Die Hizbollah ist durch die jüngsten israelischen Angriffe geschwächt. Doch die Cyberattacken wurden offenbar verfrüht ausgelöst. Die Bodenoffensive, die sie vorbereiten sollten, war noch nicht bereit. Dank dieser Verzögerung ist jetzt eine De-Eskalation nicht völlig unmöglich.
Trotz der in den vergangenen Tagen erlebten massiven Schwächung durch israelische Luftangriffe setzen die Einheiten der Hizbullah ihre Raketenangriffe auf Nordisrael unvermindert fort. Angeblich gelang es Ihnen, mit Raketen verschiedenen Typs den militärischen Industriekomplex Rafael in der Umgebung der Stadt Haifa zu treffen. Die israelische Luftwaffe Ihrerseits setzt ihre Angriffe auf militärische Einrichtungen der Hizbullah in Südlibanon unvermindert fort. Allein gestern sollen Angriffe an 23 Ortschaften im Grenzgebiet und im Bekaa-Tal erfolgt sein.
Vieles erinnert an die Ausgangssituation des zweiten Libanonkriegs 2006, in dessen Rahmen schliesslich israelische Bodentruppen in Südlibanon einrückten. Doch seit 2006 hat Hizbullah nicht nur massiv aufgerüstet, sondern auch die militärischen Stellungen im Süden des Landes durch Tunnelsysteme und Bunker verstärkt und verfügt mit den Spezialeinheiten der Ridwan-Truppen über eine neue Kampfformation. Sollten die israelischen Streitkräfte auch diesmal eine Bodenoffensive wagen, dürften sie auf einen stärkeren Widerstand treffen als noch 2006, auch wenn die Befehls- und Kommunikationsstrukturen durch die israelischen Angriffe der vergangenen Tage massiv in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Die israelischen Streitkräfte wollen, sollte es diesmal zu einer grösseren Eskalation kommen, die Hizbullah militärisch niederwerfen. Der israelische Premier Netanjahu hatte als Kriegsziel explizit angekündigt, eine Situation zu schaffen, die es der Zivilbevölkerung in Nordisrael erlaubt, in ihre Dörfer und Wohnstätten zurückzukehren. Dabei riskiert die israelische Regierung sogar die direkte Konfrontation mit der libanesischen Armee. Einige Vertreter in der israelischen Regierung argumentieren, dass es keinen Unterschied zwischen Hizbullah und dem Staat Libanon gäbe und dass folglich bei einer Fortsetzung der Angriffe auf Nordisrael das Land mit Libanon im Krieg stünde.
Die beiden Cyber-Angriffe vom 17. und 18. September auf Mitglieder der Hizbullah im Libanon und der Luftangriff vom 20. September auf ein Wohnhaus im Stadtteil Dahiya in Südbeirut, bei dem mehr als ein Dutzend hochrangige Kommandeure der Ridwan-Eliteeinheiten getötet wurden, haben die militärischen Strukturen der Hizbullah massiv beschädigt. Zum einen wurden durch die Angriffe mit Sprengfallen, die in Pagern, Mobiltelefonen und Handfunkgeräten versteckt waren, vielleicht fünf bis zehn Prozent der Mitglieder der Hizbullah-Kampfverbände ausser Gefecht gesetzt, zum anderen wurde die Kommandostruktur der Hizbullah auf der Führungsebene weitgehend zerstört. Befehlsketten, Kommunikationswege und Informationslogistik wurden empfindlich getroffen und es ist fraglich, ob es den Ingenieuren der Hizbullah in absehbarer Zeit gelingen wird, ein funktionsfähiges Kommunikationsnetz wiederherzustellen.
Ein verfrühter Präventivschlag?
Zu den beiden Anschlägen kursieren sehr unterschiedliche Rekonstruktionsversuche. Fest steht, dass dem israelischen Geheimdienst bekannt war, dass die Hizbullah ihren Angehörigen schon vor Monaten geraten hatte, auf Mobiltelefone zu verzichten und stattdessen Pager zur Kommunikation zu nutzen. Zu diesem Zweck hatte die Hizbullah eine neue Lieferung bei einem Subunternehmer einer taiwanesischen Firma bestellt. Entweder ist es dem israelischen Geheimdienst gelungen, in die Rolle des Lieferanten zu schlüpfen und der Hizbullah ein Angebot zu machen, oder, was wahrscheinlicher ist, es ist ihm gelungen, in die Lieferkette einzugreifen und die Geräte an einem unbekannten Ort zu manipulieren, bevor sie nach Beirut geliefert wurden.
