Sie kämpften gegen Diskriminierung und rassistische Gewalt. Drei Jahrzehnte danach hat sich für sie und die Generation ihrer Kinder in Frankreichs Vorstädten kaum etwas geändert.
Der 3. Dezember 1983 war ein Samstag und der „Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus“ war am Ziel angekommen: Paris. Am Anfang, in Marseille, waren sie gerade zwei Dutzend gewesen, die sich auf den 1'200 Kilometer langen Weg quer durch Frankreich gemacht hatten – junge Menschen der Generation von Einwandererkindern aus den Vorstädten von Lyon und Marseille, sowie ein Pastor und ein Pfarrer.
Bei der Ankunft in Paris waren sie 100‘000 und Vertreter von Parteien und Gewerkschaften erwarteten sie, drei Minister, der Kardinal von Paris und am Ende wurde eine Delegation der Marschierer sogar von Staatspräsident Mitterrand persönlich empfangen. Ein Phänomen war geboren, die Generation der „Beurs“, wie die Presse sie nannte. Frankreichs Öffentlichkeit hatte zum ersten Mal überhaupt die jungen Franzosen nordafrikanischer Abstammung aus den Vorstädten des Landes wirklich wahrgenommen.
"Dieser Marsch war aus der Not geboren worden. Die Situation war wirklich einfach dramatisch“, sagt heute einer der Initiatoren von damals, der 52- jährige Toumi Djaidja aus Venissieux, einer Vorstadt von Lyon. Er selbst war damals im Juni 1983 in Venissieux durch den Schuss aus einer Polizeipistole schwer verletzt worden, als er auf der Strasse Jugendlichen zu Hilfe kommen wollte, die von Polizeihunden angegriffen wurden.
Dieser erneute Vorfall im Sommer 1983 sollte ein Fass zum überlaufen bringen. Denn die Schüsse auf Toumi Djaidja waren nur eines von rund 50 rassistisch motivierten Verbrechen innerhalb weniger Monate. Dabei waren insgesamt ein Dutzend Vorstadtjugendliche ums Leben gekommen, erschlagen oder abgeschossen wie Hasen von Nachbarn, Passanten und Polizisten. Eines der Opfert war ein 10-jähriger Junge in der Pariser Vorstadt La Courneuve.
Mörderische Sommer
„In jenen Jahren“, erinnert sich Toumi Djaidja, „sprach man von den ‚mörderischen Sommern‘. Es gab eine ganze Reihe von Mördern, diese Dumpfbacken, wie man damals sagte, die einfach auf uns schossen. Unser Marsch als Antwort darauf war vor allem ein Symbol der Gewaltlosigkeit und sollte eine Botschaft des Friedens sein. Vier Monate vor der Ankunft in Paris war ich noch im Krankenhaus gelegen, am Ende konnte ich unsere Botschaft der höchsten Autorität im Staat, dem Präsidenten der Republik, persönlich überbringen. Unsere Botschaft, die ganz einfach lautete: auch wir sind Kinder dieses Landes.“
Ein anderer unter den zwei Dutzend, die diesen historischen Marsch begonnen und bis zum Ende verfolgt hatten, war der Pfarrer der Lyoner Vorstadt Venissieux, Christian Delorme.
„Dieser Marsch war ein Aufschrei und zugleich eine ausgestreckte Hand“, sagt er heute. „Ein Aufschrei, um auf die vielen rassistischen Verbrechen in jener Zeit aufmerksam zu machen und zugleich eine ausgestreckte Hand von jungen Menschen, die sich als Franzosen fühlten und verlangten, als solche auch voll und ganz anerkannt zu werden, so wie sie eben waren, unabhängig von ihrer Herkunft.“
„Wir sind von hier“
Für Frankreich war diese Bewegung aus den Vorstadtghettos, 20 Jahre nach Ende des Algerienkriegs eine echte Wende in der Geschichte der Immigration und hatte letztlich, wenn auch mit Abstrichen, die Bedeutung des Marsches von 1963 in den USA und der Ereignisse rund um Martin Luther King.
