Siehe auch: Christophe Keckeis: Der Wert der Milizarmee
Christophe keckeis: Der Sinn der eigenen Luftwaffe
Die Schweiz hat eine Milizarmee, aber es ist unklar, welchen Bedrohungen die Schweiz in näherer oder fernerer Zukunft ausgesetzt sein wird. Müssen ganz neue Konzepte entwickelt werden? Das Journal21 wird in mehreren Beiträgen dieser Frage nachgehen. Den Auftakt bildet ein Gespräch, das Ignaz Staub und Stephan Wehowsky mit dem Sicherheitsexperten Kurt Spillmann geführt haben.
Journal21: Reichen für das Thema Sicherheit militärische Kategorien aus?
Kurt Spillmann: Das Militär wird einen immer kleineren Teil des Sicherheitspanoramas abdecken. Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umstände werden eine immer grössere Rolle spielen. Dazu kommt die asymmetrische Kriegführung. Wir werden es in Zukunft stärker mit nicht-uniformierten Kämpfern oder nicht deklarierten Konflikten zu tun haben. Es könnten also alle möglichen unkonventionellen Mittel zum Einsatz kommen. Daher muss das Militär nur als ein Teil in einem viel grösseren Panoptikum gesehen werden.
Haben die klassischen militärischen Planspiele ausgedient?
Militärische Planspiele in klassischem Sinne gibt es nur noch in einem relativ engen Rahmen. Schon seit langem bemüht man sich, umfassender zu denken. Konfliktszenarien werden heute unter wirtschaftlichen oder politischen Gesichtspunkten angelegt. Damit werden die Planspiele realistischer. Allerdings wachsen auch die Schwierigkeiten. Wie will man mögliche soziale Unruhen und die daraus folgenden Konsequenzen für die Schweiz etwa in Frankreich, Italien oder Griechenland darstellen und in ein sinnvolles militärisches Planspiel einbauen? Sicherheit ist nur noch ganzheitlich zu haben und muss dementsprechend ganzheitlich überlegt und geplant werden.
Überschreiten Offiziere oder Generäle ihre professionellen Grenzen, wenn sie sich mit Szenarien nicht-militärischer Art befassen?
In den Stäben, die sich mit solchen Fragen befassen, sitzen heute auch Leute mit politischen, sozialen, völkerrechtlichen oder wirtschaftlichen Spezialkenntnissen. Diese Leute können über das Militärische hinaus vernetzt denken. Hier wird also interdisziplinär gearbeitet.
Ist es heute noch sinnvoll, dass die Schweiz in ihren Sicherheitsbelangen das Konzept der Autarkie verfolgt?
Das ist für mich der entscheidende Punkt. Wir sind nicht mehr in der Lage, eine autarke Landesverteidigung zu planen und in die Wirklichkeit umzusetzen. Dafür ist unser Territorium zu klein, dafür sind wir zu sehr vernetzt. Wir sind abhängig von Rohstoffen, Material-, Güter-, Informations- und Finanzströme verlaufen heute grenzüberschreitend. Entsprechend muss auch die Sicherheit umfassend, interdisziplinär und möglichst in Kooperation mit unseren Nachbarn und Freunden geplant und organisiert werden.
Das gilt unabhängig davon, ob wir jetzt über eine professionelle oder eine Milizarmee nachdenken?
Das ist davon unabhängig. Das System der Verteidigung ist sekundär. Wir müssen unsere Sicherheit in der immer stärker vernetzten Welt neu denken und gestalten.
Die Rolle der Milizarmee, die noch im Zweiten Weltkrieg völlig unbestritten war, gibt es heute nicht mehr?
Das liegt an der schwindenden Bedeutung der Räume und Grenzen. In Europa sind die Grenzen bei weitem nicht mehr so bedeutungsvoll, wie sie mal waren. Die Frage, wie wir zum Beispiel die Limmatstellung halten oder verteidigen können, ist ein Szenario der Vergangenheit. Die Schweiz muss über ihre eigenen Grenzen hinaus denken und Europa als einen ganzheitlichen Sicherheitsraum betrachten. Das gilt umso mehr, als wir innerhalb Europas keine ideologischen Gegensätze mehr haben, wie dies zur Zeit des Dritten Reiches oder im Kalten Krieg der Fall war. Deswegen müssen wir mit unseren Nachbarn gemeinsam über die Sicherheit Europas nachdenken.
Wie steht es mit der wirtschaftlichen Bedeutung der Milizarmee? Wenn zum Beispiel ein Militärflughafen geschlossen werden soll, regt sich sofort politischer Widerstand.
Das stimmt und das hat auch seine Berechtigung. Gerade in wirtschaftlich nicht so starken Regionen wie zum Beispiel in Gebirgstälern hat das Militär eine wichtige Rolle als Arbeitgeber gespielt. Deswegen soll man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und nicht auf einmal alles streichen, was heute nicht mehr in zeitgemässe Konzepte passt. Da ist Fingerspitzengefühl gefragt. Die notwendigen Anpassungen müssen mit Empathie für die Bevölkerung und langsam angegangen werden und konstruktive Lösungen für die betroffene Bevölkerung im Auge haben. Ich glaube, dass VBS versucht das auch.
