Nach der Serie von Vulkanausbrüchen auf der spanischen Insel La Palma machen sich unterirdische Kräfte auf dem portugiesischen Archipel der Azoren bemerkbar. Auf der Insel São Jorge wurden in zwei Wochen rund 25’000 meist leichtere Erdstösse registriert. Steht ein stärkeres Beben oder ein Vulkanausbruch bevor? Auf der Insel liegen die Nerven blank.
Anderswo locken goldene Strände zum Meeresbad. Auf den Azoren sind die Badezonen dagegen oft schwarz eingefasst. Bizarre Formationen aus erstarrter Lava säumen die Küste beim beschaulichen Ort Urzelina auf der Insel São Jorge. Sie bilden geschützte Buchten, in denen sich im Sommer erfrischende Bäder im kristallklaren Wasser empfehlen. Herrlich ist auch der Blick zur Nachbarinsel Pico mit der Silhouette des gleichnamigen Vulkans, 2’351 Meter hoch, damit Portugals höchster Berg überhaupt.
Erinnerungen an vergangene Vorfälle
Zu den Sehenswürdigkeiten in Urzelina zählt auch die frühere Pfarrkirche, die als solche aber längst ausgedient hat. Als sich im Jahr 1808 der vorerst letzte Vulkanausbruch auf dieser Insel ereignete, verschwand der untere Teil des Gotteshauses unter Lava, aus der noch der Turm emporragt. Hier und da erinnern Hausruinen auch an ein Erdbeben, das am 1. Januar 1980 auf São Jorge sowie auf den Nachbarinseln Terceira und Graciosa wütete.
Die Azoren bestehen aus neun grünen Inseln mit einer sattgrünen Vulkan- und Weidelandschaft. Sie verdanken ihre Existenz den Naturkräften, die weit unter der Oberfläche lauern und meistens dösen, so dass nur die Seismografen ganz leichte Erdstösse registrieren. Ab und zu erwachen sie aber, und das macht diese Inseln zur seismo-vulkanischen Risikozone. Just hier treffen und reiben sich drei tektonische Platten – die amerikanische, die afrikanische und die euroasiatische. Seit der Besiedlung der Inseln im 15. Jahrhundert mussten Menschen indes öfter hilflos erleben, wie ihre Häuser niedergerüttelt wurden oder Felder unter Lava verschwanden. In diesen Wochen gilt alle Aufmerksamkeit den Kräften unter der 246 Quadratkilometer grossen Insel São Jorge.
Quälende Ungewissheit
Seit dem 19. März, also seit gut zwei Wochen, kommen die Seismografen und deshalb auch die Bevölkerung nicht zur Ruhe. Rund 25’000 Erdstösse wurden seitdem registriert. Die meisten davon waren für Menschen nicht zu spüren, mehr als 220 davon aber doch. Eine Stärke von 3,8 auf der Richter-Skala erreichte am letzten Dienstag das stärkste Beben – genug, um Tassen im Schrank wackeln zu lassen.
Obwohl die Erdstösse in den letzten Tagen weniger häufig waren, gibt das Zentrum für seismovulkanische Information und Überwachung der Azoren (CIVISA) noch keine Entwarnung. Einige der jüngeren Beben kamen immerhin auch aus einer geringeren Tiefe als die Erdstösse davor, vielleicht infolge einer Ansammlung der nach oben drückenden Magma. Sollte also bald Lava aus dem Meer oder der Erde in die Höhe schiessen?
Für viele Menschen ist diese Ungewissheit über ein allfälliges stärkeres Erdbeben oder einen Vulkanausbruch zur Qual geworden. Simão Silva, ein 53-jähriger Taxifahrer, hat das Beben von 1980 erlebt und blickt zurück. Er war zehn Jahre alt, als dieses Beben 73 Todesopfer forderte, die meisten auf Terceira. Rund 400 Personen erlitten Verletzungen, und weit mehr als 20’000 Personen hatten plötzlich keine Dächer mehr über den Köpfen.
Drachen im Atlantik
Dieses Beben mit einer Stärke von 7,2 auf der Richter-Skala kam ohne Vorwarnung und dauerte elf Sekunden. «Hier bebt jetzt seit Tagen die Erde, und wir wissen nicht, worauf wir uns einstellen sollen», sagt Simão Silva am Telefon. Er hat jetzt natürlich keine Touristen, denen er die Insel zeigen und deren vulkanischen Ursprung erklären kann.
Kurioserweise wirkt die lange und schmale Insel mit dem Namen des Drachentöter-Heiligen just wie das aus dem Meer ragende Rückgrat eines Drachens. Sie entstand einst durch eine Serie von Vulkanausbrüchen in gerader Linie, ist 56 Kilometer lang und maximal 7 Kilometer breit, ihr Kamm von Gipfeln erreicht aber eine Höhe von 1’053 Metern. Entsprechend steil sind die Wege in die Höhe und geradezu halsbrecherisch die gewundenen Pisten zu den «fajãs», kleinen fruchtbaren Ebenen am Fusse gewaltiger Felsen. Manche dieser Ebenen sind nur zu Fuss erreichbar. São Jorge ist ein Traumziel für Wanderungen, wenn nicht gerade die Kräfte tief unter der Erde erwachen.
Immerhin konnten sich die Menschen jetzt vorbereiten für den Fall, dass Schlimmeres bevorsteht. In der letzten Woche hatten annähernd 2’000 der rund 8‘400 Bewohner von São Jorges die Insel schon verlassen. Manche derer, die geblieben sind, schlafen in Zonen der Insel, in denen die Erde weniger bebt, und suchen ihre Häuser nur tagsüber auf.
Eine Lehrerin erzählt, dass sie ihre beiden Kinder zu Verwandten auf das Festland geschickt hat. In ihrer Schule im Städtchen Velas wurde der Unterricht suspendiert. Manche der Kinder wurden auf Schulen in weniger unsicheren Teilen der Insel umverteilt. Für den Fall der Fälle haben Soldaten schon Notunterkünfte mit Matratzen eingerichtet. Natürlich hoffen alle, dass sich diese Einrichtungen als unnötig erweisen und bald wieder der Alltag einkehrt.
Eine Karte, die in Echtzeit die seismischen Aktivitäten auf den Azoren zeigt, ist hier zugänglich.
Fotos: Thomas Fischer