Dieser Text hat einen persönlichen Anlass. Er steht in der Ich-Form; es ginge gar nicht anders. Vor einem Monat ist mein Vater gestorben. Selbstverständlich ist dies ausserhalb der Kreise der Angehörigen, Freunde und Bekannten dieses einen Menschen nicht von Bedeutung. Es ist objektiv nichts Besonderes. Vermutlich hat die Mehrheit der Leute ab etwa fünfzig die Erfahrung des Sterbens eines Nahestehenden hinter sich. Ein Allerweltsthema also: Alle haben damit irgendwann zu tun. Gerade deshalb kann kaum etwas uns so sehr betreffen wie Sterben und Tod.
Gesprochen wird darüber durchaus, aber meist unpersönlich und in beschwichtigender Absicht. Das muss wohl im Alltag so sein und ist nicht zu beanstanden. Ich glaube aber, dass es zu ungewohnten Einblicken führen kann, wenn das Reden von Sterben und Tod nicht unpersönlich ist und nicht zu beschwichtigen versucht.
Was ich erlebt habe, ist, wie eben festgestellt, nichts Besonderes. Dieser Todesfall dürfte dem nahe kommen, was gemeinhin als humanes, gnädiges Ende gesehen wird. Mein Vater hatte ein gutes Leben, erreichte ein hohes Alter, war lange bei bester und dann noch eine Weile bei passabler Gesundheit. Ein – wie soll man sagen – normaler, akzeptabler Tod also. Zudem starb er gut betreut. Hausarzt und Pflegepersonal der Seniorenresidenz liessen es an nichts fehlen.
Trotzdem waren die letzten Tage schlimm. Selbst die moderne Palliativmedizin bringt nicht alle Schmerzen sogleich zum Verschwinden. Zudem liessen vermutlich der unerbittlich antreibende Herzschrittmacher und die kräftige Konstitution den ehemaligen Sportler nur schwer sterben. Der einst so beherrschte Mann stöhnte und schrie. Die Sprache hatte ihm ein Hirnschlag genommen, seine in den letzten Monaten verstärkt aufgetretene Demenz machte ihn hilflos.
In seinem letzten Lebensjahr hatte er den Überblick über seine Angelegenheiten völlig verloren und mich um Hilfe gebeten. Bereits diese erst schleichende, dann rasch zunehmende Schwäche hatte sein Bild verändert. Die Rollen in unserer Beziehung, die sich im Lauf seines und meines Lebens langsam verschoben hatten, bewegten sich zuletzt mit zunehmendem Tempo auf die Anfänge zu; allerdings völlig vertauscht: Hatte er mich einst als schreienden Säugling beruhigt, so hielt ich jetzt am Sterbebett seine Hand. Er war zurückgeworfen auf die nackte Existenz, lebte nur noch in den Dimensionen von Schmerzen, Angst, Zuwendung und Zärtlichkeit.
Dann lag mein Vater auf dem Spitalbett wie die Statue eines Königs auf dem Sarkophag. Gesichtszüge und Kopfform sahen aus, als habe ein Bildhauer das Charakteristische hervorgehoben. Der Tote verströmte eine tiefe Stille, die Zeit hielt den Atem an.
Man hatte ihm ein gestärktes weisses Sterbehemd angezogen. Die Hände, die auf der Brust übereinander gelegt waren, hielten das Sträusschen Osterglocken, das wir tags zuvor gebracht hatten. Mein Vater mit Blumen! Schraubenschlüssel oder Schieblehre hätten eher in seine Hände gehört. Doch nun hatten Traditionen, Bräuche und vorgeprägte Verhaltensweisen die Regie übernommen. Blumen in der Hand meines Vaters erschienen seltsam; in der Hand des Toten jedoch waren sie ein Zeichen, dass ihm jemand ein letztes Mal etwas Schönes hatte tun wollen.
In den folgenden Tagen haben mir Dutzende von Personen kondoliert. Ich tat mich früher immer schwer mit Formeln wie «herzliches Beileid». Ich empfand sie als floskelhaft, an der Grenze zur Peinlichkeit. Jetzt bin ich erstaunt, dass sie mir keineswegs unecht vorkamen. Die traditionellen Kondolenzworte waren wie eine Hand auf der Schulter.
Mitbewohner und Bekannte besuchten meine Mutter, sagten die in dieser Situation üblichen Sätze und waren ein Weilchen bei ihr. Andere telefonierten. Der Hausarzt schickte einen grossen Rosenstrauss. Aus Worten und Gesten entstand eine Wolke von Zeichen, welche die Härte der Tatsache, dass ihr Mann gestorben war, vorübergehend ein wenig milderte.
