Das Städtchen Dieulefit scheint sich auf den ersten Blick nach knapp zwei Wochen in einem gemächlichen und freundlichen Corona-Trott eingerichtet zu haben. Kein Gedränge mehr im Supermarkt, man hält die Abstände und sucht den Hauptversorgungsort so selten wie möglich auf. Auch kauft man, wenn gewünscht, gleich für die Nachbarn mit ein. Den Kassiererinnen hat ein Kleinbetrieb im Ort inzwischen Masken gespendet.
Auf dem Kirchplatz im Dorfzentrum fehlen jetzt die hellen Kinderstimmen – drei, vier Knaben tobten hier am Nachmittag und am Wochenende sonst stundenlang.
Wer in Dieulefit nicht kann oder wirklich nicht will, der muss auch nicht mehr aus dem Haus gehen, um sich zu versorgen. Das kleine Lebensmittelgeschäft, der Metzger, ein Bäcker und der Gemüseladen im Ortszentrum haben sich zusammengetan und liefern an drei Nachmittagen ins Haus. Dasselbe gilt für sämtliche Biobauern in der Umgebung. Per Internet kann man bei ihnen dreierlei verschiedene Gemüsekörbe bestellen, die meist sehr schnell ausgebucht sind. Freunde und Freiwillige stehen den Bauern für die Lieferungen zur Seite.
Historischer Wochenmarkt
Seit Dienstag letzter Woche sind in ganz Frankreich auch Märkte unter freiem Himmel im Prinzip verboten. Auf Anfrage der Bürgermeister kann der Präfekt in den Departements aber Sondergenehmigungen erteilen.
Dieulefit hatte diese am Freitag bekommen, allerdings unter drastischen Auflagen. Zwischen den einzelnen Ständen zehn Meter Abstand. Vor jedem Stand Absperrgitter, die nur immer von einer Person umgangen werden durften, um die gekaufte Ware in Empfang zu nehmen. Nichts mehr von wegen das Obst anlangen, um zu testen, ob es reif ist, nur der Händler darf es berühren.
Vor allem aber gab es nur noch zwei Zugänge zum Markt, und jeder Kunde musste sich im Einbahnverkehr bewegen und Runden drehen um das weiträumig abgesperrte Zentrum des Markts, die Stände waren am Rande in einem grossen Oval weit voneinander aufgereiht. Noch nie haben die Bewohner des Ortes ein derartiges Marktbild gesehen. Städtische Angestellte, Freiwillige und die Bürgermeisterin persönlich sorgten für die Einhaltung der Regeln, zwei Gendarmen beobachteten. Und fast jeder Händler insistierte bei den Kunden: Haltet euch daran, nur so können wir auch in den nächsten Wochen weiterhin einen Markt abhalten.
Böses Erwachen
Morgen für Morgen wacht man mit dem Radio und dem völlig umgekrempelten, der Krise grossartig angepassten Programm von «France Inter» auf. 7-, 7.30- und 8-Uhr-Nachrichten, danach reicht es einem. Nicht so der Gefährtin. Das Radio droht zur Obsession zu werden, ständig läuft es irgendwo – im Bad, in der Küche, im Wohnraum, neben dem Liegestuhl im Garten, ja selbst beim Unkrautjäten. «France Inter» hat seit dem 16. März neue Sendungen geschaffen, die über den Tag verteilt fünf oder sechs Stunden einnehmen, allesamt mit Hörerbeteiligung. Sendeplätze, auf denen die einen und die anderen Experten das eine und das Gegenteil verkünden, vor allem aber die Hörer aus dem ganzen Land ihre Ängste neben gutgemeinten Ratschlägen wie Viren über den Äther verbreiten. Davor muss man einfach mehrmals am Tag in Qurantäne.
Das Erwachen mit dem Radio hatte am Sonntagmorgen etwas Besonderes. Es waren zwei Meldungen, die unter die Haut gingen. Zum einen war in der Nacht davor mit Patrick Devedjian der erste landesweit bekannte Politiker an Covid-19 verstorben. Der 75-jährige Ex-Minister, amtierender Präsident des Departementsrates der Hauts-de-Seine im Westen von Paris und prominentes Sprachrohr der armenischen Gemeinde Frankreichs, hatte erst drei Tage zuvor per Twitter über seine Erkrankung informiert. Er dankte noch dem Krankenhauspersonal und sprach davon, dass er schon wieder auf dem aufsteigenden Ast sei.
