzuführen. So wollten sie die "Errungenschaften" der übermächtigen Europäer kopieren.
Dazu gehörten auch die Parlamente, die Verfassungen und die Vorstellung von parlamentarisch abgestützten Regierungen. Vor dem ersten Weltkrieg war es in Europa üblich, dass Monarchen herrschten, aber nicht regierten.
Doch diese Ideen aus den letztlich fremden westlichen Gesellschaften waren schwer zu verwirklichen. In Europa waren sie durch einen Jahrhunderte lang dauernden Entwicklungsprozess allmählich entstanden. Zu diesem Prozess gehörten die "Renaissance", "Religionsreform und Gegenreform", "Absolutismus und Aufklärung", "Revolution und Gegenrevolution", "Industrierevolution", sowie "Nationalstaatenbildung und Nationalismus".
Als die europäischen Mächte dann aus ihren Kolonien abzogen, hinterliessen sie ihren Ex-Kolonien eine äussere Form des Parlamentarismus. Es gab gewählte Parlamente und gewählte Regierungen.
Die Stunde der Armeeoffiziere
Doch diese Regierungsformen erwiesen sich als nicht lebensfähig. Die Parlamente wurden fast überall gestürzt und entmachtet. Meist übernahmen Armeeoffiziere die Macht. Da und dort gingen auch ein König oder ein Schah aus dem Entkolonialisierungsprozess hervor; sie setzen sich dann an die Spitze "ihrer" Armee und entrissen dem Parlament die Macht.
Die ersten Parlamente, die nach dem Abzug der Kolonialherren eingesetzt wurden, lebten nicht lange. Die Abgeordneten waren mehrheitlich Grossgrundbesitzer, die sich von ihren Bauern ins Parlament wählen liessen. Als Parlamentarier waren sie dann in erster Linie darauf bedacht, ihre Privilegien zu schützen oder noch weiter auszubauen. Doch dies widersprach den Wünschen der jungen, "modern" erzogenen und relativ gut ausgebildeten Generation aus den städtischen Mittel- und unteren Mittelschichten. Diese Generation war im Sturm der Entkolonisierungskämpfe aufgewachsen. Sie kritisierten die Grossgrundbesitzer und Parlamentarier als "Feudalisten" und warfen ihnen "Neokolonialismus" vor. Zu dieser Generation gehörten auch die ersten aus der einheimischen Bevölkerung hervorgegangenen Armeeoffiziere.
Vorbild Nasser
Die Landreform war ein Hauptziel ihres politischen Programms. Die "feudalen" Grossgrundbesitze, welche die damaligen Parlamente dominierten, wurden als Barrieren gegen den Fortschritt der Nation eingestuft. Am Ende wurden sie meist durch die Armee entmachtet.
Oft nachgeahmt wurde der junge Nasser. Nach seinem Staatsstreich von 1952 und der Ausbootung des türkischstämmigen ägyptischen Königshauses schaffte er den Parlamentarismus in Ägypten ab. So lange jedenfalls, bis nicht entscheidende Reformen verwirklicht waren. Vor allem eine Landreform und eine Stärkung der Armee betrachtete er als absolut notwendig für sein Land.
Später erkannte Nasser den Nutzen einer Staatspartei. Er baute eine solche auf und liess ein Parlament wählen. Die Staatspartei erhielt ein absolutes politisches Monopol.
Die Staatspartei benötigt das Parlament als Bühne
In fast allen Ländern gibt es einen wirklichen Machthaber. Dies entspricht den politischen Traditionen der gesamten islamischen Welt. Dieser Machthaber stützt sich primär auf seine Armee, seine Polizei und seine Geheimdienste. Doch mit der Zeit erkannten viele Machthaber den Nutzen einer vom Staat gelenkten und dem Staat zudienenden Staatspartei. Solche Staatsparteien können die Machthaber von unliebsamen Konkurrenten zu schützen.
Die Staatspartei benötigt ein Parlament als Bühne für ihre Auftritte. Das Parlament muss gewählt werden. Überall werden ähnliche Strukturen deutlich. Die Gesellschaften in der gesamten Region bestehen aus lauter Kleinpyramiden. Sie sind wie Grossfamilien oder Stammesclans organisiert. Alle haben einen Chef. Seine Gefolgsleute und Klienten schulden ihm Gehorsam. Die Gemeinschaft glaubt, die Chefs würden zugunsten der gesamten Kleingemeinschaft wirken.
