Wir leben in Zeiten der Unsicherheit, aber wie ihr begegnet werden kann, ist ungewisser denn je. Die Bedrohungen sind vielfältig, und klassische militärische Antworten decken nur einen kleinen Teil von ihnen ab. Der Sicherheitsexperte Kurt Spillmann hat dazu Anfang Dezember in einem Gespräch mit Journal21 einige Überlegungen dargelegt.
Christophe Keckeis, von 2002 - 2007 Chef der Schweizer Armee, zudem ehemaliger Kommandant der Luftwaffe und Projektleiter der Planungen für die Armee XXI, gilt in Teilen der Öffentlichkeit als Hardliner. In einem ausführlichen Gespräch mit Journal 21 hat er sich zum Stellenwert der Milizarmee in der heutigen Zeit und zur Bedeutung der Luftwaffe geäussert. Wir bringen hier den ersten Teil zur Milizarmee. Das Gespräch führten Ignaz Staub und Stephan Wehowsky.
Journal21: Ist die Schweizer Armee auf unsere Zeit hinreichend fokussiert?
Christophe Keckeis: Ja. Die Schweizer Armee hat das grosse Glück – ich vergleiche sie jetzt mit allen anderen Armeen, die ich in den letzten Jahren sehr genau kennenlernen durfte. Die Schweizer Armee hat einen generellen Auftrag. Wir haben laut Bundesverfassung und Militärgesetz Aufträge, die nicht priorisiert sind. Die Priorisierung findet erst nachträglich in den sicherheitspolitischen Berichten statt. Im Bericht von 2010 steht ganz klar, dass heute das Know-how der Verteidigung an erster Stelle steht. Dieser Bereich ist extrem teuer. Die Verteidigungsfähigkeit im klassischen Sinne darf aber nicht zu weit zurückgefahren werden, damit wir sie im Ernstfall wieder rasch aufbauen können. Aber der Bericht zeigt auch ganz klar, dass die Armee die einzige strategische Reserve auf nationaler Ebene ist. Die Kantone können grosse Teile der Arbeiten, die der Sicherheit dienen, nicht abdecken. Immer wieder rufen sie nach der Armee: Katastrophenhilfe, Sicherung grosser Konferenzen wie des WEF in Davos oder der kommenden Syrien-Konferenz in Montreux oder des Treffens der G-8 – jedes Mal braucht es Tausende von Leuten, die es in keiner anderen Institution gibt. Jetzt hat man gesagt, dass dieser subsidiäre Auftrag Priorität hat. Dort muss die Armee in der Lage sein, so schnell wie möglich hohe Leistungen zu erbringen. Dahinter tritt die klassische Verteidigung zurück.
Die dritte Aufgabe ist die Friedensförderung; es handelt sich dabei um Auslandseinsätze. Sie kommt in meinen Augen leider etwas zu kurz. Wir sind Mitglied der UNO. Von dort erhalten wir laufend Anfragen. Wir sollten viel mehr leisten. Dafür bräuchten wir aber eine Verdopplung der Mittel. Die Frage ist, ob wir sie bekommen.
Die Auslandseinsätze dienen auch dazu, das Gewicht der Schweiz in der UNO zu stärken?
Nicht nur in der UNO. Es geht noch viel weiter. Wir haben ja die Chance, dass wir enorm viel exportieren können. Die Hälfte unserer Güter geht ins Ausland. Dafür braucht es Märkte, die nur so lange funktionieren, wie Sicherheit herrscht. Hier sind also auch unsere Interessen berührt. Wir müssen mithelfen, überall dort Sicherheit zu produzieren, wo unsere Märkte sind. Es geht auch nicht an, dass die Schweiz immer sagt, aus Neutralitätsgründen könne sie dort nicht mitmachen.
Die UNO wird in der Schweiz nicht verstanden. Die Leute haben noch zu wenig Vertrauen in sie. Man sieht in der UNO hauptsächlich eine schwerfällige Administration. Aber wenn man den Leuten sagt, dass die Hälfte der Arbeitsplätze in der Schweiz verloren ginge, wenn es in Deutschland oder in anderen Ländern nicht mehr ruhig wäre, dann erschrecken sie.
Wir beobachten in Frankreich, Italien und Griechenland schon jetzt regelrechte Unruhen. Was aber kann die Schweizer Armee tun, wenn zum Beispiel in Frankreich das Verkehrssystem lahmgelegt wird?
Die Armee muss erstens dank ihres Nachrichtendienstes optimal im Bild sein. Man braucht also eine „situational awareness“. Dazu gehört auch, dass man die Unterschiede der politischen Strukturen und Denkweisen der verschiedenen Länder ausreichend versteht. Und wir passen die Ausrüstung unserer Armee an die neuen Herausforderungen an. Dazu kommt das Training. Unsere Leute lernen jetzt, sich in einer Stadt zu bewegen. Und sie lernen, in ganz unterschiedlichen Umgebungen Feinde zu bekämpfen, die als solche auf den ersten Blick nicht erkennbar sind, weil sie sich als ganz normale Personen tarnen. Terroristen tragen keine Uniformen. Auch in der Schweiz kann es zu inneren Bedrohungen kommen, auch wenn unser Land bis jetzt jedenfalls weitaus stabiler ist.
Man denke nur an die Probleme mit den Migranten. Auf der einen Seite sind wir von ihnen abhängig, auf der anderen Seite haben wir Mühe mit ihnen. Aber bis jetzt lösen wir diese Probleme beispielhaft. Wir haben keine Ausländer-Gettos wie zum Beispiel in Deutschland.
Sind die Szenarien, die Sie andeuten, solche, über die Sie gar nicht reden können?
