Frankreich wurde in den letzten Wochen immer wieder an das Jahr 1983 erinnert – 30 Jahre ist es her, dass die zur Zeit wiedererstarkte rechtsextreme Nationale Front bei Gemeinderatswahlen ihre ersten Wahlerfolge gefeiert hat und gleichzeitig eine richtiggehende Welle rassistischer Gewalt über das Land hereingebrochen ist – ein knappes Dutzend französischer Jugendliche nordafrikanischer Herkunft sind damals auf Grund ihres Aussehens beschossen, verletzt und erschossen worden. Hans Woller hat im Frühjahr 1984 einen Text geschrieben, der eines dieser Verbrechen protokolierte.
14. November 1983, 21h30.
Der Zug No 343 BORDEAUX – VENTIMIGLIA – MAILAND steht bereits auf dem Gleis. Knapp eine Stunde bleibt noch bis zur Abfahrt. Ein Nachtzug. Auch mitten in der Woche ist er schon relativ gut besetzt.
5 Männer verlassen das Bahnhofslokal und besteigen den Wagon No. 114, den letzten des Zugs, und machen sich auf die Suche nach einem freien Abteil. Im nächsten Waggon, No 113, finden sie eines und lassen sich nieder. In den Händen hat jeder von ihnen etwas Reisegepäck und einiges an Alkoholika. Die fünf Männer kennen sich erst seit wenigen Stunden, haben aber ein gemeinsames Ziel: Aubagne, im Hinterland von Marseille, die Stadt von Marcel Pagnol. Sie ist bekannt als eine der Hochburgen der legendären französischen Fremdenlegion. Wer in sie eintreten will, muss nach Aubagne. Dort werden die Kandidaten auf Herz und Nieren geprüft. Vier Männer im Waggon 113 wollen dorthin, der fünfte, Joseph Logel, Obergefreiter der Fremdenlegion in Uniform, kommt von dort und soll die Fremdenlegionsanwärter dorthin begleiten.
Vier junge Männer am Tag, bevor sie ihre bisherige Identität ablegen werden und eine neue annehmen.
Die Whiskyflaschen kreisen, und Bier ist auch genügend da, die Zwölferpackungen von Kronenbourg. Der Nachtzug Bordeaux – Ventimiglia kennt diese Art von Szenarien zu Genüge. Er ist ein häufig benutztes Beförderungsmittel für französische Soldaten, um die oft unsinnig weiten Entfernungen zwischen Wohnort und Kaserne zu überwinden.
Der Zug kennt auch den Lärm, der aus dieser Konstellation Soldat und Alkohol entstehen kann. Fahrgäste und Zugschaffner, die diese Strecke öfters zurücklegen, wissen ein Lied davon zu singen.
Alle Abteile sind relativ gut besetzt. Die vier jungen Männer, Aspiranten der Fremdenlegion, die ihnen bereits die Fahrkarte bezahlt hat, sind unruhig und nervös. Die Ungewissheit darüber, was sie in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten erwartet, treibt sie, zwischen kräftigen Schlücken aus den Whisky-Flaschen, immer wieder aus dem Abteil auf den Gang, in dem sie auf – und ab wandern.
22h27
Der Zug No 343 setzt sich in Bewegung. Im Waggon No 113 sitzt auf Platz 55 Habib Grimzi, 26, Kopfhörer im Haarschopf, Walkman am Gürtel.
Für ihn geht eine knappê Woche eines nicht ganz gewöhnlichen Urlaubs zu Ende. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er in Frankreich, jetzt schon wieder auf dem Weg nach Marseille, um das Schiff zu erreichen, das ihn wieder nach Algerien bringen soll. Am 9. November, am selben Tag, wie der Präsident seines Landes, war er nach Frankreich zu Besuch gekommen. Heute gegen 20 Uhr hat er sich, eher traurig, von einer jungen Französin verabschiedet. 10 Jahre lang war sie seine Brieffreundschaft gewesen, nun hatte er sie das erste Mal gesehen und die Hoffnung, dass da so etwas wie Liebe sein könnte, hatte sich nicht erfüllt.
Sein Platz im Abteil ist an der Glasfront, die den Blick in den Gang frei lässt.
