Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen in den USA ist deren Ausgang völlig offen. Weder den Demokraten noch den Republikanern will es gelingen, die Deutungshoheit zu erlangen. Unbeliebt sind beide ihrer mutmasslichen Kandidaten. Sicher scheint nur, dass in der verbleibenden Zeit bis November 2024 noch Unerwartetes passieren kann.
Bei Zwischenwahlen und Abstimmungen auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene hat die demokratische Partei vergangene Woche teils überraschende Erfolge erzielt. In Ohio wurde gegen starke republikanische Opposition einem Antrag zugestimmt, der das Recht auf Abtreibung in der Verfassung des Staates verankert. Im republikanisch dominierten Kentucky gelang einem demokratischen Gouverneur die Wiederwahl und im konservativen Commonwealth of Virginia eroberten die Demokraten beide Kammern des Parlaments in Richmond. Sowohl in Kentucky als auch in Virginia spielte das Thema Abtreibung eine wichtige Rolle.
Polit-Experten interpretieren die Resultate als klare Absage an die teils extreme Politik der republikanischen Partei (GOP) und als Indiz dafür, dass die GOP unter Donald Trump den Draht zum Stimmvolk verloren habe. Sie warnen aber gleichzeitig davor, die Ergebnisse als richtungsweisend für die Präsidentenwahl 2024 zu sehen. Denn nach wie vor zeigen Umfragen, dass eine Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner weder Joe Biden noch Donald Trump im Weissen Haus sehen will. Trotzdem: Würde heute gewählt, Trump gewänne wohl.
Den einen Befragten ist Biden mit seinen 81 Jahren zu alt und zu gebrechlich, den anderen Trump, nach zwei Amtsenthebungsverfahren und belastet von vier Strafverfahren mit 91 Anklagepunkten, zu mutmasslich kriminell und unberechenbar. Die Stimmung im Land erinnert an 2016, als sich vor allem Leute auf der Rechten vergessen und ungenügend respektiert fühlten, während sich dieses Gefühl derzeit auf der Linken breitmacht, vor allem unter Jungen und Angehörigen von Minderheiten.
Joe Biden wie Donald Trump sind, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, im Volk höchst unbeliebt. Bidens Popularität dümpelt bei 37 Prozent, Trumps bei 35 Prozent. Zwar liegt der Ex-Präsident bei Befragungen in möglicherweise wahlentscheidenden Staaten wie Michigan, Georgia oder Nevada vorn, aber national liegen beide praktisch gleichauf.
Doch zeichnet die Vielzahl der Umfragen ein insgesamt verschwommenes bis verwirrendes Bild: Je nach Auswahl des Sample (Parteimitglieder, Unabhängige, registrierte oder wahrscheinliche Wähler, Jungwähler u. a.) fällt das Resultat unterschiedlich aus und sieht mal den einen und mal den anderen mutmasslichen Kandidaten vorn. Beunruhigend trotzdem, dass in fünf Swing States 42 Prozent der Latinos und 22 Prozent der Schwarzen sagten, sie würden für Donald Trump stimmen.
«Trump ist auf Kriegsfuss mit der amerikanischen Justiz und Biden schlägt sich an zwei Fronten (Israel, Ukraine) mit militärischen Konflikten herum», sagt Umfrage-Analyst Tim Malloy von der Universität Quinnipiac: «Trotz all des Aufruhrs, der parteipolitischen Kritik und des Grolls sind die beiden Kandidaten immer noch unentschieden, wie man nur unentschieden sein kann.» Auf jeden Fall haben ihre derzeitigen Herausforderungen, Trumps Prozesse und Bidens Aussenpolitik, je nach Ausgang das Potenzial, dem jeweiligen Kandidaten 2024 an der Urne nachhaltig zu schaden.
Würden Amerikanerinnen und Amerikaner wirklich einen strafrechtlich verurteilten Kandidaten ins Weisse Haus einziehen lassen? Werden jene Kreise der demokratischen Partei, die Biden die vorbehaltlose Unterstützung Israels im Krieg gegen die Hamas vorwerfen, ihre Bedenken bis im nächsten November vergessen? Ehrlicherweise lässt sich mit Sicherheit nur wenig prognostizieren. Unbekannt heute auch, welche Auswirkungen die Kandidaturen unabhängiger Sprengkandidaten wie jene des Aktivisten Robert F. Kennedy oder des Philosophen Cornel West auf den Wahlausgang haben werden. Umfragen zufolge gewännen Kennedy und West zusammen derzeit einen Viertel aller Stimmen.