Gewalt zuhause
Und gleich danach eine wahre Horrormeldung aus den Untiefen der Ausgangssperre. Im nördlichen Pariser Vorort Tremblay en France, unweit des nun weitgehend beruhigten Flughafens Charles de Gaulle, wurde ein Vater festgenommen, weil er sein Kind derartig verprügelt und malträtiert hatte, dass der 6-jährige Knabe nun hirntot im Krankenhaus liegt. Das bislang grausigste Beispiel für das, was viele Hilfsvereine und Sozialarbeiter schon seit Beginn der Ausgangssperre befürchtet hatten: die Zunahme von Gewalt innerhalb von Familien und der eigenen vier Wände.
Und in der Tat informierte die Gendarmerie noch am selben Tag, dass die Zahl der Anrufe und Klagen von Frauen wegen Gewalttätigkeiten ihrer Ehemänner oder Partner in den knapp zwei Wochen seit Beginn der Ausgangssperre um 36 Prozent zugenommen hat.
Man hat hier gut schreiben, zu zweit in einem Haus mit dem Garten davor, im eher harmonisch-friedlichen Städtchen Dieulefit, wo von Spannungen so gut wie nichts zu spüren und zu sehen ist. Aber wie geht es wohl zu in einer Wohnung in einem der abertausenden Wohntürme in den Peripherien der Grossstädte, wo ein Elternpaar mit drei Kindern auf fünfzig Quadratmetern zusammenleben muss und vielleicht auch noch aufgrund der Coronakrise, aufgrund von Kurzarbeit oder nicht mehr möglicher Schwarzarbeit das Geld langsam knapp wird?
Mann und Frau, die seit jeher für wenig Geld ums Überleben arbeiteten und sich und den Kindern sonst im Alltag nur wenige Stunden am Tag begegnet sind, müssen es nun 24 Stunden täglich ohne jedes Ventil miteinander aushalten, und dies in einer Umgebung, in der auch ausserhalb der Wohnungen, auf Plätzen und Wegen der Betonwüsten der Ton ohnehin rauer ist und häufig Gewalt in der Luft liegt.
Banlieues in der Coronakrise
Insgesamt fünf Millionen Menschen leben in Frankreich in den Hochhaussiedlungen der Vorstädte, die als so genannte «sensible Zonen» ausgewiesen sind. Es sind Territorien, von denen es seit Jahren heisst, sie seien für die Republik verloren, Gebiete, in denen teilweise eigene Gesetze herrschen, ein quasi rechtsfreier Raum besteht und wo sich die Polizei nur noch selten hinwagt.
Es sind Viertel, geprägt von Arbeitslosigkeit, Armut und einer Parallelökonomie, die nicht nur aus dem Drogenhandel besteht und wo ganze Heerscharen von Jugendlichen einen Gutteil des Tages an den Hauswänden lehnen oder in kleinen Gruppen die Eingänge der Hochhäuser belagern.
In den ersten Tagen nach Beginn der Ausgangssperre hatte sich im Strassenbild dieser Orte nur wenig geändert. Vor Postämtern, Tabakläden oder Supermärkten versuchten Angestellte eine zeitlang vergeblich, auf Einhaltung der Abstände zu pochen, bis sie es resigniert bleiben liessen. Und auch einzelne Polizeieinheiten traten, bevor die Stimmung zu aggressiv wurde, in mehreren Vorstadtsiedlungen lieber den Rückzug an.
Nach und nach häufen sich Berichte über das immense Unverständnis, das unter der Bevölkerung in den Problemvororten gegenüber den mit der Ausgangssperre verbundenen Massnahmen herrscht. Die seit Jahren gewachsene Skepsis gegenüber den Vertretern des Staates, die Anfälligkeit für Fake-News und Komplott-Theorien, verbunden mit einer guten Portion Analphabetismus erleichtern in dieser besonderen Situation wahrlich nichts.