Plötzlich war für alle in Frankreich etwas sichtbar geworden, was die französische Gesellschaft bis dahin nicht wirklich wahrgenommen hatte: man konnte Franzose sein und zugleich doch anders sein. Die, die sechs Wochen lang durch Frankreich zogen, sagten damals der Öffentlichkeit: wir sind von hier, wir sind aus diesem Land, wir lieben dieses Land und wir werden in diesem Land bleiben, in dem wir dieselben Rechte, wie die anderen beanspruchen. Und letztlich signalisierten sie den Franzosen auch, dass die Zeit der Kolonien vorüber ist, ebenso wie der Mythos der Rückkehr dieser Menschen nach Nordafrika und dass die Immigration eben nicht nur vorübergehendend ist.
SOS Rassismus
Aus dieser Bewegung ging damals indirekt auch die Organisation „SOS Rassismus“ hervor, die mit der geöffneten gelben Hand als Anstecknadel und dem Motto „Touche pas a mon pote“ - „Rühr meinen Kumpel nicht an“, auch über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt wurde. Doch die Betroffenen in den Vorstädten sahen sich durch diese Organisation von Anfang an politisch vereinnahmt. Ihr Hauptanliegen war „Egalité“ - Gleichheit in jeder Hinsicht und nicht nur der medial unterstützte moralische Anti-Rassismus.
„Auch wenn es einige positive Aspekte dabei gab“, meint Pfarrer Christian Delorme heute, „so ist doch klar, dass SOS Rassismus eine von Präsident Mitterrand gesteuerte politische Konstruktion war, auch um so zu tun, als würde man – damals schon – etwas gegen die Nationale Front unternehmen, welche Mitterrand de facto, wenn auch diskret, gefördert hatte, um die traditionelle Rechte zu schwächen. Diese Instrumentalisierung hat dazu geführt, dass die Vorstadtjugendlichen SOS Rassismus von Anfang an vehement abgelehnt haben. Der eigentliche Misserfolg des Ganzen bestand darin, dass die Machthabenden nicht kapiert haben, dass es bei der Bewegung vor allem um die Forderung nach Gleichheit ging, unabhängig von der Herkunft der einzelnen.“
Marsch für Gleichheit – wie bitte?
Heute, 30 Jahre danach, ist dieser historische Marsch für Gleichheit sogar als Spielfilm in den französischen Kinos angelaufen. In der Presse und in mehreren Büchern, sowie mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen wird an dieses wichtige gesellschaftliche Ereignis vor drei Jahrzehnten erinnert. Doch die Protagonisten von damals, wie etwa Toumi Djaidja, haben sich konsequent geweigert, an diesen offiziellen Veranstaltungen teilzunehmen und haben auch den Besuch des Städtebauministers boykottiert, der sich Anfang November in die Vorstadt Venissieux bei Lyon begeben hatte. In den Vorstadtghettos selbst, von wo die Bewegung damals ausgegangen war, gibt es heute so gut wie keine Spur mehr von einem Bewusstsein über die Bedeutung dieses Marsches vor 30 Jahren, die heutigen Vorstadtjugendlichen haben zu 99% nicht die geringste Ahnung von dem, was damals geschehen ist.
Vernachlässigte Vorstädte
Dieser 30. Jahrestag konfrontiert Frankreich zugleich frontal mit der Tatsache, dass die Forderungen der jungen Menschen von damals heute noch genau so aktuell sind, wie 1983. Er verdeutlicht erneut, dass man in diesen drei Jahrzehnten einen ganzen Teil der französischen Bevölkerung hat links liegen lassen und sich für die jungen Vorstadtfranzosen nord- und schwarzafrikanischer Herkunft seit dem Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus so gut wie nichts verbessert hat, ja die Misere in den Vorstädten und die sozialen Diskriminierungen der dort Lebenden an manchen Orten eher noch schlimmer geworden sind – entsprechend verbittert fällt heute so manche Reaktion aus.