Den vier Männern fällt es immer noch schwer, auf ihren Plätzen zu bleiben. Nur einer unter ihnen ist schon ziemlich bald nicht mehr von der allgemeinen Unruhe geplagt. Alain Keberiou hat dem Whisky am eifrigsten zugesprochen und kann sich nur mehr schwer auf seinem Sitz halten. Als er herunterfällt, lässt man ihn einfach zwischen den Sitzbänken liegen. Die anderen schneiden an einer Hartwurst herum und lassen ein paar Bemerkungen fallen über den Film, den sie gerade noch am Fernseher im Bahnhofslokal gesehen hatten: Borsalino & Co.
Anselmo Elviro-Vidal verlässt zum zehnten Mal das Abteil. Er ist Spanier, aus dem Baskenland, war früher mal in einer linken Splittergruppe engagiert, seit einiger Zeit ist er in Frankreich, ohne Arbeit, ohne Perspektive und auf dem Weg in die Fremdenlegion.
Er geht durch den Gang und betrachtet die Fahrgäste in den Abteilen durch die verglasten Türen. Habib Grimzi schaut ihm unter seinem Kopfhörer in die Augen und weicht seinem Blick vielleicht nicht sofort wieder aus. War Grimzis Blick provozierend ?
Anselmos Nervosität schlägt in Wut um. Er reisst die Abteiltür auf und lässt eine von Alkoholhauch durchsetzte Flut von Schimpfwörtern über den jungen Algerier niedergehen, nebst ein paar Faustschlägen.
Agen, 23h48
Der Zug hält und Habib Grimzi macht sich verunsichert und verängstigt auf die Suche nach einem Schaffner. Passagiere steigen zu, darunter auch Maria- Grazia Thomas. Seit ihr Mann vor 18 Monaten pensioniert wurde, wohnt sie in der Gegend von Agen. Sie ist Anfang 60, hat einen blumigen italienischen Akzent und nimmt den “Bordeaux – Ventimiglia”, um ans Sterbebett ihrer Mutter in der Nähe von Parma zu eilen. Sie kommt im Nebenteil der angehenden Fremdenlegionäre zu sitzen.
5 Minuten später hat der Zug in Richtung Montauban die Höchstgeschwindigkeit von knapp 150 km/h erreicht. Habib kehrt nach der vergeblichen Suche nach einem Schaffner zu seinem Abteil zurück und wird dabei von Anselmo verfolgt. Als er an dem Abteil der angehenden Legionäre vorbei will, wankt Marc Beami heraus und verstellt ihm den Weg.
Diesmal bleibt es nicht bei Schimpfwörtern. Maria – Grazia Thomas sieht das Blut im Gesicht von Habib Grimzi, seinen verzweifelten Blick und bleibt auf ihrem Platz.
Habib gelingt es, einen zweiten Schaffner zu finden. Dieser ermahnt Joseph Logel, den uniformierten Begleiter eindringlich, gefälligst ein wachsames Auge auf die ihm Anvertrauten zu haben und geleitet Habib Grimzi in den Waggon No 114, wo er ihm ein leeres Abteil zuweist und die Verbindungstür zwischen den zwei Waggons verschliesst.
Vincent Perrez ist der verantwortliche Schaffner für den gesamten Zug. Ihm tut der junge, verängstigte Algerier leid, der da nun blutend alleine in einem Abteil sitzt. Bei ihm werden Erinnerungen wach an sein Geburtsland, das er, wie so viele Algerienfranzosen, 1962, am Ende des Kriegs, verlassen musste. Seit damals arbeitet er bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft.
Als Vincent Perrez wieder durch den Waggon 113 kommt, wirft er nochmals einen kurzen Blick in das Abteil des Obergefreiten Logel und seiner Schützlinge. Keberiou schläft immer noch, dem Delirium Tremens nahe, auf dem Boden. Beami mit seinem bereits kahl rasierten Schädel, Elviro-Vidal, mit dem dichten Schnurbart und Blondel, der vierte, diskutieren ziemlich hitzig miteinander in einem Dunst aus Alkohol und Schweiss, während der Obergefreite seinerseit eher dem Schlaf zuneigt.
Beami, Elviro – Vidal und Blondel erheben sich und begeben sich erneut auf die Suche nach Grimzi. Die zwei anderen lassen sie im Abteil zurück.
Die Verbindungstür zum Waggon 114 ist geschlossen. Sie versuchen es Gewalt und schaffen es nicht. Doch ein dritter Kontrolleur, der vorbeikommt und offensichtlich von nichts weiss, öffnet sie ihnen wenige Minuten später bereitwillig.