Wir reden innerhalb der Armee sehr viel darüber. Aber es ist sehr schwierig, diese Themen in eine öffentliche Debatte zu überführen. Eine Schwierigkeit liegt daran, dass die Kantone so extrem unterschiedlich sind. Da gibt es keinen gemeinsamen Nenner. In Chiasso denkt man völlig anders als in Schwyz. Dennoch müssen wir mit den Kantonen sprechen, denn sie sind für die innere Sicherheit verantwortlich. Aber aufgrund der Mobilität lässt sich zwischen innerer und äusserer Sicherheit gar nicht mehr scharf trennen.
Was kann die Schweizer Armee tun, wenn tatsächlich das eine oder andere umliegende Land in schwere innere Turbulenzen gerät?
Ich sehe darin in erster Linie eine Herausforderung. Dank der gewaltigen Informationsmengen, über die wir verfügen, können wir sehr genau beobachten, was in diesen Ländern geschieht. Früher hatten wir das nicht.
Denken wir an den Islam. Gaddafi hat einmal gesagt, wir brauchen keine Waffen, wir haben die Demographie. Europa ist wegen der Kinderarmut nahezu am Verschwinden. Dagegen haben die Frauen aus den Kulturen des Islam im Schnitt acht Kinder. Entsprechend kann man sich ausrechnen, dass Frankreich die erste islamische Nation Europas werden wird. Dann kommt Grossbritannien, dann Deutschland. Und wir wissen genau wann. Das sind Fakten. Die Babys, die in 20 Jahren Bürger sind, sind schon geboren. Die grosse Frage ist: Können wir damit umgehen, oder werden wir von diesem Kulturen erobert? Oder passt sich der Islam an? Ich beobachte dabei einen hoch interessanten Trend: Man hat jahrelang gesagt, dass sich der Islam nicht anpassen wird. In den letzten zwei, drei Jahren beobachte ich, dass in den grossen akademischen Debatten betont wird, wie stark sich der Islam dem Westen annähert. Das hängt auch damit zusammen, dass die jungen Leute die Vorteile der westlichen Werte und des westlichen Lebensstils erkennen. Und so bin ich optimistisch, dass es ganz am Ende gut ausgeht.
Aber es gibt auch die Möglichkeit, dass sich die Schweiz eines Tages von feindlichen Ländern umgeben sieht.
Ja, weil gewisse Nationen um uns herum in ganz schlechtem Zustand sind. Das löst unter Umständen in diesen Nationen Kriege aus – interne Kriege. Was geschieht dann? Dann fliehen die Leute. Dann gehen sie dorthin, wo sie ein gewisses Mass an Sicherheit finden. Das wiederum löst bei uns das Problem aus, dass wir es mit grossen Massen von Menschen zu tun bekommen, die zu uns wollen. Wie gehen wir dann damit um? Ist das eine Invasion? Oder hat das Ganze noch humanitäre Dimensionen? Oder denken Sie an die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien. In meinen Augen ist das die grösste Gefahr.
Oder denken Sie an das Wasser. Einige Nationen werden bald keines mehr haben. Unsere Wasservorräte sind gewaltig. Was die Wassermenge pro Kopf angeht, sind wir der Weltspitze. Es könnte passieren, dass man uns das Wasser wegnehmen will. So einfach ist das.
Ist die Milizarmee nach wie vor die richtige Form, um den Herausforderungen der Neuzeit zu begegnen?
Antwort: Die Abstimmung im September hat ein ganz klares Votum für die Milizarmee ergeben. Auch in meinen Augen ist das die beste Lösung. Denn das Gros unserer Aktivitäten liegt im subsidiären Bereich und in der Friedensförderung. Gerade dabei fällt mir auf, dass unsere Soldaten eine „eingebaute Proportionalität“ haben. Denn sie sind Bürger. Der Berufssoldat hat diese Proportionalität nicht. Er ist ein „iron man“. Der wird auf die harte, robuste Arbeit getrimmt. Der hat die grösste Mühe, im Kosovo mit einer Familie umzugehen, die Probleme hat.
Dazu profitiert unsere Milizarmee vom professionellen Know-how. Da gibt es zum Beispiel Leute, die in der Informatikabteilung einer Bank arbeiten. Das sind Spitzenkräfte. Dadurch sind wir den professionellen Armeen weit überlegen. Umgekehrt hoffen wir, dass unsere Leute, wenn sie in ihre Unternehmen zurückkehren, auch eine gute Ausstrahlung haben und das neu erworbene Wissen einbringen können: Menschenführung, Stabsarbeit, Risk-Management.
In der letzten Zeit gewinnt man den Eindruck, dass sich Wirtschaft und Armee wieder etwas näher gekommen sind. In den 1990er Jahren dagegen hatten international ausgerichtete Unternehmen keinerlei Interesse an Offizieren, denn die fehlten aufgrund ihrer Dienste häufig.
Das war so. Das lag auch daran, dass über fünfzig Prozent der CEOs aus dem Ausland kamen und keinerlei Erfahrung mit der Schweizer Armee hatten. Darauf mussten wir uns einstellen. Dazu kommt der Bologna-Prozess, der einen wesentlichen Einfluss auf unsere Ausbildung hat. So werden die verschiedenen Ausbildungsschritte und Erfolge mit Punkten bewertet, die wiederum im Curriculum Vitae dokumentiert sind. Das bringt eine zusätzliche Qualifikation. Der Trend ist zu Gunsten der Armee. Inzwischen gibt es auch Milizkarrieren. So kann ein CEO in höchste Ränge aufsteigen.
Teil 2 des Interviews erscheint am Montag, 13. Januar 2014, zum Thema der Schweizer Luftwaffe