Derweil zerfleischen sich Donald Trumps Gegner innerhalb der republikanischen Partei gegenseitig. Bei einer Fernsehdebatte in Miami (Florida) zehn Wochen vor der ersten Vorwahl der GOP in Iowa am 15. Januar 2024 fanden letzte Woche erneut weder die eine Kandidatin noch die vier Kandidaten ein Rezept, sich gegenüber ihrer Konkurrenz zu profilieren oder sich von Donald Trump abzusetzen, der zwar gar nicht anwesend war, von den Medien angesichts des bedenklich tiefen Niveaus der Auseinandersetzung aber zum Sieger der Debatte erklärt wurde.
Während Vivek Ramaswamy den ukrainische Präsidenten Wolodimir Selensky als «Nazi» beschimpfte und Senator Tim Scott (South Carolina) einen Angriff auf den Iran forderte, versprach Floridas Gouverneur Ron DeSantis, das Militär an die Südgrenze mit Mexiko zu schicken, um des Drogenhandels Verdächtige «kaltblütig zu erschiessen». Worauf Ramaswamy den Bau einer zweiten Mauer verlangte – an der Grenze zu Kanada.
Moderater dagegen argumentierten Trumps frühere Uno-Botschafterin Nikki Haley und Ex-Gouverneur Chris Christie. Doch alle Kandidierenden waren sich einig, dass es gelte, Israel um jeden Preis zu unterstützen. DeSantis sagte, er würde Ministerpräsident Benjamin Netanjahu raten, «den Job zu beenden», während Haley forderte, «sie (die Hamas) fertigzumachen». Scott, der seinen Wahlkampf inzwischen suspendiert hat, meinte, Israel solle «die Hamas von der Landkarte tilgen». Rawaswamy sagte lediglich, ohne zu präzisieren, er würde «noch einen Schritt weitergehen». Einzig Christie schloss sich in Miami der kriegerischen Rhetorik nicht ausdrücklich an.
Derweil bleibt für die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner die Lage der Wirtschaft das wichtigste Thema. Zwar hat sich diese von der durch die Corona-Pandemie verursachten Rezession erholt und die Arbeitslosigkeit ist so tief wie seit fast 50 Jahren nicht mehr. Doch eine Mehrheit im Lande ist der Meinung, sie fühle sich angesichts gestiegener Benzin- und Lebensmittelpreise jeden Monat finanziell unter Druck.
«Wir hatten noch nie eine Situation, in der die empirischen Daten zur Lage der Wirtschaft und deren Wahrnehmung durch die Bevölkerung so weit auseinanderklafften», sagt eine demokratische Umfrage-Spezialistin. Ihrer Partei hat noch nie eine Präsidentenwahl verloren, wenn es ihr gelang, in Sachen Einschätzung der Wirtschaftslage durch die Wählerschaft mit der republikanischen Konkurrenz gleichzuziehen oder sie zu überholen.
Derweil meinen Umfrage-Experten, die Wählerinnen und Wähler beider Parteien würden sich am Ende des Tages bei aller Unzufriedenheit im November 2024 wohl hinter ihrem Mann (oder ihrer Frau) scharen. «Je rascher diese Wahl einen deutlichen Kontrast aufzeigt, desto besser», sagt der frühere Clinton-Berater Anthony Lake: «Joe Biden pflegt zu sagen, vergleicht mich nicht mit dem Allmächtigen, sondern mit der Alternative. Und bei diesem Vergleich schneidet er nicht schlecht ab.» Düsterer dagegen äusserst sich der Demokrat Stan Greenberg: «Viele sehen 2024 als die letzte Wahl, falls er (Donald Trump) gewinnt. So hoch sind die Einsätze.»
Wer an Donald Trumps Absichten zweifelt, erinnere sich, was der Ex-Präsident jüngst am Veterans Day in einer Rede in New Hampshire versprochen hat: «Wir versprechen euch, dass wir die Kommunisten, Marxisten, Faschisten und die linksradikalen Verbrecher, die wie Ungeziefer in unserem Land leben, die lügen, stehlen und bei Wahlen betrügen, ausrotten werden. Sie werden alles tun, ob legal oder illegal, um Amerika zu zerstören und den amerikanischen Traum zu zerstören.»
Im liberal-konservativen Magazin «The New Republic» reagierte Autor Michael Tomasky auf Trumps Tirade wie folgt: «Das ist Nazi-Sprech, wie er es noch nie zuvor getan hat. Zu verkünden, dass der wahre Feind im eigenen Land ist, und dann von diesem Feind in untermenschlicher Weise zu sprechen, ist das Einmaleins des Faschismus. Vor allem dieses spezielle Wort.»