Habib Grimzi sitzt allein in seinem Abteil. Er sieht sie nicht sofort kommen, aber er hört sie. Eine Abteiltür nach der anderen wird polternd aufgerissen und ebenso heftig wieder zugezogen. Die Stimmen werden lauter.
Im Waggon 114 hat auch Georges Lancelot Platz genommen. Wie schon so oft hat er diesen Nachtzug bestigen, um nach Toulouse zu fahren, wo er Informatik studiert. Heftig reibt er sich die müden Augen unter der dicken Brille. Den näher kommenden Lärm beachtet er kaum – es ist eben immer dasselbe, denkt er sich. Missmutig lässt er die Störung über sich ergehen, würdigt die Lallenden im Türrahmen kaum eines Blickes und wünscht im Stillen diese ständig betrunkenen Soldaten, die diesen Zug regelmässig benutzen, zum Teufel. Draussen geht der Lärm aber weiter, an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Also kramt Georges Lancelot ein Buch aus seiner Tasche.
Die drei im Gang reissen jetzt die Abteiltür von Grimzi auf: Beami mit dem Stiernacken, Blondel, der Grosse mit dem Pullover, der ihm zu klein ist und Elviro-Vidal, der Spanier, der nicht aufhört zu rauchen.
Bevor sie sich aufgemacht hatten, hatten sie die Hartwurst endgültig verdrückt. Geblieben ist ihnen das Messer.
Es kommt zu erneuten Beschimpfungen, zu Schlägen und einem Stich ins Schulterblatt von Habib Grimzi.
Sie zerren den Gepeinigten in den Gang. Der Zug donnert weiter mit 150 kmh durch die Nacht Richtung Montauban. Drei Männer schimpfen, schlagen und stechen auf einen Vierten ein und öffnen die Waggontür. Der kalte Nachtwind reicht nicht aus, um ihre erhitzten Gemüter abzukühlen. Noch ein paar Schläge und Tritte und dann ein letzter Tritt.
Oh15
Bei Kilometer 193 zerbirst Habib Grimzis Schädel endgültig an einer Eisenbahnschwelle. Mit aller Kraft wird die Waggontür wieder zugeschlagen. Georges Lancelot wundert sich über dieses Schlagen der Tür, mehr nicht.
0h30
Der Zug hält in Montauban. Beami verlässt ihn und bleibt auf dem Bahnsteig zurück.
0h34
Der Zug fährt weiter in Richtung Toulouse. Vincent Perrez begibt sich in den letzten Waggon, um nach Habib Grimzi zu sehen. Er findet ein leeres Abteil vor und Spuren von Blut auf dem Boden und an den Fensterscheiben.
Jetzt ist es er, der die Abteiltüren aufreisst und dutzende Mal dieselbe Frage stellt: “ Haben sie den Araber gesehen. “
Niemand hat ihn gesehen.
Vincent Perrez geht bis ans Ende des Waggons No 114 und dann in die andere Richtung durch den gesamten Zug, ohne eine Toilette oder Waschraum auszulassen.
Vorne im Führerhaus angekommen, bedient er den Bordfunk.
1h12, Toulouse
Auf dem Bahnsteig warten mehrere Dutzend Polizisten. Elviro-Vidal, Blondel, der Begleiter Logel und der stockbetrunkene Kerbirou lassen sich relativ problemlos verhaften. Beami fehlt. Er wird am nächsten Morgen in Bordeaux verhaftet werden.
Der Zug hält 25 Minuten in Toulouse und nicht 13, wie geplant. Der Tod von Habib Grimzi hat die Reisenden im Zug No. 343 ganz zölf Minuten gekostet. Der Neffe von Maria- Grazia Thomas wird auf dem schönen Mailänder Bahnhof nicht sonderlich lange auf seine Tante warten müssen.
Mehr als 80 Reisende befanden sich zwischen Bordeaux und Toulouse in den Waggons 113 und 114. Ganze zwei stehen der Polizei als Zeugen zur Verfügung und auch diese zwei haben angeblich nicht viel gehört und noch viel weniger gesehen. Anscheinend ist niemand aufgestanden und hat genauer hin geschaut, als ein Fahrgast, der Araber, massakriert wurde. Niemand hat die Notbremse gezogen. Gleichzeitig sagen Maria-Grazia Thomas, Georges Lancelot und der Schaffner, Vincent Perrez, dass kaum jemand geschlafen hat in diesen Waggons und in fast allen Abteilen noch Licht brannte.