Der erste Eindruck: Von oben kommen Seifenblasen. Wer zur Türe reinkommt, wird etwas feucht begrüsst, dazu setzt klassische Musik ein. Irgendwo da oben ist eine kleine Maschine, die jeden Besucher mit diesem Mechanismus empfängt.
Das Haus am Zürcher Sihlquai 252 nennt sich „Stoks Theatermuseum“. Es ist treppauf, treppab bevölkert von Masken, Puppen, Theaterkostümen und Requisiten, die dem Besucher von einem halben Jahrhundert Bühnenschaffen erzählen. Man kommt sich ein wenig vor wie Alice im Wunderland. Es gruselt einem ein bisschen in diesem Geisterhaus.
„Man hat einfach nichts weggeworfen, man hat das meiste behalten“, sagt Peter Doppelfeld, Viele Requisiten, Kleider und Masken könne man ändern oder übermalen und für neue Stücke wieder verwenden. Doppelfeld hat seit 1992 am Theater Stok gearbeitet, seit 2016 leitet er es.
Im April 2020 wird im Stadtarchiv am Neumarkt eine Ausstellung eröffnet: „50 Jahre Theater Stok“. Das Theater befindet sich in der Altstadt am Hirschengraben, das Museum dagegen am Sihlquai, wo die ehemalige Eisenbahnbrücke über den Fluss geht. Christina Steybe, die Partnerin von Peter Doppelfeld, organisiert die Ausstellung. Die beiden servieren mir Kaffee, und wir reden zunächst über gröbere Sorgen:
„Wir haben Angst, dass das Stok in zwei Jahren keine Subventionen mehr bekommen wird“, sagt er. Und sie fügt hinzu: „Ich denke, diejenigen, die diese Drohkulisse haben, das sind die kleinen Zürcher Theater wie Stadelhofen, Keller 62, Sogar-Theater oder das Stok. Zwei oder drei von ihnen müssen damit rechnen, dass ihnen Fördermittel gestrichen werden.“
Die Stadt geht über die Bücher
Unter Einbezug einer ausländischen Consultingfirma hat das Präsidialdepartement zwei Jahre lang kulturelle Inventur gemacht. „Eine neue Tanz- und Theaterlandschaft Zürich“ heisst das Projekt. Die betroffenen kleinen und grossen Bühnen waren zu Workshops eingeladen, sie sollten gehört werden und ihre Meinung sagen. Es geht verlautbarungsgemäss um Innnovation, neue Ideen, mehr kulturelle Vielfalt, bessere Vernetzung, neue Chancen und andere schöne Ziele. Es geht vor allem aber auch um eines: um Kassensturz.
Die Bestandsaufnahme ergab: Das Budget wird nicht viel verkleinert, aber das Geld wird anders verteilt. Die grossen Häuser müssen nichts befürchten, ihre Förderung ist durch Volksabstimmung abgesichert, man wird ihnen schlimmstenfall ein klein wenig abzwacken an den Fördermitteln. Die Kleinen aber müssen zittern. Denn im Abschlussbericht des Kulturprojektes ist schwarz auf weiss in einwandfreiem Administrativ-Deutsch zu lesen:
„Das neue Fördersystem führt zu einer Konzentration und gleichzeitig Stärkung der Institutionslandschaft. Es werden zukünftig tendenziell weniger Institutionen unterstützt, dafür diese besser gefördert.“
„Man hat alles selber gemacht, weil kein Geld da war“
Peter Doppelfelds Grosseltern waren aus Köln. Aber er ist aufgewachsen in der Schweiz:
„Ich komme nicht aus einem Umfeld, das sich irgendwie für die Künste interessierte. Meine Familie, das sind Handwerker, Kaufleute, nichts mit Kunst. Die Wurzeln bis tief hinunter, das weiss man ja nicht. Aber ich bin schon als Teenager ins Theater. Mit der Mamá und ein paar Leuten aus der Nachbarschaft ging man ins Theater. Nach Zürich, aber auch nach Baden.
Ich weiss noch genau: 1976, mit 17, bin ich erstmals ins Theater Stok gekommen. Ich habe mich damals für Beckett-Stücke interessiert, und ich schlage die Zeitung auf und sehe: Da wird ein Beckett gespielt, Glückliche Tage. Und da bin ich das erste Mal ins Theater Stok. Und das war auch die erste Begegnung mit Erica Hännsler und dem Theater Stok.“
Die Schauspielerin Erica Hännsler führte zusammen mit dem polnischen Regisseur Zbigniew Stok ab 1970 das nach ihm benannnte Kammertheater Stok am Hirschengraben. Erica Hännsler und Zbigniew Stok sind Legende in der Zürcher Theaterszene.
