Gottfried Kellers grosser Roman ‚Der Grüne Heinrich‘ setzt mit einer Beschreibung des Dorffriedhofs ein: «Der kleine Gottesacker besteht in seiner Erde buchstäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter; es ist unmöglich, dass bis zur Tiefe von zehn Fuss ein Körnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch den menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat. Doch ich übertreibe und vergesse die vier Tannenbretter, welche jedesmal mit in die Erde kommen und den ebenso alten Riesengeschlechtern auf den grünen Bergen ringsherum entstammen; ich vergesse ebenfalls die derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden, welche auf diesen Fluren wuchs, gesponnen und gebleicht wurde, und also so gut zur Familie gehört und nicht hindert, dass die Erde unseres Kirchhofes so schön kühl und schwarz sei, als irgend eine. Es wächst auch das grünste Gras darauf, und die Rosen nebst dem Jasmin wuchern in göttlicher Unordnung und Überfülle, sodass nicht einzelne Stäudlein auf ein frisches Grab gesetzt, sondern das Gras muss in den Blumenwald hineingehauen werden, und nur der Totengräber kennt genau die Grenze in diesem Wirrsal.»
Ich hatte in diesem Schweizer Sommer reichlich Gelegenheit, Friedhöfe zu besuchen. Ich tue es jedes Jahr, wenn ich zurückkehre, um mich zu vergewissern, wer im vergangenen Winter verstorben ist. Heuer ballte sich die übliche vage Trauer zu einem Klumpen zusammen. Zwei mir nahestehende Cousins waren kurz hintereinander verschieden, und die geografische Distanz hatte mir die schiere Machtlosigkeit vor dem Tod noch tiefer eingeprägt. Dann starb, mitten im schönsten Sommer, ein enger Freund mit seinem Sohn bei einem Bergunfall. Ihr Sturz aus dieser Welt, und das Loch, das er in ihre engste Familie riss, hat mich erschüttert.
Waren es diese Umstände, die mich heuer öfter als sonst zu kurzen Friedhofsbesuchen drängten, auch wenn ich niemanden dort kannte? Jedenfalls liessen sie mich aufhorchen, als ich bei Keller auf die zitierte Passage stiess. «Göttliche Unordnung und Überfülle»? Allein das Wortpaar bewegte mich zu einem sauren Lächeln. Denn «göttlich» ist heute nicht mehr das Wirrsal, sondern offenbar die langweilige Ästhetik der Symmetrie. Im Goms sieht nun bald jeder Dorffriedhof wie einer dieser Soldatenfriedhöfe in Frankreich aus, schnurgerade ausgerichtet, uniform die Kreuze, die Wege weisse Kies-Spaliere, die Begonien so kommun, dass sie bereits Friedhofsbegonien heissen.
Selbst der Friedhof von Soglio sehe heute so aus, klagte mir eine Freundin. Früher hätten dort noch Rosenbüsche geblüht, darunter die schwarze Kreisler Imperial. Ein deutscher Freund sei jeden Sommer in die Bündner hingereist, um sie zu fotografieren. Dieses Jahr kann er es bleibenlassen.
Die einzige Unordnung in diesen Friedhöfen kommt von der Redimensionierung der Gräber. Statt wie früher zwei Meter messen sie heute weniger als die Hälfte, gross genug, um eine Urne aufzunehmen. Im Friedhof von Fiesch wurden diesen Sommer die neuen Spaliere eingezogen. Er glich einer Baustelle, mitsamt der pietätlosen Warntafel: «Abfälle ablagern verboten». Daneben grub eine Frau ein Grab um, um die Tagetes durch Begonien zu ersetzen. «Die Tagetes stinken wie die Hoffart», sagte sie grimmig.
