Wir tragen Kleider. Wir tragen sie als Schutz, Schmuck, Statussymbol, Lockmittel, Appell, Code, Selbstausdruck, Identitätsfutteral, Zugehörigkeitsausweis. Und wir tragen sie zunehmend als Technik, als „Wearable“.
Einfühlsame Büstenhalter
Auf den einschlägigen Markt gelangen heute Produkte wie smarte Socken für Babys, welche deren Herzfrequenz und Atemrhythmus kontrollieren; Handschuhe, mit denen man telefonieren kann, Jacken, die filmen; Büstenhalter, die daran erinnern, dass man sich gerade halten soll, oder die sich nur öffnen lassen, wenn ihre Sensoren wahre Gefühle der Trägerin registrieren. Der Phantasie der Designer sind kaum Grenzen gesetzt.
Was wir an diesen digitalen Prêt-à-porters beobachten, ist eigentlich der vorläufige Endpunkt einer langen Koevolution von Mensch und Textil. Kleider sind seit alters her Technologien zwischen Mensch und Natur, eine Art von künstlichem Fell oder Gefieder, ursprünglich zum Schutz vor den Unbilden der Umwelt gedacht und gefertigt. Der Mensch: Das ist eben nicht der nackte, sondern der bekleidete Affe. Und seine ganze zivilisatorische Entwicklung folgt dem Gradienten der Bekleidung. Textilherstellung ist eine Kunst – eine „techne“. Technikgeschichte ist zu einem grossen Teil Textilgeschichte.
Das Zeitalter der Textilotronik
Wir reden ständig von der digitalen Technologie. Das Prinzip dieser Technologie ist freilich bereits in der neueren Textilherstellung verwirklicht. Das Grundmuster des Webens manifestiert einen binären Charakter. Man verknüpft zwei Fadensysteme miteinander: Kette und Schuss. Die Kettenfäden werden straff gespannt, und rechtwinklig dazu führt man nun den Schussfaden schlängelnd einmal oben, dann unten durch. Das entspricht dem Ein-Aus des Schaltkreises, dem Null-Eins der binären Zahlenbasis. Die Führung des Fadens kann automatisert werden, und schon früh geschah dies durch Lochkarten bei den Jacquard-Webstühlen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die „Software“ fand also vor dem Computer ihre Anwendung in der Textilindustrie.
Heute experimentiert Google im sogenannten „Jacquard-Projekt“ mit einem Gewebe aus intelligenten Fasern. Der Advent des intelligenten Materials – also auch des Textils – steht bevor. Die Wearables wissen das Mooresche Gesetz auf ihrer Seite, wonach sich die Schaltkreise immer verkleinern und folgedessen en miniature auch in Mikrofasern integriert werden können. Wir treten ein ins Zeitalter der Textilotronik. Google wolle nicht ins Bekleidungsgeschäft einsteigen, betont Ivan Poupyrev, Leiter des Jacquard-Projekts: „In Zukunft sollte an Wearables nicht als an ein weiteres Konsumgerät gedacht werden. Wir haben bereits Stoffe, wir haben bereits Kleider. Warum brauchst du ein Armband, das deine Schrittzahl oder deinen Puls misst, wenn dein Hemd oder deine Schuhe das akkurater tun?“
Das Internet der Kleider
Es gibt das Internet der Dinge. Logisch, dass darin das Internet der Kleider seinen Platz findet. Modedesign und Elektronikdesign werden wahrscheinlich auf gar nicht so lange Sicht konvergieren. Nachrichtenquelle als Kapuze, Smartphone als Norwegerpulli, GPS als Hemdkragen. Auf den ersten Blick machen viele Tätigkeitsbereiche eine solche digitale Montur durchaus plausibel. Es gibt sie schon im Sport.
Eine andere naheliegende Zielgruppe sind beispielsweise Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Am Design Research Lab der Berliner Universität der Künste wurde ein kommunizierender Handschuh entwickelt. Textile Drucksensoren ermöglichen es taubblinden Benutzern, Textnachrichten zu erstellen, die sich automatisch an Handys oder Computer verschicken lassen. Mit Hilfe kleiner vibrierender Motoren auf der Rückseite des Handschuhs kann der Benutzer empfangene Nachrichten vibrotaktil wahrnehmen. Ein Bluetooth Modul regelt den Datentransfer zwischen Handschuh und Smartphone. Das Senden von SMS-Nachrichten wird somit ebenso möglich wie gemeinsames „Chatten“ oder das „Erspüren“ von Hörbüchern.
Technik erfindet den Menschen als Mängelwesen
Wunderbare Technik – für Taubblinde wohlgemerkt! Was Technikdesigner nun trotzdem zum Schluss verlockt: Was dem Behinderten recht, kann dem Nicht-Behinderten nur billig sein. Die alte These von Arnold Gehlen, der Mensch erfinde Technik, weil er ein Mängelwesen sei, erfährt eine Umkehrung: Die Technik „erfindet“ den Menschen als Mängelwesen. Designer wie Poupyrev sehen die eigentliche Herausforderung deshalb in der Anthropologie.
