Nach dem Fall des Ben Ali-Regimes kamen mehrere tausend junge Tunesier auf der Suche nach Arbeit in die Schweiz. Bundesrätin Sommaruga handelte daraufhin ein Rückkehrabkommen mit Tunesien aus, denn die meist aus wirtschaftlichen Gründen geflohenen Migranten hatten wenig bis keine Chance auf politisches Asyl. Das Abkommen ist allerdings von Tunesien noch nicht ratifiziert worden. Trotzdem ist die Schweiz aktiv bei der freiwilligen Rückführung von Tunesiern.Das Bundesamt für Migration finanziert ein Rückkehrprojekt.
Amine Jabri steht in seinem kleinen Quartierladen und bedient Kunden, als wir ihn morgens um neun Uhr besuchen. Er trägt ein schwarzes Gebetskäppi und ein traditionelles langes helles Gewand, den Kaftan. Er hat sich ein Lebensmittelgeschäft im Haus seiner Familie eingerichtet. Wo im Parterre des Hauses früher ein Schlafzimmer war, stehen jetzt Regale und eine gekühlte Verkaufstheke. Couscous, Baguettes, Crackers, Yoghurt, Pasta, Harissa, Thon: Der Quartierladen führt alles, was die Quartierbewohner gerade so brauchen können.
Wir sind in einer Seitengasse in der Nähe einer Metrostation in der Cité Mouraj, einem Aussenquartier von Tunis. „Hier lebte mal der Mittelstand, aber nachdem die Kaufkraftverluste in den letzten beiden Jahren so gross waren, ist das jetzt der verarmte Mittelstand“, sagt die Projektassistentin Rym Ghadghani, die für die Internationale Organisation für Migration IOM Amine Jabri in die Selbständigkeit begleitet. Fleisch und andere Nahrungsmittel sind in Tunesien seit 2011 bis zu dreimal teurer geworden.
Die IOM Tunis führt das Projekt im Auftrag der Schweiz durch. Rym Ghadghani betreut Amine Jabri zusammen mit mehreren Dutzend anderen Rückkehrenden und ist für das Projektmonitoring zuständig. Nur drei persönliche Treffen hat sie mit jedem von ihnen. Bei ihrer Ankunft am Flughafen, bei der Aufsetzung des Projektplans und danach wieder bei einem letzten Monitoring sechs Monate später. Das Monitoring ist so schlank wie möglich organisiert.
Die Familie trägt die Rückkehrer
Amine Jabris Bruder, der in der Tourismusbranche arbeitet, ist froh, dass sein Bruder wieder zurück in Tunesien ist. „Mein Bruder ist sicher reifer zurück gekommen als er weggegangen ist,“ meint er. „Jetzt will er heiraten und bei der Familie bleiben.“ Auswanderung sei für ihn kein Thema mehr. Die Familien nehmen die Rückkehrer in der Regel gut auf.
Das Geld für die illegale Überfahrt wird von den meisten Familie ohne Begeisterung ausgegeben, denn der Druck auszuwandern kommt meist von Freunden. Sie kennen Geschichten von einzelnen Kollegen, die mit teuren Autos aus Europa zurückgekehrt und gut verdient haben sollen, meist im Drogenhandel.
Amine Jabri ist nach dem Fall des Ben Ali–Regimes von der tunesischen Küstenstadt Sfax aus nach Lampedusa gefahren. 1000 Euro hat er einem Schlepper für die Überfahrt bezahlt. Das war für Amines neunköpfige Familie eine Menge Geld. Von Italien aus zog er damals weiter in die Schweiz, als sich die italienische Wirtschaftslage nach der Finanzkrise verschlechterte. Amine Jabri kam ins Empfangslager Chiasso, hat einen Asylantrag gestellt und sich dann aber für das Rückkehrangebot der Schweiz entschieden. Mit 22 Jahren ist Amine aus Tunesien weggegangen, mit 25 ist er wieder zurückgekehrt.