Diese Kleinstrukturen der Macht waren spontan entstanden und gelten als natürlich gegebene Lebensformen, die kaum hinterfragt werden. Ein jedes Stadtquartier hat seine Würdenträger. Diese unterstellten sich einem oder mehreren Quartierchefs, die als Sprecher ihrer Gemeinschaft auftreten und nach aussen ihre Interessen vertreten.
Auf dem Land stehen mancherorts noch die Grundbesitzer "ihren" Bauern vor - oft über die Zwischenstufe der Dorfaufseher und Pachtverwalter. Die Bauern sind von ihren Grundbesitzern völlig abhängig. Ihr gesamtes Leben hängt davon ab, dass sie auf ihrem gepachteten Acker verbleiben dürfen. Oft haben sie zudem Schulden beim Landbesitzer. Deshalb können sie nicht daran denken, dessen Wünschen zuwiderzuhandeln.
Die Geistlichen und Gottesgelehrten sind auch in Pyramiden strukturiert. Ihre Spitzen müssen sich mit dem Staat und dessen Machthaber verständigen. Nur so können die Interessen ihres gesamten Standes gewahrt werden.
Wenn Wahlen angesetzt werden, weiss die Bevölkerung, wer ihre Vertreter sind und wen sie zu wählen haben. Die Wähler glauben, dass ihre Kandidaten ihnen und der gesamten Gemeinschaft Vorteile bringen. Parteien und Programme sind unnötig und verlieren daher eine jede Bedeutung.
Sollte es doch einmal Parteien geben, die keine Staatsparteien sind, so sind diese stets Revolutionsparteien. Ihr Ziel ist es, die gesamten sozialen und politischen Strukturen "umzuwälzen". Je grösser die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist, deste besser stehen ihre Chancen. Doch die Machthaber haben allmählich gelernt, solche Umsturzparteien früh zu neutralisieren. Die Mächtigen sorgen stets sorgfältig dafür, das die Funken der Unzufriedenheit - die oft in Revolutionsideologien ihren Niederschlag finden - nicht auf die Streitkräfte überschlagen.
Die Schiiten - Sammelbecken der Unzufriedenen
Wie kann man Unzufriedene um sich scharen? Wie kann man eine Machtfülle erreichen, um einen Putsch zu wagen? Vor allem durch religiöse Lehren. So gibt es im Islam immer wieder Sonderentwicklungen. Neue Glaubensrichtungen werden propagiert. Ihre Anhänger werden dann gegen die Machthaber aufgewiegelt. Zum Beispiel Schiiten gegen die sunnitische Reichsmacht der Khalifen. ("Shi'a" bedeutet "Partei" auf arabisch.) Für den modernen Begriff "politische Partei" wird heute ein Synonym verwendet: "Hizb". Doch auch diesem Wort haftet stets der Geruch der Aufsässigkeit an. Die Machthaber mögen keine "Ahzâb", wie der Plural von "Hizb" lautet; sie misstrauen ihnen).
Es gab Schiiten verschiedener Glaubensnuancen, wie etwa die 5er, die 7er und die 12er, je nach der Zahl der Imamsgenerationen, an deren Gottesummittelbarkeit sie glaubten. (Imame im schiitischen Sprachgebrauch sind legitime physische Nachfahren des Propheten, welche allein die wahre Fähigkeit und Gottesnähe besitzen, um die Gläubigen anzuführen). Über Jahrhunderte hin haben sie immer erneut die offiziellen sunnitischen Machthaber herausfordert. Die Schiiten wurden daher zum Sammelbecken aller Unzufriedenen.
Schiitische Gegenstaaten
Solch religiös motivierten, "revolutionären" Oppositionskräften gelang mehrmals die Gründung von mächtigen Reichen. Erwähnt seien die Fatimiden, die Buyiden, das Zaiditische Imamat von Jemen und schliesslich die schiitische Staatsreligion des Safawidischen Reiches und seiner Nachfolgeherrschaften in Persien (ab 1500 bis heute).
