„Mit Institutionen verhält es sich wie mit Arzneien. Ob sie Erfolg haben, hängt nicht allein von ihrer Güte (und Dosierung) ab, sondern zugleich von der Beschaffenheit des Körpers, auf den sie angewandt werden. Der Impuls ihrer Einrichtung kann prägend nur sein, wenn er einzurasten vermag, wenn die „Materie“ sich einer solchen Prägung öffnet.“ Der deutsche Althistoriker Christian Meier in seinem Buch „Athen – Ein Neubeginn der Weltgeschichte“.
Alternativen zum islamischen Staat
Welcher Prägung wird sich die von Mohammed Mursi so gesehene neue ägyptische Republik öffnen? 85 Jahre lang, seit ihrer Gründung im Jahre 1928 durch Hassan el-Banna in der Suezkanalstadt Ismaelia, haben die Muslimbrüder teils gewaltsam, teils friedlich gegen die jeweils herrschenden Regime gekämpft und versucht, den Boden zu bereiten für eine - heutiger Ausdrucksweise nach – islamistische Republik. Doch es gab auch andere Grundsätze, auf denen in Ägypten in den letzten knapp einhundert Jahren Neuanfänge versucht wurden.
Zaad Zaghloul etwa, ägyptischer „Nationalist“ unter britischer Besatzung, 1919 Leiter der Delegation seines Landes an der Pariser Friedenskonferenz, wurde von den Briten erst nach Malta, dann auf die Seychellen verbannt, weil sie seine Forderungen nach Unabhängigkeit (und Demokratie) nicht einlösen wollten. P. J. Vatikiotis schreibt in seiner wegseisenden Studie „The History of Modern Egypt“: „Für die Massen war Zaghloul ihr nationaler Führer, der za`im al-umma, der kompromisslose nationale Held.“
Das national-demokratische Experiment Zaghlouls scheiterte an der britischen Kolonialmacht und am Dualismus zwischen König Fouad bzw. König Farouk und der demokratischen Bewegung. Zwar waren alle Beteiligte gläubige Muslime, aber keiner von ihnen strebte einen islamistischen Staat an.
Nassers Panarabismus und Sozialismus
Das Scheitern der Monarchie mit ihrem fragilen demokratischen Unterbau hatte auch damit zu tun, dass eine neue Macht auf der orientalischen Bühne erschien: Israel. Das schwächliche Engagement der ägyptischen Truppen im Krieg gegen Israel 1948/49 war ein Grund dafür, dass 1952 sich so nennende „freie Offiziere“ unter General Mohammed Naguib und Oberst Gamal Abdel Nasser (der heroisch in Palästina gekämpft hatte) die Macht ergriffen. Naguib arbeitete eine Verfassung aus, die demokratischen Prinzipien entsprach (und die man heute durchaus hätte zu Rate ziehen können). Aber Nasser stand nicht der Sinn nach westlich geprägter Demokratie. In einer Art „Korrekturrevolution“ stellte er Naguib ins Abseits.
Nassers Prinzipien waren: Panarabismus, Sozialismus, Blockfreiheit. Der Panarabismus scheiterte am Widerstand der patriarchalisch geführten Golfmonarchien. Nassers Eingreifen in den jemenitischen Bürgerkrieg (1962-1970) , in welchem er den Republikanern gegen den herrschenden Imam beistand, endete erfolglos. Nassers Sozialismus schuf den Beginn der heute noch ausufernden Staatsbürokratie. Und das aussenpolitische Glanzstück – die Blockfreiheit mit Titos Jugoslawien, Nehrus Indien und Sukarnos Indonesien – verblasste, weil sich bald herausstelle, dass die Blockfreien schließlich nur eine begrenzte Rolle in der durch den Ost-West-Konflikt dominierten Weltpolitik spielen konnten.
Das Fiasko von 1967
Nassers persönliches Fiasko kam aus Israel: den Krieg von 1967 hatte Nasser eigentlich nicht gewollt, aber sein täppisches Handeln (etwa Schliessung der Strasse von Tiran für israelische Schiffe) gaben Israel den Vorwand, den Krieg von 1967 zu beginnen. Die arabische Welt erlitt eine Niederlage, welche sie bis ins Mark erschütterte. Nassers erste ägyptische Republik überlebte die Jahre unter Anwar el-Sadat (1970 bis 1981) und die dreißigjährige, in Diktatur und Korruption ausartende Herrschaft der Familie Mubarak.
Die nationalistisch-demokratisch-westlich zusammengesetzte Medizin, die Zaad Zaghloul dem ägyptischen Körper injizieren wollte, machten die Briten durch ihren Kolonialismus und das Königshaus durch mangelnde Kooperationsbereitschaft wirkungslos. Nassers Kur - arabischer Sozialismus, Blockfreiheit, Alleinherrschaft einer Person, von Mubarak durch Anlehnung an den Westen modifiziert – ging am 25.Januar 2011 mit der Revolution gegen Nassers politischen Nachfahren zu Ende.
