Sie versinken im Morast, in den unübersichtlichen Auwäldern der Loire unweit von Nantes. Manche unter den knapp hundert Menschen verharren hier schon seit Wochen, andere gar seit Monaten. Nur einige von ihnen leben in der unmittelbaren Umgebung.
Angereiste Protestprofi
Es sind die wenigen Bauern, die sich bis heute geweigert haben, ihr Land zu verkaufen, die - anders als die meisten ihrer Kollegen - im Lauf der letzten 20 Jahre nicht resigniert haben vor der Übermacht des Staates und des Grosskonzerns Vinci, der hier gleichzeitig als Baufirma und als künftiger Betreiber des internationalen Flughafens für den gesamten Nordwesten Frankreichs auftritt.
Die meisten in dieser kleinen Hundertschaft sind angereist, zum Teil von weit her, unter ihnen ein paar Deutsche, Holländer und Briten, überwiegend zwischen 20 und 30 Jahre alt, mancher hat sicher auch schon Erfahrungen beim so genannten Schwarzen Block gesammelt.
Gegen Raubbau an der Natur und CO2-Ausstoss
Ein Hauch vom Protest der Globalisierungsgegner gegen die G-8 und Nato-Gipfel Anfang des Jahrtausends weht an diesem 2000-Seelenort Notre Dames des Landes. Doch nicht nur. Die, die hier aktive widerstehen und ihre Sympathisanten, bei der letzten Grossdemonstration waren es immerhin 40 000, in diesem verlorenen Winkel im Westen des Landes, sagen zwei Dinge ganz besonders deutlich.
Zum einen muss ihrer Meinung nach endlich Schluss sein mit dem schier grenzenlosen Zubetonieren und Zuasphaltieren des Landes. Denn in der Tat sind in Frankreich durch den Einfamilienhauswahnsinn der letzten Jahrzehnte, den massenhaften Bau billiger Ortsrandsiedlungen von schlechter Qualität, durch Strassen- und Eisenbahnbau und die Anlage von Industrie- und Kommerzvierteln auf dem flachen Land in den letzten 15 Jahren Natur und Agrarland von der Grösse eines ganzen französischen Departements verloren gegangen!
Und das Zweite, was die Protestierenden im Westen Frankreichs klar sagen: Irgendwann muss auch mal die wirkliche Umkehr beginnen, was den CO2-Ausstoss angeht, muss weniger gefahren und geflogen werden und darf nicht mit einem weiteren Grossprojekt wie Notre Dame des Landes immer noch so getan werden, als würde, ja müsste der Flugverkehr auch in den nächsten Jahrzehnten noch weiter und am besten exponentiell steigen.
Wohl zurecht sagen sie: Angesichts weiter steigender Rohölpreise ist der Zenith des Vielfliegens quer um die Welt wohl definitiv überschritten. Fast nebenbei verweisen sie noch auf die Tatsache, dass Frankreich bereits über das dreifache an Flughäfen verfügt wie der Nachbar Deutschland mit 15 Millionen Einwohnern mehr.
Frankreichs „Stuttgart 21“?
„Notre Dame des Landes wird euer Vietnam sein“, steht vollmundig auf einer Tafel am Strassenrand. Es mag übertrieben und anmassend klingen und doch: Für die Regierung und Premierminister Ayrault gerät dieses Flughafenprojekt mehr und mehr zu einem Sumpf, aus dem sie immer schwerer herauskommen. Rein legal spricht nichts mehr gegen einen sofortigen Baubeginn, alle Genehmigungen liegen nach jahrelangen Rechtsverfahren nun vor, letzte Woche hat sogar ein Gericht die endgültige Räumung des künftigen Baugeländes angeordnet.
