„Il fait noir au pays des lumières.“ In dicken schwarzen Lettern steht dieser Satz, der so viel bedeutet wie: „Es ist dunkel im Land der Aufklärung“, derzeit in Paris an den Wänden gleich mehrerer Metrostationen entlang der Linie 4.
Chaos
Worte, die den Nagel auf den Kopf treffen in einem französischen Alltag, der von einer dumpfen und zugleich verunsicherten Stimmung geprägt ist, in einem Land, in dem es an allen Ecken und Enden hörbar knistert.
„Tout est possible“, alles ist möglich, sind Worte, die dieser Tage in fast jedem zweiten Zeitungsartikel über die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu lesen sind.
„Alles“ – das Synonym für Marine Le Pen
Nie, wahrlich nie in den fast sechs Jahrzehnten der 5. Republik war die politische Lage im Land so kurz vor Präsidentschaftswahlen derartig chaotisch und die Zukunft der nächsten drei Monate so unvorhersehbar wie zu Beginn dieses Jahres 2017.
Grossreinemachen
Innerhalb kürzester Zeit – zwischen Ende November 2016 und Ende Januar 2017 – haben die Franzosen mit ihren Politikern plötzlich ganz neue Saiten aufgezogen und so gnadenlos aufgeräumt, als hätten sie sich mit einigen Jahren Verzögerung den Ruf der tunesischen Bevölkerung oder der Anhänger von Tsipras in Griechenland zu eigen gemacht, der da lautete: „Sie sollen alle abhauen, zum Teufel gehen.“
Jean Luc Melenchon, der Kandidat der Linkspartei, hat dafür das französische Wort „Dégagisme“ kreiert, das inzwischen in aller Munde ist. Denn das mit diesem Wort umschriebene Phänomen wurde fast über Nacht auch in Frankreich zur Realität:
François Hollande, der amtierende Staatspräsident? Braucht erst gar nicht mehr anzutreten, weil absolut chancenlos und in knapp fünf Jahren seiner Amtszeit mehr als glücklos. Weg mit ihm.
Manuel Valls, der amtierende Premierminister? Er wird bei den Vorwahlen der Sozialisten schroff abgestraft und ins innere Exil entlassen.
Nicolas Sarkozy, der ehemalige Staatspräsident, der gedacht hatte, er müsse nur mit den Fingern schnalzen, um ein zweites Mal in den Elyseepalast einziehen zu können? Frankreichs konservative Wähler hatten von dem Grossredner, seinen Affären und seinem Gehabe eines Paten offenbar endgültig genug und haben Don Sarkozy bei den konservativen Vorwahlen ohne mit der Wimper zu zucken in die Wüste geschickt.
Und Alain Juppé, der vor über zwei Jahrzehnten bereits Regierungschef unter Präsident Chirac gewesen war und auf seine alten Tage nach dem Präsidentenamt greifen wollte? Für immer aussortiert.
Das Desaster
Nur einer, den man nicht erwartet hatte, entkam dem Massaker im Stall der alten Polit-Hasen: François Fillon, der für seine Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit und Bescheidenheit gelobte, streng konservative Kandidat hatte bei der traditionell rechten Wählerschaft Bestand und galt nach seinem triumphalen Sieg bei den konservativen Vorwahlen Ende November bereits als Frankreichs künftiger Staatspräsident.
Und nun das! Vom seriösen Hoffnungsträger ist der offizielle Präsidentschaftskandidat der Konservativen durch die Scheinbeschäftigungsaffäre um seine Frau und seine Kinder zu einer schwer gerupften lahmen Ente geworden, die nicht mal mehr normalen Wahlkampf betreiben kann. In dieser Woche stand doch bei Fillon tatsächlich nur eine einzige Wahlkampfveranstaltung auf dem Programm.
Viele sogenannte Parteifreunde und konservative Abgeordnete, die bereits an die Parlamentswahlen im Juni denken, wollen Fillon nicht mal mehr in ihrem Wahlkreis sehen oder sich an seiner Seite zeigen. Am Freitag hat sich dann doch noch ein Abgeordneter des Kandidaten erbarmt und Fillon schlich, heimlich und ohne Pressebegleitung, durch die nordfranzösische Stadt Tourcoing.