Die Familie investiert mit
Sein Lebensmittelladen-Projekt wird von der Schweiz mit 3000 Franken unterstützt, der Betrag muss nicht zurückbezahlt werden. Damit hat Amine die Ausrüstung des Ladens und die Lebensmittel finanziert. Die IOM-Projektleiter sind zuversichtlich, dass sich der Laden halten kann. Er ist sauber geführt, die Familie ist im Quartier gut integriert. Amine Jabri reinvestiert im Moment alle Einkünfte direkt in den Laden und hat auch schon Pläne, um später zu expandieren. Die Familie hat bisher schon 2000 Dinar (etwas mehr als 1000 Schweizer Franken) in das kleine Lebensmittelgeschäft gesteckt und will als nächstes helfen, einen Kühlschrank anzuschaffen. Die Mutter hilft öfters beim Verkauf im Laden mit.
Der familiäre Rahmen ist meist entscheidend für den Erfolg dieser Projekte. Müssen die Rückkehrer das Projekt ganz allein zu tragen, erhöht sich die Gefahr zu scheitern. Die Rückkehrhilfe der IOM ist auf die Starthilfe des Projekts reduziert. Danach müssen die jungen Leute selber weiter wissen und autonom funktionieren können. Eine dreitägige Schulung für die Erstellung des Businessplans hilft ihnen dabei. Vielen Rückkehrern leuchtet allerdings der Aufwand bis zum Start ihrer Unternehmen nicht ein. Die Schweiz und die IOM wurden dafür auch schon in den tunesischen Medien kritisiert. Die IOM muss allerdings eine minimale Projektkontrolle gegenüber ihren Geldgebern gewährleisten.
Nicht alle Rückkehrer haben Erfolg. Von den 250 gestarteten Kleinunternehmen haben 11 bisher nicht überlebt. Das ist bis jetzt eine relativ kleine Ausfallquote. Bisher sind insgesamt rund 430 Projektgesuche bei der IOM eingegangen. Die Unternehmen, die wir besuchen, sind erst einige Monate alt. Ob sie alle in fünf Jahren noch existieren, falls die Wirtschaft Tunesiens weiter schlingert, ist noch nicht abzusehen.
Lukrativer Viehhandel
Die meisten Rückkehrprojekte sind aus dem Landwirtschaftssektor, gefolgt von der Kleider- und Baubranche. Es gibt auch einige Fischer, Restaurantbetreiber, Pizzerien oder den bereits vorgestellten kleinen Lebensmittelladen. Karoui Ibrahim hat in der Cité Etadamen, einem sogenannten „quartier populaire“ in Tunis, einen Viehhandel aufgezogen. Er ist damit nach eigenen Angaben sehr erfolgreich. Karoui Ibrhaim ist 2011 nach Lampedusa gefahren und im August 2012 wieder aus der Schweiz zurückgekehrt. Der gelernte Viehzüchter hat in sechs Monaten mit dem Verkauf von Kühen bereits ein beträchtliches Eigenkapital anhäufen können. 20 000 Dinar habe er erwirtschaftet, das sind ca. 11 000 Franken.
Damit will sich Karoui Ibrahim Land kaufen um mehr Kühe halten und die Tiere auch dort füttern zu können. Im Moment stehen fünf Kälber in einem behelfsmässigen Unterstand direkt neben seinem Wohnhaus. Das Futter wird jeden Tag hergekarrt, die Kühe haben keinerlei Auslauf. Ibrahim beschäftigt zwei Arbeiter für die Fütterung und Reinigung der Tiere. Sein Vater übernimmt die Transporte für das Tierfutter.
Karoui Ibrahim kauft die Kälber für etwa 1200 Dinar ein, pflegt sie dann zwei bis drei Monate und verkauft sie wieder für etwa 2800 Dinar. Er hat einen fixen Stammkunden gefunden und verkauft die Tiere auch auf Wochenmärkten. Das Geschäft läuft, sagt Karoui Ibrahim. Er sieht zufrieden aus. Die Ausgaben für die Nahrungsmittel und die Impfungen halten sich in Grenzen. Seine Sorge ist es jetzt, ein Stück Land in seiner Nähe zu finden, denn hier neben seinem Wohnhaus kann er mit den Tieren mittelfristig nicht bleiben. Mit seinem selbst erwirtschafteten Geld kann er seine Familie heute mit unterstützen.
