«Putain – deux ans» - diese etwas kruden Worte hatte man vor mittlerweile zwei Jahrzehnten Jacques Chirac in den Mund gelegt, der in den Jahren 1993 und 1994 „nur“ noch Bürgermeister von Paris, auf der nationalen politischen Bühne nicht mehr präsent war und zuschauen musste, wie sich sein so genannter «Freund seit 30 Jahren», Edouard Balladur, als Premierminister in der Kohabitation mit dem schwer kranken Staatspräsidenten Mitterrand schlug. Chirac langweilte sich in jener Zeit grenzenlos, scharrte wie ein Vollblüter in den Startlöchern und konnte es bis zu den Präsidentschaftswahlen 1995, die er dann im 3. Anlauf endlich gewinnen sollte, kaum mehr erwarten.
Ein Pilot im Cockpit?
Seitdem ist «Putain – deux ans» in Frankreich zu einem geflügelten Wort geworden, das in alle Richtungen abgewandelt werden kann. Und natürlich und unausweichlich dieser Tage auch genüsslich auf Präsident Hollande gemünzt wird.
Drei Jahre muss er durchhalten, doch bis tief hinein in seine eigene Partei fragen sich die Franzosen inzwischen: wie soll er das anstellen?
Eine verunsicherte, fast beunruhigende Atmosphäre macht sich breit im Land, ein wenig riecht es zwischen Dünkirchen und Marseille, zwischen Strassburg und Brest nach Machtvakuum, und die Frage, ob noch ein Pilot im Cockpit sitzt oder der Dampfer Frankreich in schwerer See noch einen Kapitän hat, bekommt eine gewisse Berechtigung.
«Unsere Institutionen sind stabil», hört man aus zahlreichen Politikermündern dieser Tage und hat sofort den Verdacht, sie sagten das, weil man sich berechtigte Sorgen machen könnte, dass dem nicht so sei. Nicht zufällig geistert das Wort von der «Regimekrise» durchs Land.
6. Republik?
Zwei geharnischte Wahlschlappen für François Hollandes politisches Lager innerhalb von zwei Monaten und Popularitätswerte für den Präsidenten, die seit einem halben Jahr kaum noch an die 20 Prozent heranreichen. Gleichzeitig ist die mutmasslich grosse konservative Volkspartei UMP in Bruderkriege und Finanzskandale verstrickt und mehr oder weniger im Auflösungsprozess begriffen. Die rechtsextreme Nationale Front aber darf posaunen, sie sei jetzt die erste Partei im Land. Angesichts all dessen stellen sich die Franzosen, ja ganz Europa die Frage: welches politische Gewicht hat dieser Staatspräsident eigentlich noch, was kann er in dieser auf den Präsidenten zugeschnittenen 5. Französischen Republik und auf dem internationalen Parkett eigentlich noch bewegen?
Präsident Hollande ist derartig angeschlagen und geschwächt, dass plötzlich die gesamte 5. Republik und ihre Institutionen in Frage gestellt scheinen. Es ist, als habe die Verfassung dieser Republik - die 1958 ja massgeschneidert wurde für einen General in Wartestellung und für eine Kriegssituation in Algerien, die man als solche nicht benennen wollte - ein derartig schwächelndes Staatsoberhaupt, wie François Hollande es jetzt definitiv ist, einfach nicht vorgesehen.
Als Reaktion auf die verlorenen Kommunalwahlen hatte Präsident Hollande Anfang April seinen Premierminister und die halbe Regierung ausgetauscht, damit aber sein Pulver auch schon verschossen. Die Verfassung der 5. Republik bietet ihm jetzt, nach der zusätzlichen, historischen Schlappe bei den Europawahlen, nur noch zwei Möglichkeiten: das Parlament aufzulösen und Neuwahlen für die Nationalversammlung auszuschreiben - oder aber selbst zurückzutreten. Beides wäre politischer Selbstmord, den man vom langjährigen Chef der Sozialistischen Partei Frankreichs nicht verlangen kann. Also wird aller Voraussicht nach nichts passieren und man wird sich mit einem allseits blockierten Frankreich abfinden müssen, in dem alle nur noch gebannt, ja fast gelähmt darauf schauen, wie viel Prozent die blonde Frau von der extremen Rechten bei den Präsidentschaftswahlen 2017 wohl erzielen wird.
Licht aus dem Dunkeln
Was François Hollande dieser Tage auch anlangt, geht mehr oder weniger schief oder knapp daneben, wirkt bemüht, verkrampft, pathetisch oder gar lächerlich.
Frankreichs grösster lebender Maler, Pierre Soulages, der Meister der schwarzen Farbe, bekam in seiner Geburtsstadt Rodez dieser Tage ein eigenes Museum. Der Präsident liess es sich nicht nehmen, zur Einweihung zu erscheinen. Prompt wetteiferte die Presse landesweit um ironischste Schlagzeilen, mit Variationen zum Thema: „Aus dem Schwarz, aus dem Dunkel kommt das Licht“ oder „Auf der Suche nach dem Licht im Dunkeln“.
