Wir leben in Zeiten der Unsicherheit, aber wie ihr begegnet werden kann, ist ungewisser denn je. Nach einem Gespräch mit Kurt Spillmann hat das Journal21 Christoph Keckeis interviewt. Keckeis, von 2002 - 2007 Chef der Schweizer Armee, zudem ehemaliger Kommandant der Luftwaffe und Projektleiter der Planungen für die Armee XXI, gilt in Teilen der Öffentlichkeit als Hardliner. Wir brachten den ersten Teil seiner Ausführungen über die Milizarmee am vergangenen Freitag. Im Folgenden geht es um Sinn und Zweck der Luftwaffe. Das Gespräch führten Ignaz Staub und Stephan Wehowsky.
Journal21: Ein neuralgischer Punkt in der gegenwärtigen Diskussion über die Sicherheit der Schweiz ist die Flugzeugbeschaffung. Worin bestanden die Aufgaben der Luftverteidigung bis zum Ende des Kalten Krieges?
Christophe Keckeis: Der Armee oblagen bis zum Ende des Kalten Krieges klassische Verteidigungsaufgaben. Die Rolle der Luftwaffe in diesem Rahmen bestand darin, das operative Feuer der Armee zu liefern. Dazu musste sie in der Lage sein, Ziele zu finden. Für diese Aufklärung hatten wir Mirage-Aufklärer. Die konnten Ziele bis 300 Kilometer über die Schweizer Grenze hinaus erfassen. Sie kamen zurück und lieferten den Erdkampfverbänden entsprechende Bilder. Zusätzlich gab es damals ein ganzes Regiment von Hunters, die in der Lage waren, die erfassten Ziele zu bombardieren. Das waren also die zwei Schlüsselfunktionen: die operativen Augen der Armee bis 300 Kilometer rund um die Schweiz und anschliessend die eigentlichen Kampfhandlungen. Die Auswertung der Bilder dauerte damals noch einige Stunden; heute geht es dank der Elektronik innerhalb von wenigen Minuten.
Der zur Diskussion stehende Gripen wird diese Aufgabe wieder wahrnehmen können. Vier von ihnen können für die Aufklärung ausgerüstet werden, acht davon können die Aufgabe Erdkampf sicherstellen. Der Rest wird in der Luftverteidigung eingesetzt. Zusammengefasst kann man sagen: Das operative Feuer der Luftwaffe reicht viel weiter als das der Artillerie.
Inzwischen ist diese Art der Bedrohung weggefallen. Was ist heute die Hauptaufgabe der Schweizer Luftwaffe?
Für uns ist sie weggefallen! Um uns herum - Syrien, Libyen, Afghanistan, Irak, Georgien im Jahr 2008 – gab und gibt es diverse Kriege mit hohen Verlusten. In allen diesen Kriegen hat die Luftwaffe eine bedeutende Rolle gespielt. Die Schweiz befindet sich derzeit in einer geopolitischen Lage, die gut aussieht. Aber das kann schnell kippen. Natürlich ist es extrem schwierig, in die nächsten 30 Jahre vorauszuschauen. Aber allein in den letzten Jahren hat es wiederholt phänomenale Überraschungen gegeben. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Schweiz bereits dreimal überrascht worden ist. Bei jedem Krieg waren wir auf einem Tiefpunkt unserer Verteidigungsfähigkeit. So musste General Guisan von 1939 bis 1943 die Armee überhaupt erst einmal fit machen. So etwas braucht normalerweise zwischen 10 und 30 Jahre. Wir möchten nicht noch einmal überrascht werden.
Aber jetzt zu den neuen Aufgaben: Dieser Verteidigungsgedanke, der früher in allen Köpfen war und noch heute in vielen Köpfen ist, muss heute anders angewendet werden. Heute geht es um die Verteidigung der kritischen Infrastruktur. Die Steuerung von allem läuft über einige wenige Knotenpunkte, und wenn Sie diese Knotenpunkte mit ganz geringen Mitteln stören, dann fällt diese Steuerung aus. Das beginnt in der Cyberwelt. Es nützt nichts, wenn wir den bestgeschützten Flugplatz Meiringen haben mit den besten FA-18 drin, und Sie können das Tor nicht öffnen, weil jemand die Steuerungssoftware angegriffen hat. Da beginnt die Verteidigung.
Deswegen habe ich Schwierigkeiten mit Leuten, die davon sprechen, dass sie keine Bedrohung sehen. Denn wir erleben täglich Cyberangriffe . Oder stellen Sie sich vor, wir hätten zwei Tage lang einen kompletten Stromausfall.