Kommen wir noch einmal auf das Thema der Kooperation mit anderen Ländern und Armeen zurück. Gibt es etwas, was die Schweiz dabei anzubieten hat?
Wir bieten bereits in der Partnership for Peace die Möglichkeit gemeinsamer Übungen an. Es haben auch schon Übungen in der Schweiz stattgefunden, allerdings nicht mit grösseren Truppenkörpern, aber mit Stäben. Die Schweiz ist auch mit einem 220 Mann starken Kontingent – der SWISSCOY – an der internationalen Friedenssicherung der UNO im Kosovo beteiligt. Überhaupt beteiligt sich die Schweiz seit 1953 an verschiedenen internationalen Friedensmissionen in Korea, im Nahen Osten, auf dem Balkan und in verschiedenen Ländern Afrikas, allerdings meist mit unbewaffneten Beobachtern. Allerdings bieten wir insgesamt wenig an. Wir sind äusserst zurückhaltend. Die Angst vor Souveränitätsabstrichen ist immer noch zu gross. Dabei sollten wir eigentlich erkennen, dass im Rahmen der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der EU(GASP) rund um uns herum grosse Anstrengungen gemacht werden, auch die verschiedenen Verteidigungskonzepte aufeinander abzustimmen. In Kürze (am 19./20.Dezember 2013) befasst sich wieder eine grosse Konferenz von Sicherheitsexperten der EU in London mit den Problemen der Vertiefung und Intensivierung der Zusammenarbeit. Bereits hält ja die EU gemischte Truppenkörper in Bataillonsstärke (sog. Battle Groups) in internationaler Zusammensetzung als Interventionstruppenbereit. Wir sollten das sehr genau beobachten und mitdenken und uns merken, dass da auch die skandinavischen Länder mitmachen, die für uns ja Vorbilder waren und sind.
Gab es nicht schon einmal den Fall, dass in Andermatt ausländische Soldaten im Gebirgskampf ausgebildet wurden, was eine ziemliche Aufregung in der Presse ausgelöst hat?
Richtig: die Ausbildung russischer Gebirgssoldaten in Andermatt im letzten Sommer hat etwas Wellen geworfen und ich glaube persönlich auch, dass man zuerst den befreundeten und benachbarten Staaten solche Möglichkeiten anbieten sollte. Doch im Prinzip ist es sinnvoll, in der Schweiz Spezialausbildungen für Gebirgstruppen anzubieten Auch die schweizerischen Piloten profitieren ja von den Möglichkeiten, zum Beispiel in Schweden oder auf Sardinien, über grössere Territorien oder Meeresbereiche zu fliegen, um grossräumiger üben zu können. Das ist im Gang. Nur sollte diese internationale Zusammenarbeit noch besser reflektiert, diskutiert und in einem Gesamtzusammenhang ausgebaut werden.
Welche Armee könnte der Schweiz als Vorbild dienen?
Ich glaube nicht, dass eine einzelne Armee als Vorbild für die Schweiz taugt. Unser Land war immer aufmerksam und hat sich zu modernisieren versucht. Das Hauptproblem ist die Interoperabilität in einem Bedarfsfall. Das ist ein Thema, das auch in der Schweiz auf dem Tisch liegt. Das haben wir schon bei der Armee ‘95 diskutiert. Wie kann man also die Zusammenarbeit mit unseren militärischen Freunden und Nachbarn zum Beispiel durch das Erarbeiten einer gleichen Terminologie verbessern? Es geht zum Beispiel um die Kommandosprache, um die Befehlsausgabe, den Rhythmus und die Abläufe. Dazu kommen die Waffentypen, die Kaliber, die Logistik. Die Koordination ist eine ganz schwierige Angelegenheit.
Wie gut funktioniert denn diese Interoperabilität im Rahmen der Zusammenarbeit mit der NATO?
Viele Nationen operieren immer noch im Rahmen ihrer nationalen Sicherheitspolitik und mit ihren eigenen Truppenkörpern. Aber es gibt zum Beispiel eine funktionierende engere deutsch-französische Zusammenarbeit. Und Interoperabilität wird auch im Rahmen der Battle Groups geübt. Die Anstrengungen werden gemacht, aber das Ganze ist noch nicht sehr weit gediehen. Es gibt eine Zusammenarbeit, aber noch keine echte Interoperabilität.
Könnte es auf die Dauer eine Option sein, dass die Schweiz auf ihre Luftwaffe verzichtet? Im Sinne der Vernetzung mit anderen Ländern und Armeen könnte es durchaus sinnvoll sein, die Aufgabe der Luftwaffe anderen zu übergeben und dafür andere Leistungen anzubieten.