Stadtflucht
Was rät Karoui Ibrahim jungen Leuten, wenn sie ihn nach seiner Erfahrung mit der Überfahrt nach Lampedusa fragen? „Was kann ich sagen? Hier gibt es keine Arbeit mehr. Und Risiken gibt es nicht nur auf dem Meer, Risiken gibt es auch hier in Tunesien“, meint Karoui Ibrahim lakonisch. Die Migration ist ein Dauerthema in Tunesien. „In den Köpfen der jungen Menschen hat sich die Auswanderung festgesetzt“ sagen auch die Betreuer vom IOM. „Es gibt hier niemanden, der nicht von der Auswanderung träumt, und die politisch wirre Lage fördert das noch.“
Die Rückkehrer stammen grösstenteils aus dem Gebiet der Hauptstadt Tunis und aus der Stadt Sfax, nur wenige aus den strukturschwachen Regionen wie Sidi Bouzid oder Kasserine im Landesinnern. Inzwischen sind zwei IOM-Betreuer in Sfax vor Ort mit den Reintegrations-Projekten beschäftig, sieben betreuen die Projekte in und um Tunis und im Rest des Landes.
Ein Zyklus geht zu Ende
Die Schweiz ist das Land, das bei weitem am meisten Rückkehrer nach Tunesien bringt. 2013 werden 430 Projekte unterstützt, für 2014 erwartet die IOM nochmals mehrere hundert freiwillige Rückkehrer, obwohl die Asylgesuche aus Tunesien zurückgegangen sind. Rund 5000 Personen aus Tunesien haben seit der Revolution 2011 Asylanträge in der Schweiz gestellt, die Rückkehrhilfe ist an diesen Prozess der Asylgesuche gekoppelt. Die Asylgesuche nehmen seit 2013 ab, es scheint ein Zyklus zu Ende zu gehen. Im dritten Quartal 2013 sind nur noch 251 Gesuche tunesischer Herkunft gestellt worden, im zweiten Quartal 2013 waren es noch über 550, im ersten Quartal 640.
Tunesien gehörte nach dem arabischen Frühling zu den Ländern mit den meisten Asylgesuchstellern in der Schweiz. 30'000 irreguläre tunesische Migranten kamen 2011 nach Europa, 2013 sind es bisher noch 700. Migrationsströme entwickeln sich zyklisch, meist sind sie nicht im voraus berechenbar, erklärt Lukas Rüst, der für die Schweiz das Rückkehrprojekt von Tunis aus betreut und mit den Partnern der IOM eng zusammen arbeitet.
Rückkehrhilfe ist auch Wirtschaftshilfe
Kurz- und mittelfristig macht die Rückkehrhilfe für die tunesischen Asylbewerber in seinen Augen Sinn. „Verbessert sich die wirtschaftliche Lage nicht in den nächsten paar Jahren, kann sich der Auswanderungsdruck wieder erhöhen und es können neue Migrationsströme entstehen. Unterstützung bei der Schaffung von Arbeitsplätzen ist also sicher eine langfristig wirksamere Strategie; die Rückkehrhilfe wird kurz- und mittelfristig eingesetzt. Aber wir müssen hier auf allen Zeit-Ebenen tätig sein“, meint Lukas Rüst. „Im Moment konzentrieren wir uns darauf, das Projekt qualitativ noch zu optimieren und möglichst nachhaltig zu gestalten.“
Ende 2014 wird es abgeschlossen sein, und die Schweiz hat dann wahrscheinlich bis zu 1000 oder noch mehr meist junge Menschen ins tunesische Arbeitsleben reintegriert. „Wenn wir dabei auch noch zusätzliche Jobs schaffen, wie das bereits jetzt bei mehreren Projekten geschieht, garantiert das eine gewisse Nachhaltigkeit“, meint Lukas Rüst. 440 neue Jobs sind durch die Rückkehrhilfe bisher entstanden.