Andere dem Schiismus verbundene Gruppen blieben radikale Revolutionäre, welche das sunnitische Kalifat erschütterten, aber selbst keine bleibenden Reiche zu gründen vermochten. Dazu gehören die qarmatischen Aufstände in der Golfregion im 9. und 10. Jahrhundert, die sich bis Mekka ausdehnten. Auch die blutig niedergeschlagenen Erhebungen der alewitischen Bauern und Stammesleute in der osmanischen Zeit gehören dazu. Ziel dieser Aufstände war der Sturz des damaligen Sultans und Kalifa.
Mit der Seidenschnur erdrosselt
Die aufwieglerischen "heterodoxen" Religionsrichtungen schlossen sich mit ebenso aufwieglerischen Stämmen zusammen. Mit geballter Macht brachen sie in Kulturstädte ein, deren Machthaber verweichlicht waren und ein gutes Leben führten. Berühmte Beispiele sind die Berberdynastien der Almohaden und Almoraviden in Nordafrika und Andalusien (11. und 12.Jahrhundert).
Viele Reiche sind untergegangen, viele sind aufgespalten worden, neue entstanden. Doch die Grundstrukturen der Herrschaftsausübung haben sich dadurch nicht wirklich verändert. Stets sind es Einmannherrschaften geblieben. Stets hat der Machthaber über Kleinstrukturen geherrscht, von denen jede sein eigenes Oberhaupt besass.
Bewarben sich aber mehrere Anwärter um die Macht, so kämpften sie so lange gegeneinander, bis einer als endgültiger Machthaber übrig blieb (arabisch "Sultan" bedeutet "die Macht"). Im Osmanischen Reich war der Nachfolgekampf unter den Sultanssöhnen sogar rituell geregelt. Ein jeder von ihnen suchte sofort nach dem Tod des Vaters sich des Staatsschatzes mächtig zu werden. Mit eigenen Truppen marschierte er in die Hauptstadt ein. Wem dies als erstes gelang, wurde neuer Herrscher. Früher wurden dann die unterlegenen Brüder und Halbbrüder mit einer Seidenschnur erdrosselt. Der siegreiche Bruder hatte seine Sklaven ausgeschickt, um diese Morde zu begehen. Diese Praxis wurde bis zur Eroberung von Konstantinopel gehandhabt. In späteren Zeiten wurden die unterlegenen Brüder nicht mehr getötet, sondern ins Gefängnis geworfen. Dieses befand sich in einem speziellen Verliess im Palast, das man "den Käfig" nannte. Dort blieben sie bis zum Tod. Zur Sicherheit konnten sie auch geblendet werden. So grausam diese Methoden zur Sicherung der Einmannherrschaften waren: sie vermieden doch einen Bürgerkrieg zwischen den Sultanssöhnen. Ein solcher wäre wohl noch unmenschlicher und vor allem schädlicher für die osmanische Dynastie gewesen.
Klientelstrukturen - trotz Islam
Neue Religionsvarianten schufen plötzlich neue Bedingungen. So gelang es, die bisherigen Machtstrukturen aufzuweichen und Abschottungen zu überwinden. Das lehrte schon der frühe Islam. Mohammed proklamierte die Brüderlichkeit aller Gläubigen, über die Stammesgrenzen und Sozialunterschiede der Gläubigen hinweg. Er schuf damit eine neue, offene Gesellschaft, die er die "Gemeinschaft der Gläubigen" nannte. Alle Muslime, so lehrte er, seien Brüder. Plötzlich fielen die Stammes- und Clangrenzen. Die Gesellschaft war nicht mehr fragmentiert. Diese neue "Gemeinschaft der Gläubigen" entwickelte eine zunächst ungeahnte Dynamik. Ihr ist es zuzuschreiben, dass der Islam kurz nach dem Tod des Propheten im Jahr 632 weite Teile der Welt erobert konnte.
Doch schon bald setzten sich in den neuen Reichen die alten Strukturen der einzelnen Machtpyramiden wieder durch - nicht ganz, aber doch weitgehend. Doch etwas blieb bestehen vom Ideal der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Muslime. Allerdings nur als religiöses Ideal. In Wirklichkeit jedoch herrschten weiterhin ländliche Stammes- und städtische Klientelstrukturen. Die glühende islamische Glaubensbewegung konnte dies nur teilweise verdecken.
Die anti-demokratischen Strukturen entstanden vor dem Islam
Diese Machtstrukturen gelten bei den Beduinen als Grundbaustein des politischen und sozialen Zusammenlebens. Man kann annehmen, dass diese Strukturen uralt sind. Wahrscheinlich bestanden sie schon vor den ägyptischen Pharaonenreichen und den mesopotamischen Stadtkulturen, das heisst: vor dem 4. Jahrtausend vor Christus.