Das ist ein sehr heisses Thema - im Zusammenhang mit der Gripen- Beschaffung ganz besonders brisant. Für mich wäre es wünschenswert, zunächst unsere politische Position zu klären und klarzustellen. Wie und in welchem Masse wollen wir mit unseren Nachbarn zusammenarbeiten? Wie sehen wir eine gemeinsame Verteidigung des Sicherheitsraumes Europa? Dann kann man entscheiden, wer dazu wie viel bei einer gemeinsamen Luftüberwachung und Luftverteidigung beiträgt. Es ist durchaus nicht das erste Mal, dass sich die Schweiz die Frage stellt, welchen Sinn eine autonome Luftwaffe hat. Das Können unserer hoch geschulten und ausgezeichneten Piloten reicht weit über den Bedarf einer Sicherung des WEF hinaus. Luftpolizei ist zwar nötig und gut, kann aber allein die Existenz einer Luftwaffe nicht rechtfertigen. Innerhalb von wenigen Minuten hat ein Pilot der Schweizer Luftwaffe unser gesamtes Territorium überflogen. Auch sind wir nicht in der Lage, eine europäische Luftlagekarte herzustellen, weil wir über keinen eigenen Satelliten verfügen. Wir sind von den Informationen unserer Freunde und Nachbarn abhängig. Da gibt es also ganz wichtige Fragezeichen. Die Luftwaffe als Ausdruck der Autonomie zu unterhalten, hat mehr eine symbolische Bedeutung als einen praktischen Zweck. Ohne eine integrierte europäische Luftraumverteidigung zählt sie nicht wirklich als Beitrag für die europäische Sicherheit.
Gibt es künftig noch eine Rolle für Nationalstaaten im herkömmlichen Sinne?
Das ist im Falle Europas eine ganz heikle Frage. Alle populistischen Bewegungen Europas betonen das nationale Element und die Selbstbestimmung in höchstem Masse. Sie machen das zu einem Programm. Auf der anderen Seite sehen wir, dass erst seit der Integration Europas – also praktisch seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – dieser Kontinent von der Selbstzerfleischung in blutigen Bruderkriegen verschont geblieben ist. Das sollte uns Lehre genug sein, um einzusehen, dass wir die Zusammenarbeit stärken und die Ansprüche der nationalen Selbständigkeit etwas zurücknehmen müssen. Im Übrigen wird die Furcht vor Brüssel und den Folgen der Zusammenarbeit zumeist masslos übertrieben. Die Bürokratie in Brüssel zählt insgesamt nicht mehr Beamte, als unser Militärdepartment am Ende des Kalten Krieges hatte – inklusive der Übersetzer, die für die heute 28 Nationen gebraucht werden. Natürlich gibt es in Brüssel auch Pedanten, welche zu viel normieren, die Grössen von Gurken und die Krümmungen von Bananen bestimmen wollen. Aber das ist ein kleineres Übel, als wenn wir uns wieder aufspalten und in die alten nationalen Rivalitäten und die sinnlose Kräftevergeudung in europäischen Bruderkriegen zurückfallen.
In letzter Zeit hört man viel über Geheimdienste. Wie sieht es mit dem Schweizer Geheimdienst aus? Was macht er und kooperiert er mit anderen?
Ja, es gibt ihn. Ja, er kooperiert. Natürlich in Grenzen und in einem Umfang, den ich nicht kenne.
Der hat ja auch nicht so viel anzubieten. Wie kann er im nötigen Informationsaustausch bestehen?
Darauf kommt es an. Das ist auch wieder ein Modus der Kooperation. Man muss untereinander die relevanten Informationen austauschen. Daraus muss untereinander ein Bild entstehen, das letztlich der Sicherheit des ganzen Raumes dient. Da arbeiten die europäischen Staaten mit den NATO-Staaten zusammen, und auch die Schweiz spielt dabei mit. Hier gibt es einen Austausch, der letztlich der Sicherheit aller Mitglieder dieser Sicherheitsgemeinschaft dient. Genau so hat schliesslich auch die Eidgenossenschaft begonnen: als Sicherheitsgemeinschaft.
Gibt es Anzeichen dafür, wie hoch das Ansehen ist, das der Schweizer Nachrichtendienst international geniesst? Uns ist kein einziger Schweizer Agent bekannt.
Ich kenne auch keinen. Aber ich bin froh, dass der Schweizer Nachrichtendienst weniger in den Schlagzeilen ist als andere Dienste. Das heisst aber nicht, dass er deshalb weniger Informationen liefert. Im Gegenteil, ich glaube der Schweizer Nachrichtendienst ist recht gut aufgestellt. Er beliefert unsere Regierung mit soliden Informationen. Im Übrigen ist das ein Zeichen einer luxuriösen politischen Situation, dass wir nicht auf Gedeih und Verderb von solchen Informationen abhängig sind.
Weiss man denn, wie gross der Schweizer Geheimdienst ist?
Ich weiss nicht, ob “man” es weiss; ich weiss es nicht. Die zugänglichen Informationen über unseren Nachrichtendienst sind alle in einer Broschüre dargestellt, die man auch über die Internet-Seite des Departementes für Verteidigung abrufen kann.