Den Anstoss zu diesem Buch gab ein traumhaftes Angebot. Eine Stiftung bot der Journalistin und Buchautorin Klara Obermüller einen vier- bis sechsmonatigen Aufenthalt in einer Wohnung in Venedig an, als Zeichen der Wertschätzung für geleistete Arbeit, gerne auch in Begleitung des Partners.
«Eine Art zweite Pensionierung»
Natürlich hat die in höherem Pensionsalter stehende, aber immer noch vielfältig tätige Journalistin diese Offerte mit Freuden angenommen. Im Dezember 2017 traf sie im Zug von Zürich in der Lagunenstadt ein und bezog die geräumige Wohnung im Palazzo Castelforte. Hier, an diesem wundervollen Ort, wo man vom Salonfenster auf einen schmalen Kanal mit einer gebogenen Holzbrücke blickt und wo sich nicht weit entfernt der Turm der Chiesa von Pantalon erhebt, deren Geläut sie zuverlässig morgens um acht und abends um sechs begleitete, wollte die Autorin «eine Zäsur» erfahren, Unwichtiges hinter sich lassen und «sich auf das Wesentliche besinnen».
Klara Obermüller beschreibt ihre Erkundungen in der verwinkelten Stadt mit dem überwältigenden Reichtum an kulturellen Schätzen als «eine Art zweite Pensionierung». Venedig hilft ihr, das Leben zu entschleunigen, es gibt keine Autos und Fahrräder, die vielen Brücken und Treppen zwingen der Besucherin ihren eigenen Rhythmus auf. Wenn sie sich mit einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein auf einem der unzähligen idyllischen Plätze niederlässt, hat sie den Eindruck, «in einer Loge zu sitzen und einer Theateraufführung beizuwohnen».
«Ich war keine Atheistin mehr»
Mit ihrem Mann, Kurt Studhalter, einem früheren Kapuziner-Pater, besucht die Autorin öfters die Messe in einer nahen Kirche, deren Gottesdienste sie als ungewöhnlich heiter und familiär empfinden. Angeregt von diesen Besuchen setzt sich die Autorin vertieft mit religiösen Fragen auseinander. Sie habe dabei realisiert, schreibt sie, «wie wenig ich im Grunde von meinen innersten religiösen Gefühlen wusste». Der Satz überrascht bei einer Autorin, die als Journalisten seit längerem als Expertin für kirchliche und religiöse Fragen bekannt war.
Sie habe in jüngeren Jahren, schreibt Klara Obermüller an anderer Stelle, zu denen gehört, «die Religion für etwas Überholtes und fromme Menschen für leicht zurückgeblieben» hielten. Später aber, nach einer Reihe existentieller Erfahrungen, «war ich keine Atheistin mehr». Sie sei «eine Suchende geworden, die nicht länger ausschliessen konnte, dass es mehr gab als nur das, was unser Verstand zu fassen vermag». Dieses «Mehr» habe sie in Venedig manchmal besonders angerührt, «wenn ich vor diesen Madonnen und Kreuzigungen, diesen Anbetungen und Abendmahlen, Marienkrönungen und Tempelgängen stand und Zwiesprache mit ihnen hielt».
Verpasste Fragen an den Vater
«Auf Vaters Spuren» heisst eine Überschrift in den Venedig-Notaten von Klara Obermüller. Bei einem Ausflug ausserhalb der Lagunenstadt macht der Zug einen Zwischenhalt in Treviso. Der Autorin steigen bei dem Namen sofort Erinnerungen an ihren Adoptiv-Vater auf, der sich in ihren Jugendjahren in den fünfziger und sechziger Jahren aus beruflichen Gründen häufiger in Treviso aufgehalten hatte. Er war der «ruhende Pol» in der kleinen Zürcher Familie gewesen, aber er hatte diese Absenz-Zeiten in Italien offenkundig auch genossen.
Doch erzählt hatte der Vater wenig über seine Aufenthalte in Treviso. Und die hochbetagte Autorin fragt sich selber vorwurfsvoll, weshalb sie ihn seinerzeit nicht näher darüber befragt habe. Solche Gedanken über verpasste familiäre Erkundigungen bei inzwischen verstorbenen Angehörigen dürften manchen Lesern reiferen Alters nicht unvertraut sein.
«Was habe ich aus diesem Venedig-Aufenthalt gemacht? Was hat er aus mir gemacht?», fragt Klara Obermüller gegen Ende ihres Buches. Zu sagen, es sei ein «Selbstfindungstrip» geworden, wäre übertrieben, stellt sie fest. Aber diese Zeit habe ihr gezeigt, «dass es ein Leben jenseits von Arbeit, Leistung und Selbstbestätigung gibt». Doch sie räumt auch ein, dass nach ihrer Rückkehr in die Heimat, «die alte Arbeitslust» sich gelegentlich wieder zurückmeldete und sie die «innere Zufriedenheit» dann auch genoss, die ein gut ausgeführter Auftrag bieten konnte.
Mit Widersprüchen zurechtkommen
Dass es zwischen diesen beiden Lebensgefühlen, dem heiter-entspannten Genuss der Gegenwart und Nichtstun einerseits und dem noch nicht ganz abgelegten Drang nach Arbeit und neuen Anfängen andererseits innere Widersprüche gibt, brauche ihr niemand zu sagen, schreibt die Autorin.
Es ist gut, dass Klara Obermüller solchen Widersprüchen nicht partout ausweichen will, sondern sie mit philosophischer Gelassenheit registriert. Sonst wäre ja dieses lebenskluge Büchlein über die Traumstadt Venedig und die inneren Welten einer temporären Bewohnerin im höheren Alter nicht zustande gekommen. Der schöne Band wird ergänzt durch stimmungsvolle Fotos, die die Autorin und Kurt Studhalter auf ihren Erkundungen in den Gassen, Plätzen, Märkten und über den Kanälen Venedigs gemacht haben.
Klara Obermüller: Die Glocken von San Pantalon. Ein venezianisches Tagebuch. Zürich: Xantippe-Verlag, 2020, 164 Seiten.