Diese Zeitangabe ist wichtig. Sie macht deutlich, dass nicht der Islam die Ursache dafür ist, dass es schwer ist, im islamischen Raum Demokratien aufzubauen. Die Tradition der Einmann-Regimes ist offenbar sehr viel älter als der Islam. Dieser ist in diese Einmann-Regimes hineingeboren, hat sich gegen sie aufgelehnt, hat sich dann aber von ihnen vereinnahmen lassen.
Diese sozialen Grundstrukturen werden im nahöstlichen Raum als naturgegeben empfunden. Einerseits weil sie seit weit über Menschengedenken vorhanden sind und sich auswirken. Andrerseits weil sie auf das Grundmodell der patriarchalischen Familienstruktur zurückgehen. Unter diesen Strukturen wachsen auch heute die Menschen der Region auf, manchmal stärker, manchmal schwächer.
Das Eindringen europäischer Ideologien
Erst im 19. Jahrhundert, als neue ideologische Ideen in Europa aufkamen, entstanden im Nahen Osten und in den weiter im Osten liegenden islamischen Kulturbereichen neue ideologische Kräfte. Diese hatten zum Ziel, die alten sozialen Pyramidenstrukturen zu überwinden. Die neuen Kräfte waren nicht religiös motiviert. Sie sprachen von politischer Freiheit ("Liberalismus") und Nationalismus. Sie importierten auch Ideen des Kommunismus und des des Sozialismus und forderten einen Umbau der politischen Strukturen. Bisher war eine Neuausrichtung des Staates ohne Neuausrichtung der Religion nicht denkbar. Denn der Staat war eng mit der Religion verknüpft. Das war schon in den mesopotamischen Gottesstaaten so und ist also viel älter als der Islam.
Die kurze Blüte des Nationalismus
Die fremden Ideologien jedoch prosperierten nicht wirklich im islamischen Raum. Der Nationalismus erwies sich als die weitaus stärkste von ihnen. Wohl deshalb, weil er aufs engste mit dem Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialmächte verbunden war. Doch nachdem dieser Kampf erfolgreich zu Ende gegangen war, klang auch der Nationalismus allmählich ab. Er erlebte noch eine Nachblüte im arabischen Raum als panarabisch ausgerichteter Nationalismus, der sich über die bestehenden kolonialen Grenzen der jungen Nationen hinweg ausbreiten und zu einer arabischen Grossnation führen sollte. In dieser Form konnte der Nationalismus als Kampfideologie fortleben, auch nachdem die Staaten ihre Unabhängigkeit erlangt hatten. Doch er scheiterte an der Klippe der Eigenstrukturen eines jeden der neuen Staaten, deren Machthaber ihre eigene Machtposition nicht aufgeben wollten. Die Niederlage ihres Hauptprotagonisten, Abdel Nasser, durch die Israeli im Jahr 1967 entlarvte den panarabischen Nationalismus als unglaubwürdig und machte seinen Ideen den Garaus.
Ablösung durch den Islamismus
Doch die Zahl der Unzufriedenen hatte nicht abgenommen. Je weniger die neuen Nationalstaaten prosperierten, desto lauter wurden die Proteste. Eine neue, umstürzlerische Bewegung entstand: Der Islamismus, eine ideologisierte Form des Islams.
Er verhiess die Rückkehr zu altem Ruhm und vergangener Grösse - vorausgesetzt, die Muslime würden nur wieder ganz genau "dem Islam" folgen. Doch was ist "der Islam"? Das behaupteten jetzt Ideologen und Amateurtheologen genau zu wissen. Meist sprachen sie dabei von der genauen Wiedereinführung der Schari'a, d.h. des islamischen Gottesgesetzes und dem wortwörtlichen Verständnis des Korans "ohne Auslegung" (was wegen der Natur des prophetischen Buches ein Ding der Unmöglichkeit ist).