Vor einigen Tagen sollen Techniker der Hizbullah über mögliche Manipulationen an Pagern und Kommunikationsgeräten informiert worden sein. Der israelische Geheimdienst, der offenbar in der Lage war, die Kommunikation direkt abzuhören, beschloss, die in den Geräten versteckten Sprengsätze elektronisch zu zünden, bevor sie und ihr Mechanismus entdeckt werden konnten. Die Cyber-Attacke war allem Anschein nach ursprünglich so geplant, dass die Kommunikationswege der Hizbullah massiv gestört werden sollten, so dass eine mögliche Bodenoffensive nur auf unkoordinierten Widerstand stossen würde. Ein weiterer psychologischer Aspekt der Angriffe bestand darin, ein Höchstmass an Verunsicherung bei den Mitgliedern der Hizbullah und ihrem Umfeld zu erzeugen und so viel Misstrauen innerhalb der Organisation zu säen, dass eine einheitliche Führung nicht mehr möglich ist.
Durch die möglicherweise verfrühte Auslösung des ersten Angriffs am 17. September um 15.30 Uhr Ortszeit war es jedoch nicht mehr möglich, die Voraussetzungen für eine parallele Bodenoffensive durch israelische Truppen zu schaffen. So blieb es zunächst bei den beiden Cyberangriffen. Eine militärische Schwächung folgte mit dem Angriff auf die Kommandoebene der Ridwan-Einheiten.
Ausgebliebene Synchronisation mit Hamas-Angriff
Beim Angriff eines israelischen F-35-Kampfflugzeugs wurden in einem Bunker unter einem Wohnhaus im Süden Beiruts 31 Mitglieder der Hizbullah getötet, darunter vor allem Angehörige der militärischen Führung der Ridwan-Truppen. Unter ihnen befand sich auch ihr Feldkommandeur Ali Dscha’far Ma’tuk.
Bei den Ridwan-Truppen handelt es sich um eine Eliteeinheit, die von der Hizbullah 2006 nach dem Libanonkrieg gegründet und nach dem Decknamen ihres 2008 ermordeten Gründers Imad Mughniya benannt wurde. Hauptaufgabe dieser mehrere tausend Mann starken Truppe, die über ein eigenes Raketenarsenal verfügen soll, ist die Infiltration nordisraelischer Gebiete. Noch im Mai 2023 hatten Ridwan-Einheiten solche Einsätze öffentlich geübt. Israelische Stellen vermuten, dass diese Einheiten ursprünglich zeitgleich mit der Hamas am 7. Oktober 2023 die Grenze nach Israel überqueren sollten. Warum sich die Hizbullah dann am 8. Oktober auf vereinzelte Raketenangriffe beschränkte, ist bis heute ungeklärt.
Die Ridwan-Truppen unterstanden bis dahin dem Oberkommando des stellvertretenden Militärchefs Ibrahim Aqil. Dieser galt nach Fu’ad Schukr, der am 30. Juli 2023 im Südbeiruter Stadtteil Harat Hreik bei einem israelischen Angriff getötet wurde, als Nummer zwei in der militärischen Führung der Hizbullah. Er entstammte der libanesischen Dschihad-Bewegung und war verantwortlich für die Anschläge auf die US-Botschaft in Beirut im April 1983 mit 63 Toten und den Bombenanschlag auf die US-Marinekaserne im Oktober 1983 mit 299 Toten. 1985 schloss er sich mit seinen Anhängern der Hizbullah an.
Jubel über die israelischen Attacken
Es gibt keinerlei Meinungsumfragen, durch die ersichtlich wäre, wie sich die libanesische Bevölkerung zu den Cyberattacken verhält. Die in den Medien gespiegelte öffentliche Meinung allerdings lässt vermuten, das grosse Teile der libanesischen Gesellschaft auf Distanz zu Hizbullah gehen. Sie argwöhnen, dass Hizbullah die libanesische Gesellschaft in «Geiselhaft» nehmen könnte. Allerdings hat Hizbullah in den vergangenen drei Jahren einen gewissen Zuwachs an Zustimmung auch in sunnitischen und christlichen Kreisen der libanesischen Gesellschaft verzeichnen können.
Immer noch stehen nach Umfragen, die vor den jüngsten Ereignissen im Libanon gemacht wurden, zwei Drittel der Sunniten und der Christen der Hizbullah äusserst kritisch gegenüber. Unter Sunniten ist diese Kritik etwas weniger stark ausgeprägt, aber dennoch ist klar, dass eine negative Meinung gegenüber Hizbullah überwiegt. Grob geschätzt kann gesagt werden, dass nur je ein Drittel der christlichen und der sunnitischen Bevölkerung in Libanon Hizbullah positiv bewertet.