Der 94-jährige Soulages, ein zäher, aufrechter Zwei-Meter-Mann, nahm all dies achselzuckend und mit verschmitztem Blick wahr. Frankreichs Staatspräsident aber sah an diesem Tag neben dem lebenden Künstler-Monument Soulages reichlich unglücklich, ja sogar vergrämt aus.
Vielleicht hatte man den Präsidenten zu der Stunde ja schon darüber informiert, dass sein Berater für landwirtschaftliche Fragen ein paar hundert Meter vom neuen Museum entfernt de facto als Geisel genommen worden war. Ein paar Bauerngewerkschafter hatten den Berater aus dem Elysée kurzerhand für drei Stunden festgesetzt, um gegen die Errichtung eines Megabauernhofs mit über 1000 Milchkühen im Nordwesten Frankreichs zu protestieren - Symbol einer vollständig industrialisierten Landwirtschaft, die man hierzulande nicht haben will. Hinterher hiess es, es sei während der drei Stunden absolut zivilisiert und höflich zugegangen, der Elysée machte seinerseits kein grösseres Aufheben, um nicht gleich wieder eine Diskussion auszulösen zu Frage, über wie viel Autorität Staatspräsident Hollande denn eigentlich noch verfügt.
Allez les Bleus!
Geht François Holland vor der WM in Brasilien zur Fussballnationalmannschaft ins Trainingslager, haben manche Angst, der Staatspräsident würde den Tricolore-Kickern nur noch zusätzliches Unglück bringen. Andere meinten, Hollande wolle sich auf billige Art einfach nur im Ruhm der Millionen schweren Balltreter sonnen. Der Präsident sagte wenig, aber selbst das wenige, das nach draussen drang, ging daneben. Er habe der Mannschaft gesagt, dass die ganze Nation hinter ihr stehe, liess Hollande verlauten. Genau das stimmt aber nicht, so einzigartig das auch sein mag.
Seit Jahren schon ist die Popularität dieser Nationalmannschaft fast so gering, wie die des derzeitigen Präsidenten - die auserwählten Profis können tun, was sie wollen - die Franzosen nehmen vielen Spielern einfach nicht ab, dass sie sich für die Nationalmannschaft wirklich auch das letzte Bein ausreissen. Wie auch immer: in der Woche nach der Präsidentenvisite bei den Nationalspielern, waren die Rückenschmerzen von Mittelfeldstar Franck Ribéry endgültig so stark geworden, dass er sein Ticket für Brasilien zurückgeben musste.
Wobei, nebenbei bemerkt, die Franzosen über Ribérys Ausfall nicht mal wirklich geschockt sind. Was immer im deutschsprachigen Blätter- und Agenturenwald zu diesem Thema auch getitelt wird: in Frankreich bleibt Ribéry eher ein Bad-Boy, der in der Nationalmannschaft nie, aber auch wirklich nie die Leistungen gebracht hat, für die man ihm in München zeitweise regelrecht zu Füssen liegt.
D-Day sei Dank
Zwei kurze Tage lang durfte sich der Präsident in der vergangenen Woche dann aber doch einmal über den innenpolitischen Sumpf erheben. Die D-Day-Feierlichkeiten sollten ihn für einen kurzen Moment aus dem politischen Jammertal befreien. Schliesslich war die Welt zu Gast in der Normandie, Mächtige und weniger Mächtige und ein paar gekrönte Häupter gaben sich die Ehre und die feierlichen Bilder der Zeremonie waren für rund 1 Milliarde Fernsehzuschauer in aller Welt zugänglich. Zudem herrschte Kaiserwetter und nicht der übliche Regen, wie sonst, wenn Präsident Hollande einen grossen offiziellen Auftritt hat. Hollande durfte an den Landungsstränden den Zeremonienmeister geben und tat es mit Würde, hielt sogar an einem Tag gleich zwei gute Reden, tat dies vor allem in einer Art, dass man den Eindruck haben durfte, er steht auch wirklich hinter dem, was er da abliest.
Zunächst reparierte der Präsident am frühen Morgen des 6. Juni 2014 in Caen eine fast unglaubliche historische Ungerechtigkeit: 70 Jahre danach wurde erstmals überhaupt den zivilen Opfern der Landung der Alliierten in der Normandie gedacht – 20‘000 Tote, 3‘000 allein schon am 6. Juni - Normannen, die die Opfer ihrer Befreier geworden waren und die aus Rücksicht auf die Alliierten, bei den Gedenkfeiern und im kollektiven Gedächtnis des Landes bislang so gut wie nicht vorgekommen waren.