Es sollen 22 Flugzeuge vom Typ Gripen angeschafft werden, dazu kommen 32 FA-18. Insgesamt macht das 54 Flugzeuge. Ende der 1980er Jahre waren es noch insgesamt 300 Maschinen. Reichen 54 Flugzeuge für die anstehenden Aufgaben aus?
Wir haben drei mögliche Fälle: Sollten wir nur über 32 FA-18 verfügen, dann wissen wir, dass wir im Falle des Schutzes einer Konferenz nach zweieinhalb Wochen am Boden sind. Denn alle Flugzeuge müssen durch den kompletten Wartungsprozess. Wenn wir diese zusätzlichen 22 Gripen bekommen, können wir die Einsatzzeit verdoppeln. Wir können dann also fünf Wochen lang vier Flugzeuge rund um die Uhr in der Luft halten. Wir können also mit weniger als der Verdoppelung der Flugzeuge mehr als eine Verdopplung der Einsatzbereitschaft erreichen. Dann können wir den Aufklärungsauftrag wieder aufnehmen. Wir kaufen auch vier Sets von Aufklärungssystemen, die an allen Gripen montiert werden können. Die Flugzeuge sind also polyvalent. Dazu kommen acht Sets von Kampfsystemen, d.h. wir können mit diesen 54 Flugzeugen das abdecken, wofür wir früher 300 gebraucht haben.
Was wir nicht abdecken können, ist eine robuste Verteidigung der Schweiz.
Wird die Aufklärungsfunktion heute nicht durch Drohnen abgedeckt?
Reden Sie von der Schweiz oder weltweit?
Weltweit.
Weltweit ist es so. Das beginnt schon mit den Satelliten. Das gilt aber nicht für die Schweiz. Wir haben eine Drohne, die lediglich 80 Kilometer über die Grenze hinaus fliegt. Wir würden aber aus einer Distanz beschossen werden, die in die Hunderte von Kilometern geht. Aber man darf die Systeme nicht gegeneinander ausspielen. Gerade jetzt gibt es eine Evaluation für die neue Beschaffung einer Drohne. Es wäre schade, wenn diese am Gripen scheitern würde.
Könnte der Sinn der Anschaffung neuer Flugzeuge auch daran liegen, dass man sich damit die Option sichert, bei Bedarf die Luftwaffe relativ rasch zu erweitern?
Das ist eine absolut zentrale Frage. Wir sind uns aber nicht einig, wie man das kommunizieren soll. Dabei spielt die Tatsache eine grosse Rolle, dass wir eine enorme Erfahrung im Luftpolizeidienst haben. Der findet täglich statt. Sie müssen wissen, dass wir durchschnittlich pro Tag eine Identifikation machen müssen. In den letzten Jahren hatten wir im Schnitt zwischen 300 und 360 Interventionen pro Jahr.
Wir sind im Zentrum von Europa. Wir haben pro Tag 3500 Überflüge. Die müssen wir entsprechend internationaler Abkommen kontrollieren. Wir können also die Gripen und die FA-18 jeden Tag vernünftig einsetzen. Es ist nicht so wie bei einem Panzer, für dessen Einsatz man eine ganz spezielle Situation braucht. Aber ich kann natürlich nicht sagen, dass unsere Kampfflugzeuge auch für einen möglichen Verteidigungsfall geplant sind. Denn dann gelte ich als Betonkopf. Und wir müssen ja das nächste Referendum überstehen. Und es geht auch um Kohärenz. Wenn 73 Prozent der Bevölkerung eine robuste Armee haben wollen, dann braucht dieser Armee auch ein Dach. Aber darüber dürfen wir nicht reden. Aber es ist eben sehr wichtig, das savoir faire zu pflegen, denn wenn das einmal verschwunden ist, braucht man mehr als 20 Jahre, um es wieder aufzubauen.
Wie viele Militärpiloten gibt es derzeit?
Das ist eine Frage der Zählart. Es gibt unterschiedliche Qualifikationen und Altersgruppen. So gibt es zum Beispiel FA-18-Piloten, die in den Stäben arbeiten, die pro Jahr nur 60 Stunden fliegen. Die anderen fliegen 120 Stunden pro Jahr. Aber die Stabspiloten könnten innert kürzester Zeit wieder eingesetzt werden. Derzeit verfügen wir zum Beispiel über 45 FA-18 Piloten, die über den höchsten Ausbildungss verfügen. Dazu kommen noch 20 Leute, die wir als Stabspiloten problemlos wieder einsetzen könnten. Kurz gesagt: Wir haben gerade eben genug Piloten.
Und Sie finden genug Nachwuchs?