Man möchte herausfinden, was die Leute wollen, sagt Poupyrev: „Es ist wirklich ein Designproblem – Design und kulturelles Verständnis.“ Das klingt gut, verschweigt aber den eigentlichen Zweck des Designs und Verständnisses, nämlich die Anbindung des Menschen via Mode an die Technik. „Was die Leute wollen“ heisst im Klartext: Was Google den Leuten einredet, es zu wollen. Man designt Bedürfnisse. Gerade das vernetzte Textil akzentuiert dies. Wenn sich die neuen Kleider-qua-Technikentwerfer um menschliche Bedürfnisse kümmern, dann besteht Anlass zur Vermutung, dass sie primär nicht auf Anwendungsbedarf des Nutzers abzielen, sondern diesen Bedarf überhaupt erst schaffen. Das smarte Garn umgarnt uns buchstäblich.
Das neue Textil wird „einhüllender“
Ein Sonnenhut ist Technologie zwischen mir und der Sonnenstrahlung. Aber wenn er mit der nötigen textilen Elektronik zum smarten Sonnenhut aufgerüstet wird, ist er mehr, nämlich eine Schnittstelle zwischen mir und dem ganzen künstlichen Informationsraum, in dem ich heute lebe und an den mich die Technologie anschliesst. Der Hut bietet mir jetzt nicht nur Schutz vor der Strahlung, sondern liefert mir Informationen über die Strahlung, und er übermittelt diese Information womöglich an andere textile Geräte, die ich trage – vielleicht übermittelt er sie auch weiter, dann bedürfte ich allerdings eines andern Schutzes ... Technik wird also immer „einhüllender“ – und zwar in einem tiefgreifenderen Mass als das traditionelle Textil.
Die Konsequenzen sind noch kaum abzuschätzen. Immerhin lassen sich schon jetzt Tendenzen ausmachen, die wir zeitig genug bedenken sollten. Ich beschränke mich hier auf zwei:
Enhancement und Augmentation
Wir stehen erstens am Anfang einer neuartigen Koevolution von Mensch und Technik. Wenn Designer von „Verbesserungen“ reden, dann muss man mindestens zwei Bedeutungen strikt auseinander halten. Es gibt Verbesserung durch die Verstärkung bestimmter Funktionen und Fähigkeiten: Enhancement. Es gibt aber auch und vermehrt Verbesserung durch Erweiterung: Augmentation. Die Brille ist Enhancement; Google Glass ist Augmentation. Die sogenannte „augmented reality“ ist eine Realität, in der die Geräte selbst zu agieren und untereinander zu kommunizieren beginnen.
Genau dies meint auch Poupyrev, wenn er sagt: „Wann immer du dein Smartphone in deine Tasche steckst, hast du eine smarte Tasche ... das einzige Problem ist, dass sie nicht miteinander sprechen. Es gibt keine Verbindung zwischen ihnen. Unsere Arbeit schliesst diese Lücke.“ Was also, wenn das smarte Textil weiss, dass man sich anzieht, und, sobald man die Krawatte knüpft, ein Uber-Taxi bestellt? Was, wenn die Laufschuhe automatisch das Fitnessprogramm starten, sobald man sie bindet? Seit 2006 kommunizieren Nike-Turnschuhe und iPods.
Wer entscheidet eigentlich?
Die zunehmende Autonomie des Artefakts impliziert zweitens einen fundamentalen Wandel unseres Selbstverständnisses. Zur Frage steht jetzt nämlich, was es bedeutet, ein selbständig entscheidender menschlicher Akteur zu sein. Wenn wir von interaktiver Technologie reden, denken wir üblicherweise vom Akteur Mensch her. Aber mit der technischen Augmentation wird man auch autonomen Artefakten einen gewissen Akteurstatus zubilligen müssen. Nicht nur der Mensch, sondern auch die Geräte handeln.
Diese These des Wissenschaftssoziologen Bruno Latour führt zu einem Blickwechsel: Mensch und Technik lassen sich nicht als völlig separierbares Paar denken. Schon der Homo habilis, der im Pleistozän mit seinem Faustkeil die Gegend durchstreifte, lebte in „Symbiose“ mit dem Werkzeug. Es leitete seinen Blick auf die Dinge, es prägte seine Intentionalität. Ein Mensch mit Handy ist nicht einfach ein Mensch, der ein Handy benutzt. Das Handy „benutzt“ auch ihn. Beide überlagern sich zu einem verschränkten System, in welchem der Mensch – wohl oder übel – nicht der alleinige Beabsichtiger und Entscheider ist.
Der Mensch als Accessoire
Wenn Geräte mit Geräten kurzgeschlossen werden, mutiert der Mensch zu einer Art von Schnittstellenwesen. Mit den neuen Kleidern nimmt das Leben online seine eigene Zwitterform an. Wir sind nun quasi textil und informationell bekleidet. Wir werden zu „Inforgs“, wie der Philosoph Luciano Floridi diese neue Gattung nennt: Organismen, die in ihrem Funktionieren immer mehr von Informationen abhängen.
Das evoziert schnell utopische wie dystopische Szenarien; Szenarien einer von allen Beschränkungen befreiten wie einer total kontrollierten Existenz. Auch wenn sie in ihrem Extremismus kaum ernst zu nehmen sind, sollten wir sie als Herausforderung des Menschenbildes ansehen. Worüber wir uns klar werden müssen, ist, dass mit dem Internet der Kleider eine Lebensform Gestalt annimmt, in der Mensch und Artefakt eine neuartige Allianz eingehen. Und so zeichnet sich in der Textilotronik eine „Revolution“ ab: Wir tragen unsere neuen Kleider nicht, die Kleider beginnen, uns zu „tragen“. Der Mensch wird zum Accessoire seiner Kleidung.