3. Januar 1925: In einer Rede vor dem Parlament kündigt Benito Mussolini seine Gewaltherrschaft an. Damit beginnt in Italien eine 20-jährige Tyrannis. Sie endet im April 1945 mit der Erschiessung des Diktators.
Im Oktober 1922 war Mussolini mit seinen Getreuen im «Marsch von Rom» in die italienische Hauptstadt gezogen und beanspruchte die Macht. Daraufhin ernannte ihn König Vittorio Emanuele III. zum Ministerpräsidenten einer rechtsgerichteten Regierungskoalition.
Es gibt in Italien kaum eine Stadt oder ein Dorf, in dem es keine «Matteotti-Strasse» gibt. Giacomo Matteotti war Generalsekretär der «Vereinigten italienischen Sozialisten» PSU. Er wurde am 10. Juni 1924 von Mussolinis Faschisten mit einer Feile erstochen. Matteotti sah den Schrecken kommen und hatte sich offen gegen eine faschistische Diktatur gestemmt.
Die Ermordung des Sozialisten Matteotti brachte Mussolini in eine prekäre Schieflage. Italien war aufgewühlt. Der Mord wurde auch von rechtsgerichteten Kreisen als «Schande» bezeichnet. Plötzlich war das «nationale Gewissen» wieder erwacht, schrieben Historiker. «Eine Welle von Abscheu schwappte über das Land. Und Benito Mussolini», so der Schriftsteller Antonio Scurati in der Römer Zeitung La Repubblica, «wurde zu einem Schädling, der am Rande des Grabes stand und darauf wartete, dass der König, die Opposition, das entsetzte Volk oder eine Verschwörung seiner Anhänger ihm den letzten Stoss versetzen würden.»
«Meine Herren»
Am Nachmittag des 3. Januar 1925 – vor hundert Jahren – versammeln sich die Parlamentarier im Montecitorio-Palast in Rom, dem Sitz der Abgeordnetenkammer. Alle sind da und die meisten warten auf den Sturz des Faschismus. Hunderte Journalisten drängen sich, Mitglieder des Hofes, des Klerus, des Bürgertums und des römischen Volkes. Auf den Tribünen ist kein Platz frei. Viele hoffen nun, Mussolini würde nun für den Mord verantwortlich gemacht und gestürzt.
Wenige Minuten nach 15.00 Uhr betritt er den Saal. Seine Miene ist finster. Er rückt seine Krawatte zurecht und geht gleich in die Offensive. «Meine Herren! Die Rede, die ich jetzt halten werde, kann streng genommen nicht als Parlamentsrede bezeichnet werden. Ich bitte Sie nicht um ein politisches Votum, dazu habe ich schon zu viele gehabt.»
Er spricht langsam, betont jede Silbe. Es habe geheissen, sagt er, er habe eine geheime Polizei gegründet, um seine Gegner auszuschalten. Wo? Wann? Wie?, fragt er. Die Ermordung Matteottis nennt er «katastrophal». Er habe den Sozialistenführer keineswegs gehasst, er habe ihn sogar geschätzt, «seine Hartnäckigkeit, seinen Mut».
«Schamlose Lüge»
Jetzt schweigt Mussolini ein paar Sekunden lang, «wie jemand, der seine Waffe nachladen muss», so Antonio Scurati. «Seine schamlose Lüge, so obszön wie das Verbrechen, das er leugnet, hallt noch lange im Saal des italienischen Parlaments nach. Aber kein Wort der Wahrheit ertönt, um sie zu entlarven. Dann stemmt er die Hände in die Hüften, reckt den Hals und fährt fort.»
«Es heisst: Der Faschismus sei eine Horde von Barbaren, eine Bewegung von Räubern und Banditen … Nun gut, ich erkläre hier vor diesem Haus und vor dem ganzen italienischen Volk, dass allein ich die politische, moralische, historische Verantwortung von allem, was vorgefallen ist, übernehme. Wenn ein paar mehr oder weniger aus dem Zusammenhang gerissene Sätze genügen, um jemanden aufzuhängen – dann her mit dem Galgen, her mit dem Strick! Wenn der Faschismus nichts anderes gewesen ist, als Rizinusöl und Schlagstock und nicht höchste Leidenschaft der besten italienischen Jugend – meine Schuld! Wenn der Faschismus eine Verbrecherbande gewesen ist, dann bin ich der Chef dieser Verbrecherbande.»