„Wir haben damals gedacht“, so Djamel Attalah, einer der Mitinitiatoren des Marschs vor 30 Jahren, „wir könnten es schaffen, dass die Republik auf eine Reihe von Forderungen der Jugend aus den Vororten wirklich reagieren würde. Doch das grosse Problem der Vorstädte ist nun mal der Arbeitsmarkt und diesbezüglich hat die Republik die Vorstädte vollständig fallen gelassen. Alle Regierungen seit dem Marsch haben die Augen verschlossen, als hätten sie einen Schleier aufgesetzt, um die echten Probleme nicht zu sehen und nichts dafür zu tun, damit die Vorstädte wirklich aus dem Sumpf herauskommen.“
Die Entwicklung danach
Vor 30 Jahren hatten die Milliarden schwere Untergrund-Ökonomie und der Drogenhandel in den französischen Vororten bei weitem nicht dasselbe Gewicht wie heute und kaum jemand sprach damals vom Islam, von der Burka und verschleierten Frauen, getrennten Schwimmbädern oder Halal-Fleisch. Pfarrer Christian Delorme, der sich in der Region Lyon heute um die Beziehungen zwischen Christentum und Islam kümmert, resümiert diese Entwicklung folgendermassen:
„Wir müssen heute feststellen, dass sich die Menschen in den Vororten von der Gesellschaft zurückziehen. In diesen Gebieten der Republik gehen z.B. nicht mal 20% der Menschen zur Wahl. Und die Jugendlichen dort glauben einfach nicht mehr an die Institutionen der Republik. Trotzdem wollen sie aber natürlich Franzosen sein und ihren Platz in der Republik finden. Viele von ihnen denken heute, dass das nur möglich ist, indem sie eine Art Kräfteverhältnis herstellen dadurch, dass sie sich dem Islam zuwenden. Sie wollen Franzosen sein, ihren Platz finden, sagen sich aber: da die normalen Mittel der Integration das nicht mehr möglich machen und nicht ermöglicht haben, werden wir über die Religion Druck ausüben. Das sind die, die sich z.B. im Diskurs eines Tareq Ramadan wiederfinden. Und dann gibt es all diejenigen Kinder und Enkelkinder von Einwanderern, die ihren Platz in der französischen Gesellschaft sehr wohl gefunden haben, ohne viel Lärm zu machen und auch überhaupt nicht mehr als Andersartige gesehen werden wollen. Doch dieses Land akzeptiert sie trotzdem nicht und das Drama dabei ist, dass viele dieser jungen, diplomierten Menschen weggehen, nach Grossbritannien, in die Schweiz, nach Belgien etc. Dort werden sie als Franzosen anerkannt, während man sie hier immer noch als Araber behandelt, die zwar die französische Nationalität haben, sich aber fragen lassen müssen, ob es legitim ist, dass sie diese Nationalität haben.“
Andere Tote
Wenige Monate vor dem Marsch 1983 hatte die rechtsextreme Nationale Front damals bei den Kommunalwahlen ihre allerersten Wahlerfolge erzielt. Heute, drei Jahrzehnte später, sagt man ihr bei den Europawahlen 2014 mehr als 20 % der Stimmen voraus. Und 30 Jahre nach dem Marsch gegen Rassismus sind plötzlich in Frankreich auch offen rassistische Parolen wieder an der Tagesordnung. Immerhin musste sich Christiane Taubira, die farbige Justizministerin, jüngst als Affenweibchen beschimpfen lassen.
Eines hat sich in diesen 30 Jahren seit dem Marsch aber doch geändert. Die Serie von rassistischen Verbrechen, die 1983 über die Vorstädte des Landes hereingebrochen war, ist heute nicht mehr denkbar. Mittlerweile erschiessen sich die Vorstadtjugendlichen nord- und schwarzafrikanischer Herkunft untereinander, im Kampf um die Einflusszonen beim Drogenhandel. In den nördlichen Ghettos von Marseille starben allein in diesem Jahr bereits 17.