Trotz allem aber bleibt Präsident Sarkozys ehemaliger Regierungschef stur auf Kurs und denkt nicht daran, das Handtuch zu werfen – mit dem Argument: „Es gibt keine Alternative! Ich oder das Chaos!“ Inzwischen will Fillon nicht mal mehr aufgeben für den Fall, dass ein Untersuchungsverfahren gegen ihn eröffnet wird. Er beuge sich nur noch dem Willen der Wähler, lies der Kandidat verlauten, dessen Gesicht inzwischen so aussieht, als befände er sich tagtäglich auf einer neuen Beerdigung.
Inventar
Da steht Frankreich nun, gut zwei Monate vor dem 1. Durchgang der Präsidentschaftswahlen, mit einem schwer gebeutelten konservativen Kandidaten, der in den Meinungsumfragen von 26-28 Prozent auf ganze 18 Prozent abgerutscht ist.
Daneben eine überraschend diskrete Marine Le Pen , die mit mindestens 26 Prozent (1) gehandelt wird und bei der sich zudem 75 Prozent der Befragten, die sich für sie aussprechen, absolut sicher sind, am Ende auch tatsächlich für die Kandidatin der extremen Rechten zu stimmen.
Dann ist da mit Benoît Hamon ein praktisch chancenloser Sozialist, der seit seinem Sieg bei den Vorwahlen in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung tritt. Besorgte Parteifreunde fragen schon, ob ihn die Tse-Tse-Fliege gestochen habe. Mit rund 17 Prozent rangiert er an 4. Stelle vor dem ebenso chancenlosen Jean Luc Melenchon, Kandidat der Linkspartei, dem polternden Anti-Europäer und vehementen Globalisierungskritiker, der es in den Umfragen auf circa 13 Prozent bringt.
Und schliesslich ist da Emmanuel Macron, der Optimismus versprühende parteilose Kandidat aus dem Mitte-Links-Spektrum, der die uralte Grenze zwischen links und rechts niederreissen möchte und mit rund 23 Prozent langsam zum aussichtsreichsten Gegner von Marine Le Pen heranwächst. Mit einem allerdings sehr wichtigen Unterschied: Bei Macron sind sich nur 30 Prozent derer, die bei der Befragung für ihn votierten, absolut sicher, ihm und keinem anderen im 1. Wahldurchgang auch tatsächlich ihre Stimme zu geben.
Aussetzer
Ausgerechnet jetzt aber, in dieser insgesamt ohnehin brenzligen Situation knapp 70 Tage vor der Wahl, hat sich Macron einen kräftigen Schnitzer geleistet. Ohne dass ihn jemand bedrängt hätte, hat er dieser Tage den französischen Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet. Und er tat dies nicht etwa in Frankreich, sondern ausgerechnet in Algier.
Nicht dass das inhaltlich völlig von der Hand zu weisen wäre und man diesen Satz , wenn auch ein wenig differenzierter, durchaus in einem Historiker-Kolloquium hören könnte. Aber ein Kandidat für das Amt des französischen Staatspräsidenten kann, ja darf derartiges im Februar 2017 so einfach nicht sagen. In einer Situation, in der es eigentlich nur noch darum geht, kommenden Mai Marine Le Pen zu verhindern. Es trotzdem getan zu haben, ist politischer Analphabetismus und ein abgrundtiefes Verkennen der vermoderten Stimmung, die in diesem Land herrscht.
Offene Wunden
Über Nacht hat Macron mit dieser Äusserung hunderttausende potentielle Stimmen aus dem konservativen Lager verloren. Als wüsste er nicht, dass die Wunden des Algerienkriegs immer noch nicht verheilt sind. Die noch lebenden Algerienfranzosen, ihre Kinder und Enkelkinder werden ihm diesen Satz einfach nicht verzeihen.
Hat der Philosophiestudent Macron etwa Albert Camus vergessen? Dessen analphabetische Mutter im ärmlichen Stadtviertel Belcourt in Algier, die so gut wie kein Wort sprach und als Putzfrau ihr Geld verdiente und dessen Vater, der aus dem von den Deutschen besetztem Elsass geflohen und im ersten Weltkrieg gefallen war? Camus' Eltern, wie hunderttausende andere Arme und Bescheidene, darunter Spanier, Italiener und Malteser, die im 19. Jahrhundert vor dem Hunger geflüchtet und in Algerien nach und nach Franzosen geworden waren, sie sollen sich der Barbarei und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben?