Verheissung und Verhängnis der Muslimbrüder
Es blieb ein Kontinuum, dass weder die Könige Fouad und Farouk, noch die Herrscher der ersten Republik Nasser, Sadat und Mubarak eine hartnäckige Bewegung haben loswerden können: die Muslimbruderschaft. Hat sie die Medizin parat, welche dem ägyptischen Körper, das heisst der ägyptischen Gesellschaft Heilung bringen kann?
Ja, weil sie dem islamischen Charakter der Gesellschaft sehr nahe kommt und weil sie das – immer noch oft zu Recht bestehende – antikolonialistische Sentiment der Ägypter bedient. Schwerer aber wiegt das Nein, weil auch die Muslimbruderschaft nicht in der Lage sein wird, die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Nöte der Ägypter zu lindern und deren durchaus vorhandenem Verlangen nach demokratischem Verhalten zu bedienen.
Die Ideologie der Muslimbrüder
Das Gefährliche an der Bruderschaft: im Gegensatz zu Nasser-Sadat-Mubarak, die letztlich alle nur die Macht wollten, hat die Muslimbruderschaft eine starke, religiös geprägte, von Gottes vermeintlichem Eingreifen ins Weltgeschehen geprägte Ideologie. Mit dieser Ideologie will sie auch das persönliche Leben der Menschen bestimmen.
Man muss sich der Anfänge der Bruderschaft erinnern, um diese Ideologie zu verstehen. 1928, im Jahr der Gründung der Bruderschaft, stand Ägypten unter der Herrschaft der Briten. In Ismaelia, der Heimatstadt des Gründers Hassan el-Banna, war die koloniale Durchdringung des Landes täglich sichtbar: der von den Franzosen gebaute, von den Briten übernommene Suezkanal.
Wenige Jahre zuvor hatte die Region noch ein vollkommen anderes Gesicht: das osmanische Reich war Heimstatt der islamischen Umma, der Sultan war rechtmäßiger Nachfolger des Propheten Mohammed. Doch dann war dieses islamische Reich unter dem Ansturm des Westens zusammen gebrochen. Und noch dazu hatte ein muslimischer, aber durchaus laizistisch denkender osmanischer General namens Mustafa Kemal, später genannt Atatürk, Vater der Türken, 1923 das als sakrosankt geltende Amt des Kalifen abgeschafft. Dahin war es mit der Glorie des islamischen Weltreiches.
Kein ägyptischer Atatürk
Kein Wunder, dass sich mit Hassan al-Banna ein Mann fand, der den verblichenen Glanz wieder erscheinen lassen wollte. Die Muslimbruderschaft, die den einzelnen aufforderte, genau nach den Geboten des Propheten zu leben, breitete sich schnell in vielen arabisch-muslimischen Ländern aus. Und sie kam in Konflikt mit den herrschenden Cliquen.
Die Alternative – nämlich eine Art ägyptischer Atatürk zu werden und ein laizistisches Gesellschaftsmodell einzuführen – stellte sich Hassan al-Banna erst gar nicht. In den folgenden Jahrzehnten versuchten die Brüder teils mit Gewalt, später eher friedlich, die Gesellschaft nach ihrem Bilde zu formen. Im Jahre 1948 ermordete ein Bruder den ägyptischen Premier Mahmoud Fahmi al- Nukrashi, das Regime von König Farouk antwortete mit der Ermordung Hassan el-Bannas, des Gründers der Bruderschaft. 1954 wurde in Alexandria ein Attentat auf Nasser verübt. Das neue Regime machte die Brüder verantwortlich. Reihenweise wurden diese von Nassers Polizei eingekerkert. Said Qutb, der bedeutendste Denker der Brüder nach Hassan al-Banna, wurde 1966 im Gefängnis hingerichtet. Qutb hatte mit seinem Buch „ Wegzeichen“ ein Werk verfaßt , das Forscher später als „Mao-Bibel des Islamismus“ bezeichneten.
Unter Sadat und Mubarak
Mit dem Amtsantritt Anwar el-Sadats 1970 (nach dem Tode Nassers) änderte sich das Bild. Sadat wollte sich eine neue Machtgrundlage schaffen – fern von den „Linken“ und den Sozialisten, die Nassers Weg begleitet hatten. Sadat befreite viele Brüder aus den Gefängnissen und ließ in der Verfassung jenen Satz verankern, der bis heute Furore macht und den auch die Brüder im neuen Grundgesetz belassen haben: dass nämlich die islamische Scharia Hauptquelle der Gesetzgebung sei. Mubarak ließ den Satz bestehen, begann aber mit einer großflächigen Verfolgung der Brüder und anderer „Islamisten“.