Die bestehenden Regierungen und Mächte wurden als unislamisch und heidnisch bezeichnet. Sie wurden für alle Missstände verantwortlich erklärt. Deshalb müssten sie beseitigt werden, und deshalb müssten die richtigen Muslime an ihre Stelle treten. Erst später wurde diese Umsturzideologie auch für die USA und Europa propagiert. Das hat seinen Grund. Den Islamisten gelang es nicht, die eigenen Regierungen zu beseitigen. Diese wehrten sich gegen islamistische Einflussnahme mit Waffengewalt. So nahmen die Islamisten denn die Amerikaner und Europäer ins Visier, denen sie vorwarfen, die heimischen Mächte und ihren Hauptfeind Israel zu stützen.
Die Islamisten mit weltlichen Zielen
Die amerikanischen Invasionen in Afghanistan und im Irak waren Wasser auf die Mühlen der Islamisten. Die Geschichte zeigt, dass es viele religiöse islamische Umsturzbewegungen gab. Sie waren die einzigen, die die Staatsmacht ernsthaft gefährden konnten - eben weil sie ein neues Religionsverständnis einbrachten: ein Verständnis, das politische Kräfte über die bestehenden Machtpyramiden hinweg zusammenführen konnte.
Die heutigen Islamisten haben ein durchaus weltliches, politisches Ziel. Sie wollen die heutigen Machthaber stürzen und selbst an die Macht gelangen. Sie treten als islamische Sonderversion auf und bekämpfen die jetzigen Machthaber mit religiösen Argumenten. Zwar enthält ihre Lehre "moderne" ideologische Elemente. Trotzdem wirkt sie auf die islamische Bevölkerung als islamisch. Islamisch - und nicht aus der feindlichen Fremde importiert, so wie früher der Liberalismus, der Nationalismus, der Sozialismus oder Kommunismus - einst Mode-Ideologien, die heute an Glanz verloren haben.
Die neue Forderung nach "Fortschritt"
Doch zu den im Europa der Aufklärung erfundenen und in die islamische Welt im 19. Jahrhundert hineingetragenen politischen Grundvorstellungen gehört auch jene vom Fortschritt. Es ist - auch in der islamischen Welt - seither ein festes Postulat geworden, dass alle Politik auf Fortschritt abzielen sollte. Die Fortschrittserwartungen wurden zum Massstab, mit dem ein Regime gemessen wird.
Die geschilderten pyramidenförmigen Machtstrukturen jedoch stehen dem Fortschritt entgegen. Sie sind konservativ, weil es den oben stehenden Leitern des Dreiecks wichtig ist, ihre Position zu behalten. Dies bedeutet: Festhalten am Gegebenen und Bewahrung der alten Machtstrukturen.
Die heutigen Bevölkerungen, die Leute an der Basis der Pyramiden, bekommen die Folgen dieser Sachlage zu spüren, ohne dass sie ihre Ursache erkennen. Was sie sehen, ist, dass es jenen, die oben sitzen, gut geht und dass sie über Mittel verfügen, ihren Wohlstand über Generationen hinweg zu sichern. Sie können es sich leisten, ihre Kinder so zu erziehen, dass sie ihrerseits - wenn sie nicht besonders unfähig sind - die Spitzenpositionen ihres Clans zu halten und vielleicht auszubauen vermögen.
Für jene weiter unten ist das viel schwieriger, und für die grosse Masse, die ganz unten steht, fast unmöglich. Es wäre ein seltener Glücksfall, wenn eine besonders begabte Person von ganz unten aufsteigen könnte.
Ein Pyramidenstaat ist auch wenig interessiert daran, dass neue Ideen ausgearbeitet werden. Schon ihre Diskussion wird meist unterbunden, denn sie droht, das Verhalten der Mächtigen zu hinterfragen. Doch diese Mächtigen sind nicht am Fortschritt der gesamten Pyramide interessiert, sondern nur an der Bewahrung ihrer Macht.
Heute wirken die Machtpyramiden archaisch. Sie gehören einer Welt an, welche die Idee des Fortschritts nicht kannte. Doch solche Ideen sind nun auch in der islamischen Welt präsent und wirksam. In den traditionellen Machtsystemen sind sie noch nicht angekommen. Das spüren die Unterschichten am meisten. Gefragt wären jetzt demokratische Machtstrukturen. Die Pyramidenstruktur sollte umgekrempelt werden. Der oberste Machthaber in der Pyramide sollte eine Mitsprache und Mitbestimmung der gesamten Bevölkerung akzeptieren. Davon ist man weit entfernt. Zwar zeichnet sich da und dort ein zaghafter Umbruch ab, doch er steckt noch in den ersten, unsicheren Anfängen.