Eine echte öffentliche Diskussion über den französischen Kolonialismus und seine Aufarbeitung sind in der Tat überfällig, aber doch bitte nicht so und nicht jetzt!
Alles paletti
François Fillons Affären, die zur Zeit nur mühsam in Zaum gehaltene Wut und Gewalt in den Pariser Vorstädten und jetzt dieser Aussetzer von Macron sind Schmieröl für die Maschine Le Pen, welche für ihre Verhältnisse in diesen Tagen sehr leise vor sich hin schnurrt. Wie ein alter Diesel kurvt der Front-National-Wagen gemächlich durch die französischen Landschaften und wartet in Ruhe darauf, dass ihm noch weitere Heerscharen von Enttäuschten und Wütenden in ihren ramponierten Autos folgen.
Nur eines nicht!
Weil momentan in diesem zutiefst verunsicherten und pessimistischen Frankreich fast alles möglich scheint, sagt man sich, dass zum Wohle des Landes jetzt bitte eine Möglichkeit nicht Realität werden möge. Dass nämlich der designierte sozialistische Präsidentschaftskandidat vom linken Parteiflügel, Benoît Hamon, der polternde Volkstribun und Kandidat der Linkspartei, Jean-Luc Melenchon und der nur 3 bis 4 Prozent wiegende Kandidat der Grünen, Yannick Jadot, sich zusammenraufen und eine Übereinkunft treffen und am 17.März, wenn die Kandidatenliste endgültig ist, nur einer von ihnen, nämlich Benoît Hamon, antritt.
Das ist angesichts der Verbiesterung und des Sektierertums von Jean Luc Melenchon zwar höchst unwahrscheinlich, doch ist in diesem Wahlkampf bereits einiges Unwahrscheinliche zur Realität geworden. Sollte dieser Fall aber eintreten und würde Benoît Hamon in die Stichwahl kommen gegen die Chefin der Nationalen Front, wäre die Katastrophe perfekt. Es wäre die einzige Konstellation, in der Marine Le Pen Frankreichs nächste Präsidentin werden könnte. Dem Linkssozialisten Hamon würde der überwiegende Teil der bürgerlichen Wählerschaft die Stimme verweigern. Sie würde entweder zu Hause bleiben oder für Marine Le Pen votieren. Die einst gängige und viel beschworene republikanische Front gegen die Extreme Rechte, die ohnehin schon so gut wie tot und begraben ist, würde in diesem Fall definitiv nicht mehr funktionieren.
Es wird ernst
Man kann sich in diesem ohnehin stotternden und inhaltlich blutleeren Wahlkampf jetzt keine Feinheiten mehr leisten, nicht mehr wirklich über Utopien und im Grunde durchaus wichtige gesellschaftspolitische Weichenstellungen, Innovationen und Zukunftsperspektiven diskutieren und streiten.
All das ist heute, im Februar 2017, in Frankreich quasi ein Luxus geworden. Es geht nur noch darum, dass Emmanuel Macron oder eventuell doch François Fillon dem Land eine Präsidentschaft unter Marine Le Pen ersparen.
Und man muss hoffen, dass die spannungsgeladenen Vororte nicht wirklich anfangen zu brennen und ein weiterer Terroranschlag vor dem 7. Mai ausbleibt, damit Marine Le Pen nicht doch auf Grund eines völlig destabilisierten politischen Klimas in der Stichwahl die Mehrheit bekommen kann und die Lichter im Land der Aufklärung dann tatsächlich ausgehen – qu'il ne fasse pas définitivement noir au pays des lumières!
(1) Zahlen aus der Langzeituntersuchung des „Studienzentrums zum politischen Leben Frankreichs“ ( CEVIPOF), in deren Rahmen seit über einem Jahr regelmässig mehr als 15´000 Franzosen befragt werden. Die jüngste Ausgabe erschien am 16. Februar 2017 unter dem Titel: „Marine Le Pen – stärker denn je“