Der Beginn war geprägt von Armut und dem Durchhaltevermögen eines polnischen Emigranten. Zbigniew Stok hatte sich in den Kopf gesetzt, ein anderes Theater zu machen: nahe beim Publikum, mitten unter den Leuten sozusagen. Er fand am Hirschengraben 42 im „Haus zum Chrönli“ ein heruntergekommenes Kellergewölbe, in dem die Stadtpolizei gefundene und gestohlene Fahrräder unterbrachte. Und als er sein Projekt der Präsidialabteilung vorstellte, fragte man ihn: „Mit welchem Kapital wollen Sie denn hier in Zürich ein Theater gründen?“ Er antwortete: „Mit meinem Talent.“
Ein wenig Starthilfe kam von einem Komitee, zu dem Schwergewichte wie Stadpräsident Emil Landolt, Adolf Muschg, Lilian Uchtenhagen und Hans Winkler von der Schweizer Bankgesellschaft gehörten. Anfangs gab es noch Ensemble-Inszenierungen mit Stücken von Sartre, Camus, Ionesco oder Beckett. Doch bald war kein Geld mehr da für eine feste Schauspieltruppe. Darum begann Erica Hännsler, die Literatur nach Stoffen zu durchforsten, die man für Solostücke bearbeiten konnte. Das ging von Van Gogh, Heinrich Heine, Else Lasker-Schüler bis hin zu Christian Morgenstern, Karl Kraus oder Erich Kästner.
Mit städtischen Subventionen sah es schlecht aus. Da kam einer aus Polen, kein lautstarker Dissident, sondern möglicherweise sogar ein Linker. Der sollte sich die Förderung erst mal verdienen, erinnert sich Peter Doppelfeld:
„Der Herr Widmer war damals Stadtpräsident, und als man nach Subventionen fragte, da hat er gesagt, da müsste sich einer erst mal zehn Jahre lang bewerben, bevor an Subventionen zu denken sei. 1986 wurde dann ein Förderverein gegründet, und auf ein Gesuch hin hat das Stok erstmals städtische Subventionen bekommen. Über die ganzen Jahre bis heute war das immer nur ein Sockelbeitrag. Sie nennen das nicht so, aber ich nenne es so, es ist immer nur ein Minimalbeitrag.“
Im laufenden Jahr bekommt das Stok rund 109’000 Franken. Doppelfeld sieht davon aber nur 30’000, der Rest fliesst in den Mietzins für die Räume. Das Stok hat aber zum Glück noch zusätzliche Einnahmen von den freien Gruppen, die die Räume für Events und Aufführungen mieten. Das Theater Winkelwiese erhält rund 770’000 Franken an Fördermitteln.
Ein Zwei-Personen-Theater
Das Stok war ab Mitte der siebziger Jahre ein Zwei-Personen-Theater, oft nur ein Ein-Personen-Theater, und das ist bis heute so. Damals standen meist Zbigniew Stok und Erica Hänssler auf der Bühne. Nach dem Tod von Zbigniew 1990 war es Peter Doppelfeld, der mit Erica Hännsler auftrat. 2016 starb sie, und seither ist Peter Doppelfeld gleichzeitig Schauspieler und Leiter des Theaters.
„Stok konnte zwar Deutsch“, erinnert sich Doppelfeld, „aber das Herstellen eines Bühnentextes, das hat alles Erica gemacht. Und alles weitere, was handwerklich dazu gehört: Requisiten, Kostüme, Masken, alles hat sie selber gemacht. Aus der Not mach eine Tugend, wie man so sagt. Es war kein Geld vorhanden, also mach es selber.“
In der Broschüre zu der Ausstellung „50 Jahre Theater Stok“ schreibt Christina Steybe: „Angestellte hatten sie nicht: Vom ersten Buchstaben der Stücke bis zum letzten Satz auf der Bühne, vom ersten Plakatieren vor der Tür bis zum Entkorken des Rotweins nach der Vorstellung, vom telefonischen Vorverkauf bis zur Jahresabrechnung lag der komplette Betrieb in ihren Köpfen und Händen.“
Eine Jury wird künftig entscheiden
Daniel Imboden, Ressortleiter Theater im Präsidialdepartement, wehrt sich gegen den Verdacht, die Stadt wolle den Theaterleuten den Geldhahn zudrehen: „Es geht überhaupt nicht darum, dass wir sagen: Wir möchten eines von diesen Theatern loswerden.“ Man habe für die kleineren Bühnen einen Rahmenkredit von sechs Millionen Franken budgetiert. Das müsse noch durch den Gemeinderat und – wegen der Grösse des wiederkehrenden Betrages – im nächsten Mai vor eine Volksabstimmung.
Neu ist aber, dass das System der Förderung geändert wird, und da sagt Imboden: „Die Angstgefühle oder den Unsicherheitsfaktor in den Häusern, das kann ich gut nachvollziehen. Bei dem neuen System mit dem Namen Konzeptförderung kann es sowohl Gewinner als auch Verlierer geben.“
Denn künftig müssen die kleineren Theater Konzepte vorlegen, und eine Jury von sieben Expertinnen und Experten wird alle sechs Jahre auf Grund dieser Konzepte entscheiden, wer wieviel Geld bekommt oder wer nichts mehr kriegt.