Hollande, der Gastgeber, schaffte ausserdem den extrem heiklen Spagat zwischen Historie und Gedenken auf der einen und der Ukraine- Krisendiplomatie in den Kulissen der Gedenkveranstaltungen auf der anderen Seite. Da waren - entgegen aller Ankündigungen, Putin und Obama, die letztlich doch ein paar Worte gewechselt haben, fernab von Kameras, am Rande des Mittagessens hinter den dicken Mauern des Schlosses von Bénouville - vor 70 Jahren der geheime Ort des französischen Widerstands, der von hier aus seinen bescheidenen und doch wichtigen Beitrag für die Landung der Alliierten geleistet hatte.
Es war ein Mittagessen, bei dem man sehen konnte, wozu gekrönte Häupter heute auch noch gut sein können. Etwa als Puffer an einer festlichen Tafel, an der sich Personen einfinden, die sich möglichst nicht in die Augen sehen und schon gar nicht nebeneinander sitzen wollen. Elizabeth II. neben Barack Obama und Königin Margarethe von Dänemark neben Wladimir Putin sorgten dafür, dass die beiden Staatschefs möglichst weit voneinander sitzend das 5-gängige Sternemenu verzehren konnten und ihnen dabei nicht all zu langweilig wurde. Denn wenn es darum geht, Konversation zu betreiben, kann man sich auf die Royals allemal verlassen – haben sich die Verantwortlichen im Elysée wohl zurecht gedacht.
Auch den neuen ukrainischen Präsidenten hat François Hollande mit Angela Merkels Hilfe zu einem viertelstündigen Gespräch vor dem Mittagessen mit Putin zusammengebracht. US-Präsident Obama hatte sich zur Mittagsstunde im Hinterland der Küste ohne ersichtlichen Grund eine halbe Stunde verspätet, hatte für die Fernsehbilder einen Veteranen in seiner unförmigen, Tonnen schweren Limousine mitgebracht und schritt mit ihm, pünktlich zu den US-Morgennachrichtensendungen mit hoher Einschaltquote um 7.30 Uhr über den roten Teppich ins Schloss zu Bénouville - derweil hatten der Russe Putin und der Ukrainer Poroschenko sich die Hände geschüttelt, Obama hatte seine Fernsehbilder, alle durften zufrieden sein und François Hollande einen kleinen diplomatischen Erfolg verbuchen.
1. Weltkrieg
Noch eine zweite Gelegenheit wird Frankreichs Präsident dieses Jahr bekommen, um den Alltagssorgen zu entfliehen und im Schein von Gedenkfeiern zu glänzen: im August, wenn die Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren seinen Höhepunkt erreichen wird. Der Präsident eines Landes, in dem dieser 1. Weltkrieg - ausgelöst durch einen inzwischen verloren geglaubten Nationalismus - bis heute eine geradezu überdimensionale Bedeutung hat, wird an zahlreichen Gedenkveranstaltungen teilnehmen müssen. Er wird dies tun nur wenige Monate, nachdem der Nationalismus des 21. Jahrhunderts bei den Europawahlen und gerade in seinem eigenen Land wieder fröhliche Urstände gefeiert hat. Dies aber ist für Hollande, im Grunde aber für alle westlichen Politiker, wahrlich keine leichte Übung.
«Nationalismus – das ist Krieg» - diesen Satz hatte der todkranke François Mitterrand bei seiner ergreifenden Abschiedsrede vor dem Europaparlament in Strassburg 1995 den damaligen Abgeordneten als Vermächtnis hinterlassen. Als hätte er geahnt, was nur zwei Jahrzehnte später wieder möglich sein könnte - kriegerische Handlungen in der Ukraine und engstirnige, nationalistisch-rechtsextreme Parteien, die in den westlichen Demokratien auf dem Vormarsch sind.
Jean Jaures
Zum 100. Todestag von Jean Jaurès, dem Urvater der französischen Sozialisten, wird sich der sozialistische Präsident Frankreichs im Jahr 2014 auch noch etwas einfallen lassen müssen - bis zum 31. Juli, dem Tag, als vor 100 Jahren ein nationalistischer Fanatiker den damaligen Chefredakteur der Tageszeitung „Humanité“ und langjährigen sozialistischen Abgeordneten in einem Bistrot der Rue Montmartre kaltblütig erschossen hatte. Was immer Hollande auch tun wird zum Gedenken an den grossen Sozialisten, auch da ist jetzt schon klar: neben dem Volkstribun, ja dem Monument Jean Jaurès, wird Frankreichs heutiger Präsident auf jeden Fall klein aussehen, ja regelrecht verschwinden - wie ein angestaubter Buchhalter erscheinen, der seine Arbeit macht, so gut es eben geht, nicht über den Tag hinaus schauen will und zu wissen scheint, dass er im Grunde ohnehin nichts bewegen kann.