Ihre Organisation konnte Mubarak nicht zerschlagen, denn die Bruderschaft war und ist fast wie ein Geheimbund strukturiert. Schon in jungem Alter, manchmal schon mit neun Jahren, oft aber auch im ersten Universitätssemester werden junge Menschen, die als fromm gelten, von Mitgliedern der Muslimbruderschaft angesprochen. Wer sich offen zeigt, wird ein muhib, ein Jünger. „In dieser Phase“, schreibt Eric Träger (1) „die gewöhnlich sechs Monate dauert, sich aber bis zu vier Jahren hinziehen kann, kommt der muhib in eine lokale Gruppe, die usra (Familie). Mit regelmäßigen Treffen überwacht sie die Frömmigkeit und Ideologie des Anwärters. Bestehend aus vier bis fünf Brüdern unter Vorsitz eines nakib (Leiter) ist die usra die niedrigste, aber wichtigste Einheit in der Hierarchie der Muslimbruderschaft ... So kontrollieren die Muslimbrüder, ob ihre jungen Kollegen an den strengen religiösen Standards der Organisation festhalten ...“
Streng hierarchisch organsiert
Bis zur endgültigen Aufnahme in die Bruderschaft können Jahre vergehen. Dieser Formungs- und Indoktrinierungsprozess stellt sicher, dass der Neue unbedingte Treue und Gehorsam übt, wenn er später von der Zentrale der Bruderschaft Aufträge und Anweisungen zu befolgen hat. Denn die Bruderschaft ist ein streng hierarchisch gegliederter Organismus. Während des Werdegangs zum Mitglied sind natürlich kritische Fragen nicht erlaubt, abweichende Koraninterpretationen kaum gern gesehen. Zur Anpassung ihres Glaubens an die Lebensumstände der Moderne trägt die Bruderschaft also wenig bei.
Diese autoritäre, auf Befehl und Gehorsam aufgebaute Organisation macht es den Brüdern leichter als anderen, neuen Gruppen, die ägyptische Gesellschaft zu durchdringen. Angesichts dieser Situation ist es eigentlich erstaunlich, dass Mohammed Mursi nur mit einer relativ kleinen Zahl von Wahlberechtigten erkoren wurde.
Die islamistische Medizin löst keine wirtschaftlichen Probleme
Doch die islamistische Medizin, welche die Brüder mit einer Überdosis der Gesellschaft einimpfen wollen, wird keines der immensen sozialen und wirtschaftlichen Probleme lösen. Die Nasser-Sadat-Mubarak Republik hat – besonders auf dem Land in Oberägypten – ein wirtschaftliches und soziales Trümmerfeld hinterlassen, „Islam ist die Lösung“ – diese Parole wird lediglich die verkrusteten gesellschaftlichen Verhältnisse und die Unterdrückung der Frau weiter festigen. Die Armut aber, die besonders in den Dörfern Oberägyptens beängstigende Ausmasse angenommen hat, ist mit solchen Phrasen nicht zu bekämpfen. Muslimbrüder sind oft Ärzte, Rechtsanwälte. Wo sie sich wirtschaftliche betätigen, verdienen sie ihr Geld mit Handel. Strategische Köpfe, welche die ägyptische Wirtschaft auf ein neues Gleis stellen können, haben sich unter Mursis Herrschaft noch nicht gemeldet.
Um Ägypten aus dem Sumpf zu ziehen, bedarf es grosser institutioneller Veränderungen. Die Gouverneure der einzelnen Provinzen etwa werden immer noch im fernen Kairo ernannt. Die Interessen der lokalen Einwohner vertreten sie meistens nicht. Abhilfe würde womöglich eine Regionalisierung schaffen; dann könnten die Menschen ihre Gouverneure wählen – und wieder abwählen. Aber auch Mursis „neue Republik“ hat den Machtanspruch der Kairoer Zentrale nicht gemindert.
Verachtung für die Armen und die Macht der Armen
Und: die fast grenzenlose Verachtung, mit welcher die jeweils Herrschenden die sozial Schwachen, also die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung behandeln, hat sich bisher in keiner Weise geändert. Mursis Herrschaft fängt also dort an, wo das Nasser.-Sadat-Mubarak-System ausgehört hat.
Doch einen Wandel gibt es: die Menschen, lange Jahre lammfromme Untertanen der Obrigkeit, wissen, dass sie Macht haben. Macht, die politischen Verhältnisse zu ändern. Zwar hat - eher ungewollt - diese neue Macht den Muslimbrüdern das politische Ruder übergeben. Ebenso schnell aber kann den Brüdern das Steuer auch wieder entrissen werden. Es sei denn, sie wollten ihren 85 Jahre dauernden Kampf um die Macht mit einer neuen, noch strikteren Diktatur beenden.
Doch derzeit werfen Demonstranten Brandflaschen in den Garten des Präsidentenpalastes. Soweit ist es selbst unter Mubarak nicht gekommen.
(1) Eric Träger: Unverwüstliche Muslimbruderschaft. Düstere Aussichten für ein freies Ägypten und einen friedlichen Nahen Osten. In: Internationale Politik, hg. von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin November/Dezember 2011, S. 74 ff.