Bislang war alles einfacher. Zu der Gruppe der kleineren Bühnen gehören Winkelwiese, Rigiblick, Stadelhofen, Zürich tanzt, Miller’s, Theater Hora, sogar theater, Theater Purpur, Theater Stok, Theater Keller 62. Diese in den siebziger und achtziger Jahren gegründeten Theater erhielten traditionell einen Förderbetrag, der alle vier Jahre durch den Gemeinderat bestätigt werden musste.
Das sei eine stark verkrustete Sache gewesen, sagt Imboden: „Also die Chance für Leute, die sich neu gründen oder versuchen, da rein zu kommen, ist extrem klein. Weil natürlich die Politik nicht zu Unrecht sagt: Jetzt ist mal ein Plafond erreicht (...) Es geht uns nicht darum, weniger Theater zu haben , aber wir wollen auch nicht mehr. Denn es gibt eine gewisse Sättigung im Angebot, das ist einfach so in Zürich.“
Die Prognose lautete nun: Der Kuchen wird unter den zehn Kleinen anders verteilt. Einige Theater, wie Winkelwiese oder Stadelhofen, stünden finanziell gut da, sagt Imboden, sie hätten daher vielleicht etwas zu verlieren. Andere, wie das Theater Stok, hätten vielleicht sogar die Chance, mehr Fördergeld zu bekommen. Das neue Fördersystem verfolge das Ziel „ dass man die, die man fördert, besser fördert.“
Amour fou: Antoine de Saint-Exupéry und Consuelo
Das kleine Theater Stok im Kellerraum am Hirschengraben ist heute noch so bescheiden, wie es Anfang der siebziger Jahre konzipiert wurde und wie es Erica Hännsler selbst beschrieben hat:
„Man steigt eine Anzahl steiler Stufen hinab, und schon steht man auf der Bühne. Das heisst, Spielfläche, Zuschauerraum, Foyer, Garderobe, das ist hier alles eins. Schauspieler und Publikum begegnen sich ungeschützt. Es gibt weder Souffleur noch Orchestergraben, weder Kulissen noch Vorhang (...) Das Publikum soll vom hautnah auf der Spielfläche Geschehenden bewegt werden. Es soll durch den Schauspieler, der sich ihm unmittelbar und direkt ausliefert und mit ihm Raum und Zeit teilt, der Mitteilung gewahr werden.“
Im vergangenen September wurde die Eigenproduktion „Ich verheddere mich in der Liebe“ aufgeführt. Das Stück erzählt vom Liebesdrama zwischen Antoine de Saint-Eupéry und seiner Ehefrau, der Salvadorianerin Consuelo de Saint-Exupéry.
Da tönt im Dunklen der Motor einer Propellermaschine, und dann sieht man plötzlich im Schweinwerferlicht auf der Bühne Antoine (Peter Doppelfeld), bekleidet mit Schutzbrille und Fliegerkappe. Consuelo (Diane Gemsch) nähert sich leichtfüssig tanzend, und Antoine sagt: „Küssen Sie mich, oder ich lasse die Maschine abstürzen.“ Consuelo sagt: „Ergattern Sie auf diese Weise Küsse von Frauen? Bei mir funktioniert das nicht. Ich habe genug von diesem Flug.“
Dann stottert der Motor und verstummt. Der Pilot sagt, man stürze jetzt ab, und die Frau entgegnet, es sei ihr ziemlich gleich. Antoine stellt den Motor wieder an und sagt: „Ich weiss, Sie küssen mich nicht, weil, ich zu hässlich bin.“
In der Schlussszene hilft Consuelo Antoine beim Anlegen des Pilotenanzugs und sagt:
„Mein Mann in New York ist Schriftsteller und Pilot. Vielleicht haben Sie von ihm gehört: Er heisst Antoine de Saint-Exupéry. Mein Mann erträgt die Hitze nicht mehr. Sie wissen, dass er mehrere Unfälle hatte. Er kann nicht einmal mehr mit dem Fallschirm abspringen, weil sein Ellbogen nicht vollständig verheilt ist. Er leidet unter Rheuma und daran, dreiundvierzig Jahre alt zu sein. Man findet, er sei zu alt, um am Luftkrieg teilzunehmen.“
Für die Rolle der Consuelo habe man eine Frau gesucht, die vor allem Tänzerin sei, nicht nur Schaupielerin, sagt Peter Doppelfeld. Sie fanden dann Diane Gemsch, die ihre Rolle nicht nur spricht, sondern mit dem Piloten auch tänzerisch durch Höhen und Tiefen einer Liebe fliegt – bis zum Absturz.
Die Puppen seien „antigrav“, schrieb Heinrich von Kleist in seinem berühmten Text über das Marionettentheater: „Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, grösser ist, als jene, die sie an der Erde fesselte.“
Es ist zu hoffen, dass auch die kleinen Zürcher Theater „antigrav“ sind und mit ihrer Kreativität jene Kraft entwickeln, „die sie in die Lüfte erhebt“. Und dass diese Kraft künftig gross genug ist, um die Jury zu überzeugen.