Rund 80 Gemeinden in Frankreich haben inzwischen eine totale nächtliche Ausgangssperre verhängt. Darunter ist jedoch keine der berüchtigten Vorstädte des Landes, wohlwissend, dass man diese nächtliche Ausgangssperre dort gar nicht durchsetzen könnte. Zu gross ist die Angst vor gewaltsamen Explosionen.
Nur keine Aufstände
Ähnliches wie aus den Pariser Vororten hört man aus der Peripherie von Lyon. Hier eine Grillparty, dort ein Fussballspiel oder Jugendliche, die Mopedrennen veranstalten und Geschäfte, sowie einige Bars, die in der Nacht geöffnet bleiben. Den Polizeikräften habe man zu verstehen gegeben, nicht so genau hinzuschauen, heisst es.
Die Bürgermeisterin der Lyoner Vorstadt Venissieux war am Wochenende über das Verhalten ihrer Mitbürger so verzweifelt, dass sie – wie ein Krankenhausarzt jüngst im nordöstlichen Pariser Vorort Bobigny – den Einsatz der Armee gefordert hat. Dazu wird es nicht kommen. Laut eines Artikels der Wochenzeitung «Canard Enchainé» vom Mittwoch letzter Woche, der nicht dementiert wurde, hat der Staatssekretär im Innenministerium schon am Tag nach Beginn der Ausgangssperre, am 18. März, gegenüber mehreren Präfekten erklärt, in den Problemvororten habe «die strikte Einhaltung der Ausgangssperre keine Priorität».
Einer der Präfekten verstieg sich sogar zu der Aussage, die nachts illegal geöffneten Geschäfte spielten in den Vorstadtghettos eine Art soziale Vermittlerrolle. Und generell gilt die Devise, Konfrontationen zwischen Ordnungskräften und Jugendlichen so weit wie möglich vermeiden und alles tun, damit es in den Vorstädten nicht zu Aufständen kommt. Am Ende der Krise wird man sehen, welche Auswirkungen dieses Verhalten der Bewohner und das Nachgeben der Autoritäten in den Vororten Frankreichs gehabt haben wird.
Europa – eine Peinlichkeit
Gewiss, gewiss. Kliniken in Deutschland, in Luxemburg und der Schweiz pflegen inzwischen schwerkranke Coronapatienten aus Frankreich, die zum Teil sogar von Maschinen der deutschen Luftwaffe von Frankreich aus über die Grenze befördert worden sind. Und Präsident Macron hat das auch sofort als blendendes Beispiel für den europäischen Geist und europäische Solidarität hervorgehoben. Das mag gut fürs Image sein, im Grunde aber ist es Peanuts. Grosse und wichtige Projekte, um gemeinsam über die Coronakrise hinweg und aus ihr wieder herauszukommen? Fehlanzeige.
Da war zunächst der beschämende EU-Gipfel per Videokonferenz am 17. März, am Tag, als in Frankreich die Ausgangssperre in Kraft trat. Das einzige, was der Europäische Rat an diesem Tag zustande brachte, war der Beschluss, die EU-Aussengrenzen zu schliessen. Wozu das, durfte man sich fragen, wo Europa doch gerade selbst zum Epizentrum der Pandemie wurde? Welch grossartige Strategie der grossen Europäischen Union, um der sich ausbreitenden Epidemie gemeinsam zu begegnen!
Corona-Bonds
Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Die Staats- und Regierungschefs von neun Staaten, darunter Frankreich, Italien, Spanien und Portugal, hatten vor dem Gipfel einen Brief an den Präsidenten der EU, den Belgier Charles Michel gerichtet, in dem sie für die Ausgabe von Corona-Bonds plädierten, also für die Vergemeinschaftung künftiger Schulden, um die kommende Rezession und Wirtschaftskrise zu überwinden. Doch auf dem Gipfel per Videokonferenz am 27. März kam es zum Eklat.