«Aber auch mit Gewalt»
Wenn nur einer aufgestanden wäre und protestiert hätte, schreibt Scurati, wäre vielleicht alles anders herausgekommen. Doch keiner stand auf. Im Gegenteil: «Nur die faschistischen Höflinge springen auf, um ihrem Duce zu applaudieren.»
Die Opposition, so Mussolini in seiner Rede, solle sich keine Illusionen machen. Von jetzt an werde alles anders werden.
«Italien, meine Herren, will Frieden, will Gelassenheit, will Arbeitsruhe. Diese Gelassenheit, diese Arbeitsruhe werden wir, wenn möglich, mit Liebe, wenn es sein muss, aber auch mit Gewalt herstellen. Sie können sicher sein, dass in den jetzt auf meine Rede folgenden 48 Stunden, sich die Lage total klären wird.»
Mussolini proklamiert sich in dieser Rede selbst zum Führer, zum Diktator, und damit gibt er auch ein Bekenntnis ab zur faschistischen Gewalt.
Zauderne, schweigende Opposition
Die Opposition spielt ein klägliches Spiel und ist sich uneinig. Linke, liberale und monarchistische Kräfte zaudern; tiefe Risse gehen durch die Parteien. Die Sozialisten hatten gar beschlossen, Mussolinis Auftritt im Parlament zu boykottieren. Sie werden anschliessend dafür mitverantwortlich gemacht, am Aufstieg des Duce mitgewirkt zu haben.
Später wird bekannt, dass Mussolini vor seinem Auftritt im Parlament Zweifel hatte, ob er politisch überleben würde. Eingefleischte Anhänger, so Historiker, hätten dann auf ihn eingewirkt, «die Sache durchzuziehen». Täte er das nicht, würden die faschistischen Hardliner selbst die Macht übernehmen.
Mussolini überlebt den 3. Januar 1925 als starker Mann. Von jetzt an wird die Opposition unterdrückt und die Pressefreiheit eingeschränkt. Jetzt auch baut Mussolini die gefürchtete Geheimpolizei zur Überwachung und Unterdrückung des Antifaschismus OVRA (Organizzazione di Vigilanza e Repressione dell’Antifascismo) auf. Antifaschistische Organisationen werden aufgelöst, ihre Führer verhaftet und ihre Zeitungen unterdrückt. Bald darauf lässt sich Mussolini vom Parlament mit fast unbeschränkter Führungsgewalt ausstatten.
Viele verstanden nicht, was da geschah
Die Rede ist zu Ende. Seine Anhänger applaudieren, eine Ovation folgt der anderen. Hunderte strömen ans Rednerpult, um ihm zu gratulieren. «Viva Mussolini! Viva Mussolini!»
Die Oppositionellen, die eigentlich den Faschismus begraben wollten, sind preplex und enttäuscht – enttäuscht wohl auch über sich selbst, weil sie es nicht gewagt hatten aufzustehen. Es wird schon nicht so schlimm kommen, sagten einige.
Viele hatten noch immer nicht verstanden, was da geschah, dass Italien jetzt am Vorabend einer sehr dunklen Zeit stand. Der 3. Januar 1925 markiert den Beginn der faschistischen Diktatur: der Beginn von Verfolgung, Brutalität, Schmerz, Denunzierungen, Festnahmen, Folter, Grausamkeit, Repression, Holocaust.
Zwanzig Jahre später, am 25. April 1945, versucht Mussolini in die Schweiz zu flüchten. In Dongo am Comersee fangen ihn kommunistische Partisanen ab. Am 28. April 1945 wird er beim Dorf San Giulino di Meggegra erschossen. Daraufhin wird seine Leiche zusammen mit jener seiner Geliebten Clara Petacci an einer Tankstelle in Mailand aufgehängt.