Es wäre also weit übertrieben zu behaupten, dass die Bevölkerung Libanons grossmehrheitlich hinter der Hizbullah stünde. Besonders kritisch sehen es die drusischen Gemeinschaften im Libanon. Sie verweisen auf die Kundgebungen der Bevölkerung in der drusischen Stadt al-Suwaida in Südsyrien, wo die Cyberattacken bejubelt und Süsswaren verteilt wurden. Diese Jubelfeiern waren auch Folge der Tatsache, dass Hizbullah sich in Südsyrien eingenistet hat und die politische Hoheit ausübt.
In den letzten drei Jahren hat es einen gewissen Umschwung der öffentlichen Meinung zugunsten von Hizbullah gegeben. Allerdings darf dieser Umschwung nicht so interpretiert werden, als stünde die libanesische Gesellschaft nun mehrheitlich hinter Hizbullah. Die Gründe für den leichten Zugewinn an Zustimmung in der libanesischen Gesellschaft liegen wohl darin, dass die militärischen Aktionen von Hizbullah nach dem 7. Oktober 2023 als Ausdruck eines libanesischen Nationalismus interpretiert werden. Durch die Anbindung an Hamas ist auch in der libanesischen Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, das Hizbullah auch und gerade für die arabische Sache eintrete. Allerdings wird die Strategie der Hizbullah wohl auch in der libanesischen Gesellschaft immer noch vorrangig mit ihrem Versuch gleichgesetzt, eine politische und soziale Hegemonie über Libanon zu erringen.
Schwacher Rückhalt der Hizbullah in Libanon
Hizbullah ist in der libanesischen Gesellschaft nur unter den schiitischen Gemeinschaften verankert, die etwa einen Viertel der libanesischen Bevölkerung ausmachen. Und hier ist die Verankerung besonders in den südlichen Stadtteilen von Beirut und im ostlibanesischen Bekaa-Tal gegeben. Im eigentlichen Heimatgebiet der Schiiten, im Südlibanon, dominiert weiterhin die ältere schiitische politische Partei Amal (gegründet 1974), die derzeit sogar militärisch in die Auseinandersetzung an der Grenze zu Israel eingegriffen hat.
Selbst innerhalb der schiitischen Gemeinschaften steht die Hizbullah nicht für die politische und soziale Mehrheit. Grob geschätzt kann gesagt werden, dass sich die Hizbullah auf etwa einen Fünftel bis einen Sechstel der libanesischen Gesellschaft stützen kann. Die Machtbasis von Hizbullah wird allerdings durch Alliierte in der libanesischen Gesellschaft erweitert, und dazu zählt vor allen Dingen eine Fraktion unter den christlichen Maroniten, die von den sogenannten Freien Patrioten angeführt wird.
Ob sich aufgrund der Cyberangriffe die libanesische Gesellschaft in einer neuen Solidarität zusammenfinden wird, lässt sich derzeit kaum beurteilen, da wie gesagt keinerlei repräsentative Meinungsumfragen vorliegen. Allerdings kann aufgrund zufällig erhobener Meinungsäusserungen in Beirut vermutet werden, das neben einer Solidarität mit Hizbullah und den Opfern der Cyberattacken die Wut überwiegt. Diese richtet sich nicht allein gegen Israel, sondern auch gegen Hizbullah, da, wie schon gesagt, viele argwöhnen, dass Hizbullah die libanesische Gesellschaft für ihre Zwecke in Geiselhaft genommen habe, ähnlich wie Hamas die Bevölkerung von Gaza sich untertan gemacht habe. Hinzu kommt, dass Hizbullah in vielen Teilen der libanesischen Gesellschaft für die Korruption im Staat verantwortlich gemacht wird. Hier spielt weiterhin die noch immer nicht aufgearbeitete Verantwortung für die gewaltige Explosion von Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut am 4. August 2020 eine Rolle.
Hizbullah als Parastaat
Der parastaatliche Charakter von Hizbullah ist unbestritten. Die politische Führung der Hizbullah liegt in den Händen eines sogenannten Zentralrates, der einen Führungsrat bestimmt, welcher wiederum die Aufsicht über die Gesamtorganisation innehat. Die Organisation verfügt über einen politischen und einen Verwaltungsapparat, der fast wie ein Staat aufgebaut erscheint. Es gibt einen Justizrat, einen parlamentarischen Rat, eine Art Regierungsrat, ein Politbüro und einen sogenannten Dschihad-Rat, also eine Militärverwaltung.
Diesem politischen Verwaltungsapparat unterstehen dann die eigentlichen Teile des Netzwerkes, die mit bestimmten Aufgaben institutionell verknüpft werden: Dazu zählen die Funktionsfelder soziale Sicherung, Gesundheit, Erziehung, Information, Wirtschaft, Finanzen und auswärtige Angelegenheiten. Beide Ebenen, die militärische und die Verwaltungsebene, sind auf die drei Grossregionen Beirut, Bekaa und Südlibanon bezogen, die jeweils in Sektionen beziehungsweise Sektoren untergliedert sind.