Frauen, die ein Grab bewässern oder jäten gehörten zum Alltagsbild meiner Jugend. Einmal die Woche ging meine Grossmutter «aufs Grab» zum Blumenwässern, und es war Brauch, nach der Morgenmesse einem Verstorbenen «das Weihwasser zu geben». Es war auch eine Zeit, in der man fast nie aus der offiziellen Trauer um einen Toten herauskam. Ich fragte meine Mutter einmal, warum die Frauen immer schwarze Kleider trügen. Die Trauerzeit dauert so lange, erklärte sie, dass die meisten Frauen ihre schwarzen Kleider gar nie versorgen können, bevor der Nächste stirbt. Trauerschwarz wurde ja selbst beim Tod entfernter Verwandter getragen, manchmal ein Jahr lang. Und bis in die Fünfziger Jahre wurde eben noch viel häufiger gestorben.
Mit der Einäscherung als der bevorzugten Begräbnisform hat sich auch der Staat immer mehr als Mittler zwischen Tote und Lebende geschoben. Heute gibt es selbst im Goms ein kommunales «Gräber-Management», die Verstorbenen werden kaum noch zuhause aufgebahrt, und die Einäscherung ist ein depersonalisierter Vorgang. In der NZZ las ich, dass im Nordheim-Krematorium der Stadt Zürich praktisch alle Verstorbenen ohne Beisein der Angehörigen eingeäschert werden. Nur bei den Tamilen seien jeweils Familienangehörige dabei, es würden Abschiedsgebete gesprochen, und meist bestünden sie darauf, selbst den Knopf zu drücken, der den Verbrennungsprozess einleitet.
Heisst dies alles, dass mit der Säkularisierung unserer Gesellschaft auch der Tod ein blosser Rite de Passage geworden ist, und dass wir – in unserer Obsession mit Jugendlichkeit, Schönheit, Arbeit, Erlebnishunger – nicht mehr zu echtem Trauern fähig sind? Wenn es eines Gegenbeweises bedurfte, dann fand ich ihn beim Begräbnis meiner beiden Freunde, Vater und Sohn. Als wir uns um das Grab versammelten, verblasste plötzlich die Kontrastfolie der farbsprühenden Gartenanlage des Friedhofs hoch über der Stadt Zug mit Blick auf See und Berge. Die Gesprächigkeit beim Zusammentreffen vieler Freunde erlosch, und es brach sich eine Trauer Bahn, die ins Mark ging.
Später erkannte ich, dass uns dieser Tod auch deshalb so naheging, weil er «zur Unzeit» eintrat, als er diesen jugendlichen Frühpensionär und seinen 25-jährigen Sohn aus ihrer – und unserer – Lebensmitte riss. Es war wie vor fünfzig Jahren, als noch Säuglinge sterben mussten, Mütter im Kindsbett dahingerafft wurden, Männer bei Arbeitsunfällen oder wegen Alkoholgenusses umkamen: Man trauerte über einen zu frühen Tod. Ich realisierte, dass unsere relative Abgeklärtheit bei einer grossen Mehrheit der Sterbefälle nicht «Unfähigkeit zum Trauern» ist; vielmehr konnten die Verstorbenen ein hohes Alter erreichen, in dem sich der weitgespannte Bogen ihres Lebens ganz natürlich seinem Horizont nähert und darin versinkt.
Ich verdanke diese Einsicht den zwei Büchern des – pensionierten – HSG-Professors Peter Gross, «Glücksfall Alter» und «Wir werden älter. Vielen Dank. Aber Wozu?». Gross‘ These: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte muss eine grosse Mehrheit der westlichen Bevölkerungen nicht mehr eines frühen Todes sterben. Sie kann damit ein Privileg geniessen, das früher nur wenigen vergönnt war, nämlich bis ins hohe Alter relativ gesund und aktiv zu sein.
Meine Schwiegermutter starb vor zwei Wochen in Bombay; sie war Neunzig. Meine Frau fand nach dem Tod einen Zettel, auf dem sie gekritzelt hatte: «Ich bin dankbar für ein volles und glückliches Leben. Falls Ihr eine Trauerfeier wollt, sollen fröhliche Erinnerungen zur Sprache kommen. Und wenn Ihr ein Abschiedslied singen wollt, dann am liebsten ‚Don’t cry for me Argentina‘.»