Das ist wirklich phänomenal. Derzeit sind 70 Piloten in der Ausbildung, und das Niveau ist erstaunlich hoch. In anderen Bereichen haben wir Mühe, Berufsmilitärs zu finden; in der Luftwaffe nicht. Dabei wirkt auch der Luft-Polizeidienst motivierend. Wir haben auch für die Helikopter genügend hervorragende Piloten.
Wie kann man sich als Laie die luftpolizeilichen Aufgaben konkret vorstellen? Welche Bedrohungen gehen von Flugzeugen aus, die nicht eindeutig identifiziert sind?
Die einfache Antwort auf Ihre Frage ist: 9/11. Wir hatten einen solchen Anschlag schon lange erwartet. Irgendwann musste das kommen. Jeden Tag sind Tausende von Flugzeugen mit ordentlichen Flugplänen unterwegs. Aber jeden Tag taucht irgendwo auf einem Radarschirm ein Flugzeug auf, das man nicht kennt. Geschieht dies über der Schweiz, schicken wir das Flugzeug dahin, das am nächsten ist. Dann prüft man die Immatrikulationsnummer und den Flugzeugtyp.
Neulich hat ein Privatflugzeug mit einem Stromausfall die Schweiz überquert. Das konnten wir dann auf einen sicheren Flugplatz führen. Es gibt auch Passagierflugzeuge mit technischen Problemen. Da retten wir auch Leben. Dazu kommen so genannte „probings“, also militärische Flugzeuge, die die Schweiz überfliegen, um zu prüfen, wie aufmerksam wir sind. Wenn ein solches Flugzeug abgefangen worden ist, wird das weltweit registriert.
In Deutschland gab es eine Riesendebatte um die Frage, ob im Zweifelsfall ein Flugzeug abgeschossen werden darf. Wie ist es in der Schweiz?
Wir haben die Rechtsgrundlage dafür, Flugzeuge mit terroristischen Absichten abzuschiessen. Jedes Jahr, im Zusammenhang mit dem WEF, trainieren wir eine solche Situation zusammen mit dem Bundesrat. Die Entscheidungskompetenz hat der Chef des VBS. Während des gesamten WEF wird er von einem Einsatzoffizier der Luftwaffe begleitet. Dieser Offizier hat einen Koffer mit Karten und Funkgeräten dabei. Wir fliegen mit Munition. In Deutschland ist das nach wie vor ein grosses, kontroverses Thema; in der Schweiz zum Glück nicht.
Wir müssen einfach dafür sorgen, dass kein Terrorist bei grossen Konferenzen zum Beispiel in Montreux oder Genf etwas Ähnliches anrichten kann wie seinerzeit in New York.
Wie wichtig ist die Kooperation mit der NATO?
Wir dürfen nicht von einer Kooperation mit der NATO sprechen. Wir sind in der „Partnership for Peace“. Wir haben also bilaterale Abkommen. So können wir zum Beispiel luftpolizeiliche Aufgaben grenzüberschreitend lösen. Und Flugzeuge aus Italien, Frankreich oder Deutschland können zu diesem Zweck auch über die Schweizer Grenze fliegen. Aber wir dürfen nicht über fremdem Boden Maschinen abschiessen. Warnschüsse sind jedoch erlaubt.
Aus dieser Zusammenarbeit aber kann man nicht ableiten, dass andere unserer Aufgaben erfüllen könnten. Ich höre das immer wieder.
Luftverteidigung kann man nicht outsourcen?
Das kann man nicht. Die andern haben dafür zu wenig Mittel.
Wie lange dauert es, mit einem Kampfflugzeug von einem Ende der Schweiz zum anderen zu fliegen?
Der „worst case“ ist Nord-Süd, die andere ist Genf - Schaffhausen. Für die Nord-Süd-Überquerung braucht ein Reiseflugzeug bei normaler Geschwindigkeit acht Minuten. Daher müssen wir ständig in der Luft sein, um zeitgerecht zu intervenieren.
Übrigens bekommen wir die Gripen erst 2018. Bis dahin müssen wir uns mit dem behelfen, was wir jetzt haben.
Warum ist im Zusammenhang mit der Diskussion um den Gripen die luftpolizeiliche Aufgabe nicht thematisiert worden?
Ich gehe davon aus, dass jetzt vor der Kampagne vom 18. Mai darüber gesprochen wird. Dazu muss man auch noch anmerken, dass die Schweiz das Ereignis 9/11 im Gegensatz zum Rest der Welt nicht so recht wahrgenommen hat, weil sie seinerzeit durch eigene Katastrophen beschäftigt war: Grounding der Swissair, Brand im Gotthard Tunnel und der Anschlag von Zug.