Auch wenn die Krise durch die Pandemie noch weit schlimmer sein wird als die Finanzkrise nach 2008, stellen sich wieder dieselben Länder stur, wie schon 2010 im Lauf der Griechenlandkrise, allen voran Deutschland und Angela Merkel. Die deutsche Kanzlerin, die jüngst von der grössten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg sprach, dabei aber offensichtlich nur an Deutschland und nicht an Europa dachte, machte unmissverständlich klar, dass das reichste Land Europas nicht daran denke, bei den Corona- Bonds mitzuspielen und scheut sich offensichtlich nicht vor einem Griechenland-Remake.
Ihr niederländischer Kollege wagte es dann gar, Italien und Spanien Egoismus vorzuwerfen, anders gesagt, sie würden ja nur die Gelegenheit nutzen wollen, die Zügel bei der Budgetdisziplin wieder schleifen zu lassen – als sei das angesichts der Pandemie jetzt die grösste Sorge.
Und der smarte österreichische Bundeskanzler, Sebastian Kurz, gab zu Protokoll, man müsse alles tun, um Corona-Bonds zu verhindern. Italiens Ex-Premier Letta nannte diese Haltung verantwortungslos, Portugals Premier die Bemerkung der Niederländer abstossend und Ex-Kommissionschef Romano Prodi fragte, was das denn für ein Europa sei, wenn es selbst angesichts einer Pandemie keine Solidarität gäbe, niederländische Finanzminister habe er schon zu seiner Zeit stets als Alptraum empfunden.
EU in Lebensgefahr
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Lage in der EU extrem ernst ist und man vielleicht zu den Todesopfern des Coronavirus auch bald schon die Europäische Union wird zählen müssen, so hat ihn kein geringerer als Jacques Delors geliefert, der legendäre Kommissionspräsident der 80er und 90er Jahre. Mit seinen stolzen 94 Jahren hat er sich entgegen seiner Gewohnheiten dieser Tage zu Wort gemeldet und den Verantwortlichen der 27 Mitgliedsstaaten eingehämmert: «Das Klima, das unter den Staats- und Regierungschefs derzeit zu herrschen scheint und der Mangel an europäischer Solidarität bringen die Europäische Union in Lebensgefahr.»
Auch Deutschlands ehemaliger Wirtschaftsminister, Vizekanzler und früherer SPD-Vorsitzender, Sigmar Gabriel, fand dieser Tage überdeutliche und scharfe Worte. Kanzlerin Merkel schrieb er ins Stammbuch: «Die EU ist eine Schönwetterunion. In der grössten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung versagt sie bisher vollständig. Das Schlimmste war am Anfang, als selbst wir Deutschen und auch die Franzosen nicht bereit waren, dorthin, wo die Menschen schon reihenweise umfielen, nämlich nach Norditalien, Hilfsmittel zu liefern. Das werden uns die Italiener, glaube ich, lange nicht vergessen. Dass jetzt Finanzminister und Regierungschefs einiger Länder nicht bereit sind, Italien und Spanien zu helfen, ist unfassbar, das kann am Ende grösseren Schaden anrichten als das Virus selber. Sogar Wirtschaftswissenschaftler, die traditionell gegen eine gemeinschaftliche Verschuldung sind, sind nun alle für Corona-Bonds. Weil sie schlicht wissen, dass Italien und Spanien neue Schulden alleine nicht tragen können. Wäre es denn so dramatisch gewesen, wenn z. B. Deutschland jetzt statt 156 Milliarden Euro an neuen Schulden 166 Milliarden aufgenommen hätte und dann 10 Milliarden den Italienern und den Spaniern als Ersthilfe zur Verfügung gestellt hätte? Die beiden Länder hätten es uns vermutlich hundert Jahre gedankt. So aber werden sie sich daran erinnern, dass nicht ihre Nachbarvölker ihnen geholfen haben, sondern die Chinesen.»
Man möchte heulen, wenn man im Angesicht der Engstirnigkeiten von Merkel, Kurz und Co. heute die Zeilen liest, die ein Victor Hugo vor über 150 Jahren geschrieben hat: «Aus der Gemeinsamkeit der Freiheiten in der Brüderlichkeit unter den Völkern wird eine Seelenverwandtschaft entstehen, der Keim einer immensen Zukunft, in der für die Menschheit ein universelles Leben beginnt, welches man den Frieden von Europa nennen wird.»