Der Vater hatte mir schon vor Jahren ein Dokument «Für den Fall des Ablebens» gegeben mit einer Liste der zu Informierenden, diversen Instruktionen und genauen Angaben für seinen Lebenslauf. Diesen brachte ich in die Form, in der er im Trauergottesdienst verlesen werden sollte. Es war sein Wille, kremiert zu werden. Dass eine kirchliche Abdankung stattfinde, war selbstverständlich – auch für ihn als mässigen Kirchgänger. Seinem Hinweis entsprechend empfahlen wir in Todesanzeige und Trauerzirkular Spenden an die Heilsarmee, für deren soziale Tätigkeit er grossen Respekt hatte. Aus solchen Vorgaben und Absprachen in der Familie erwuchsen Form und einzelne Inhalte der Trauerfeier, die nun zu gestalten und zu organisieren war.
Es gab viel zu tun in diesen Tagen mit Besprechungen, Behördengängen, Anordnungen, Korrespondenz. Selten habe ich die Wohltaten eines funktionsfähigen Gemeinwesens so intensiv und dankbar erlebt wie bei diesen Kontakten. Reihum stiess ich auf Professionalität und humane Kompetenz. Der Arzt, die Leitung und das Pflegepersonal der Seniorenresidenz, die Sachbearbeiterin in der Friedhofsverwaltung, die Mitarbeiterin bei Verlag und Druckerei, die Kundenberaterin der Bank, der Pfarrer, die Leiterin des Restaurants und etliche mehr: Sie waren mitfühlend und sachlich, bewegten sich auf der Höhe ihrer Rollen und Aufgaben und erzeugten gemeinsam so etwas wie Sicherheit. Ich war überrascht, sie zu benötigen. Aber es war ja etwas Ungeheuerliches geschehen. Eisiges Nichts strömte durch das Loch in mein Leben herein, das Vaters Tod geschlagen hatte.
Eine junge Friedhofsgärtnerin trug die Urne mit der Asche meines Vaters. Neben ihr ging an der Spitze des kleinen Zuges der Pfarrer im schwarzen Talar zum Reihengrab. Das provisorische Holzkreuz mit der Inschrift «Peter Meier, 1921 – 2013» war bereits angebracht, das Loch ausgehoben. Die Gärtnerin kniete sich hin und senkte mit einem Netz die Urne ins Grab.
Der Pfarrer las aus Psalm 103. «Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie eine Blume des Feldes: Wenn der Wind darüber fährt, ist er dahin, und seine Stätte weiss nicht mehr von ihm.» Die Poesie der Vergänglichkeit traf mich in den Eingeweiden, und das Gefühl der Endlichkeit des Lebens überflutete warm von der Mitte her den ganzen Körper. Es war ein Moment des Einverständnisses mit Vaters Ende, aber auch mit dem kommenden eigenen. Gleichzeitig empfand ich die am Grab Versammelten als eindringlich und tröstlich anwesend.
«Gib ihm die ewige Ruhe», betete der Pfarrer. Es war das einzige, was man dem toten Vater wünschen konnte, und ich habe nie aus vollerem Herzen mitgebetet. In den Worten «Erde zu Erde, Staub zu Staub, Asche zu Asche» hatte die Vergänglichkeit des Lebens einen versöhnten Klang, in welchem ich hörte, der Tote sei freundlich im Grab aufgenommen und der Friedhof wirklich ein umfriedeter Ort des Friedens. In dem Augenblick störte mich nicht einmal das ständige Rauschen der nahen Autobahn.
Neben dem Grab stand ein Kästchen mit Erde und Handschaufel. Der Reihe nach warfen alle Versammelten bis hin zur siebenjährigen Urenkelin ein Schäufelchen Erde auf die Urne. Der Abschied war endgültig.
Die ganze Zeit über stand ein junger Mann mit der prachtvollen Fahne des lokalen Turnvereins neben dem Grab. Zum Schluss vollführte er den Fahnengruss: dreimal Fahne senken, dreimal schwenken und diese Sequenz dreimal wiederholen. Beim horizontalen Schwung liess der Stoff ein diskretes Knattern hören, das sich knapp über den Geräuschpegel der Autobahn erhob. Vater war viele Jahrzehnte in diesem Verein gewesen. Die steife Abschiedszeremonie hätte ihn gefreut und gerührt.