So verfügt die Hizbullah über eine hochorganisierte, fast totalitär anmutende, aber auch zersplitterte Organisationslandschaft. Wichtigster Teil ist der ausgefeilte Militär- und Sicherheitsapparat, der vielleicht 50’000 bis 60’000 Mann umfasst und der nach dem 33-Tage-Krieg von 2006 weitgehend erneuert wurde. Er hat eine Doppelfunktion: Zum einen dient er dazu, eine nach innen gerichtete Sicherheitsebene zu schaffen, durch die grosse Teile der schiitischen Bevölkerung in das Solidaritätsnetzwerk der Hizbullah gedrängt werden; zum anderen repräsentiert er die sogenannte islamische Widerstandsebene, die sich zum Teil gegen Israel, aber auch gegen Hizbullah-feindliche Gruppen im Libanon richtet.
Iranisierung der Hisbollah
Hassan Nasrallah ist seit 1992 Generalsekretär der Hizbullah. Auf ihn geht die weitgehende «Iranisierung» der Organisation zurück, die sich erst 1998 nach einer militärischen Auseinandersetzung mit antiiranischen Dissidenten um den eigentlichen Gründer der Hizbullah, Subhi al-Tufail, durchsetzte. Seit dem Tod des assoziierten religiösen Führers Muhammad Hussein Fadlallah im Jahr 2010 gilt die geistige Loyalität der Hizbullah allein dem iranischen Revolutionsführer Khamenei. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass die Hizbullah im Libanon eigenständige politische Ziele verfolgt, die nicht notwendigerweise mit den ideologischen und religiösen Zielen der Islamischen Revolutionsgarden im Iran übereinstimmen.
Die Hizbullah betont, dass es keinen Unterschied zwischen der Politik gegenüber dem Libanon und der Kriegspolitik gegenüber Israel gibt. Der Widerstand gegen Israel wird immer als ein Aspekt der Befreiung des Libanon von der israelischen und – im übertragenen Sinne – von der amerikanischen Hegemonie verstanden. Durch die Unterordnung der Hizbullah unter Khamenei wirkt natürlich auch die iranische Aussenpolitik auf die Hizbullah ein. Durch diese Unterordnung wird aber auch der religiöse Nationalismus der iranischen Politik und sogar dessen messianischer Aspekt übernommen.
Khamenei: baldiges «Ende des zionistischen Gebildes»
Auch wenn die Hizbullah mit immer neuen Raketensalven auf Nordisrael zeigen wollte, dass sie nichts von ihrer Kampfkraft eingebüsst hat, so mehren sich doch die Anzeichen, dass die Organisation durch die Cyberattacken und die zahlreichen israelischen Luftangriffe im Südlibanon massiv geschwächt wurde. Diese Schwächung hat Generalsekretär Nasrallah in seiner Rede am vergangenen Freitag selbst eingeräumt. Gleichzeitig versuchte er, die Auswirkungen der Angriffe herunterzuspielen. Das hat ihm in der libanesischen Öffentlichkeit bitteren Spott eingebracht. Die Hizbullah erlebt derzeit einen grossen Vertrauensverlust.
Aus dem Iran kommen andere Töne. Der Chef der iranischen Revolutionsgarden, Hussein Salami, hat explizite Warnungen an Israel ausgesprochen, die im Ton deutlich aggressiver als bisher klangen und sicherlich ernst zu nehmen sind. Auch Khamenei versprach in seiner Rede am Freitag ein baldiges «Ende des zionistischen Gebildes».
Inzwischen ist eine Delegation der Hizbullah in Teheran zu Gesprächen mit Khamenei eingetroffen. In arabischen Medien wird spekuliert, dass es bei den Gesprächen auch darum gehen könnte, die Hamas dazu zu bewegen, die Hizbullah aus dem Unterstützungsversprechen zu entlassen. Dies würde für Israel eine Beruhigung an der Nordfront bedeuten, gleichzeitig aber ein Überleben der geschwächten Hizbullah ermöglichen.
Eine solche De-Eskalation würde ein separates Abkommen der Hizbullah mit Israel über den Libanon voraussetzen. Parallel dazu könnten gerüchteweise kolportierte Informationen eine Rolle spielen, wonach Israel Yahya al-Sinwar und seinen engsten Kadern freies Geleit aus Gaza gewähren könnte, wenn die Hamas alle verbliebenen Geiseln auf einmal freilässt. Diese Konstellation macht deutlich: Die Entscheidung über Krieg und Frieden im Libanon liegt in Tel Aviv und Teheran.