Der Fahnenträger begleitete anschliessend den kleinen Trauerzug zur nahen Kirche, wo er während des ganzen Gottesdienstes wie eine Ehrenwache neben dem Taufstein stand. Die Kirche war bei unserer Ankunft bereits erstaunlich voll, und die beiden Lieder, die der Pfarrer im vorgängigen Gespräch vorgeschlagen hatte, klangen dann viel besser als ich befürchtet hatte. Eine so stattliche Trauergemeinde ist nicht der Normalfall. Sie spiegelte die soziale Verwurzelung meiner Eltern in einem überschaubaren, dörflich geprägten Stadtteil.
Beim Anblick der stattlichen Besucherschar erinnerte ich mich, was eine befreundete Pfarrerin erzählte hatte. Bei ihr gebe es gelegentlich Abdankungen, zu denen gar niemand kommt. Sie führe dann die Trauerfeier mit einem Friedhofsangestellten durch; das seien schöne, würdige Abdankungen. Dort ein einziger Teilnehmer, hier über hundert. Der Sinn ist der gleiche: Es gibt eine öffentlich zugängliche Teilnahme. Verstorbene Menschen werden nicht entsorgt, sondern in einem Ritual von sozialer und existenzieller Bedeutung bestattet.
Ich hatte als Leitwort für die Todesanzeige einen Satz von Kant gewählt, in dem Lebenshaltung und Ethos meines Vaters sich spiegeln: «Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.» Der Pfarrer hatte sich anerboten, über diesen Text zu predigen, und er entledigte sich der für ihn eher unvertrauten Aufgabe gewissenhaft und nicht ohne Schmunzeln. Er sprach zu uns persönlich, mit Einfühlung, aber ohne Anbiederung. Ich hörte ihm gerne zu. Seine manchmal holprige Diktion verriet eine leichte Anspannung, gegen die ich nichts einzuwenden hatte. (Ein flotter salbungsvoller Redner hätte mich auf die Palme gebracht.) Das Beste war der Schlusssatz der Predigt. Er kam mit drei Wörtern aus und geht mir immer noch nach: «Es ist gut.»
Beim anschliessenden Trauermahl versammelten sich zwei Dutzend Angehörige. Gerade weil die psychohygienische Funktion dieser Einrichtung oft ihrer eigenen Karikatur nahe kommt – die Gäste verlassen in aufgekratzter Stimmung und leicht angeheitert das Säli, das sie mit Trauermienen betreten haben – , hatte ich die Organisation dieses Treffens nicht ohne leise Bedenken an die Hand genommen. Das Zerrbild blieb jedoch aus, die Balance zwischen traurigem Anlass und Freude am Wiedersehen (vielfach erstmals nach Jahrzehnten) stellte sich ganz von selbst ein.
Für meine Mutter waren die Tage nach der Bestattung schwer. Fast sieben Jahrzehnte hatte sie mit ihrem Mann zusammengelebt. Da sie Geschehnisse aus jüngerer Zeit nicht mehr im Gedächtnis halten kann, fehlt ihr die Erinnerung an die Abdankung als Agens der Verarbeitung. Ihre Pflegerinnen und Angehörigen versuchen die Lücke wettzumachen mit intensiver Zuwendung.
Jede Begegnung mit dem Tod führt an die Grenze der Existenz, also in Reviere des Lebens, die man im Alltag tunlich meidet. Die Gesellschaft kennt Verhaltens- und Kommunikationsmuster in Sprache, Religion, Brauchtum und Konvention, welche die Annäherung an diese Grenzerfahrung begleiten und strukturieren. Professionelle Akteure, Institutionen und Dienstleistungen kommen in vielfältiger Art zum Zug. Die eigene Erfahrung hat mir gezeigt, wie die komplexe und vielschichtige «Kultur des Sterbens» dem individuellen Erleben und Verarbeiten Form und Halt gibt.
Die humanen Leistungen der Gesellschaft, die ich rund um den Tod meines Vaters erlebt und hier fragmentarisch beschrieben habe, sind ein hohes Gut, zu dem alle beitragen. Ob es, wie in meinem Fall, die christlich-bürgerliche Form in der Schweizer Wohlstandsgesellschaft oder die Sterbekultur eines anderen ethnisch-sozialen Umfelds ist: Die Wirkung für die Betroffenen dürfte ähnlich sein. Ich bin mir sicher, dass sich am Zustand dieses Guts ablesen lässt, wie es generell um die menschliche Qualität eines Gemeinwesens bestellt ist.