Doch vor Ort herrscht nach wie vor der Status quo – die rund hundert Besetzer organisieren ihr Leben, überwacht von mehreren Hundertschaften Bereitschaftspolizei und einigen Hubschraubern – ein Katz- und Mausspiel, das nun schon Wochen dauert. Für die Gegner ist es schon ein Sieg, dass sie jetzt zu Weihnachten immer noch da sind, in ihren notdürftig gezimmerten, mit Traktoren umstellten, einer Trutzburg gleichenden acht Holzhäusern mitten im Wald.
"Gegen diese Welt"
„Gegen den Flughafen und seine Welt“ steht auf einem anderen der vielen Plakate rund um das Zentrum des Widerstands. „Seine Welt“ umschreibt in den Augen der Besetzer das Herkömmliche, das überbrachte Denken, was wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung angeht. Diese Welt, die so tut, als gäbe es keine Krise und könne man einfach so weiter machen, wie bisher.
Diese Welt, in der die Politik verzweifelt versucht so zu tun, als habe sie noch die Macht und doch fast täglich von den Finanzkräften und Kartellen vorgeführt, ja lächerlich gemacht wird. Oder sich von der Wirtschaftsmacht schlicht und ergreifend kaufen lässt. Vinci, der 40 Milliarden schwere Baukonzern, der den Flughafen nicht nur bauen , sondern auch betreiben will, hat den früheren Präfekten des Departements, in dem der Airport entstehen soll, einfach abgeworben, denjenigen, der Dank seiner Funktion über alles und jenes in der Umgebung am besten informiert war, eiskalt eingekauft.
Das Projekt des Premierministers
Und der Politiker, der das Flughafenprojekt über Jahre und Jahre vorangetrieben, ja, es quasi zu seiner persönlichen Angelegenheit gemacht hat, ist kein anderer als der langjährige sozialistische Bürgermeister von Nantes und heutige Premierminister, Jean–Marc Ayrault. Sein Flughafenprojekt ist heute ein gewaltiger Klotz am Bein der Regierung, in der sich schon mehrere Minister hinter vorgehaltener Hand eher despektierlich über dieses Vorhaben geäussert und es als politischen und ökonomischen Blödsinn bezeichnet haben sollen, für den man nun gerade stehen müsse.
Wo ist die Linke?
„Wo ist die Linke?“, fragt ein weiteres Spruchband am Strassenrand. Kein Sozialist, weder einer aus der Fraktion der Nationalversammlung, noch ein Regional- oder Lokalpolitiker der sozialistischen Partei, scheint diese seit Monaten andauernde Protestbewegung im flachen Land unweit der Atlantikküste ernstzunehmen. Und Premierminister Ayrault und seine Regierung verhalten sich beim Umgang mit einem Konflikt auch in diesem Fall um keinen Deut anders als ihre konservativen Vorgänger.
Die von Präsident Hollande während des Wahlkampfs täglich gepriesene Dialogbereitschaft ist angesichts der Entwicklungen vor Ort in Notre Dame des Landes nichts anderes als eine Worthülse. Und wenn es ums ökologische Umdenken geht, scheinen die neuen Machthaber in Paris genau so träge und genau so wenig lernfähig wie andere französische Politikergenerationen, auch wenn sie die Energiewende und den ökologischen Umbau vor den Wahlen auf ihre Fahnen geschrieben und sogar mit den Grünen eine Art Regierungsabkommen geschlossen haben.
Heute haben die Grünen zwei Minister in der Regierung, die zum Thema Notre Dame des Landes gefälligst den Mund zu halten haben. Eine ist die Wohnungsbauministerin und frühere Parteivorsitzende, Cecile Duflot, die noch vor einem Jahr zu den vehementesten Gegnern des Flughafenbaus gehörte und brillianter als jeder andere den ökonomischen und ökologischen Unsinn des Projektes darlegen konnte.
Ein zweites Larzac?
Nur auf den ersten Blick. Der Widerstand gegen den Ausbau eines Truppenübungsplatzes auf dem südfranzösischen Kalkhochplateau des Larzac in den 70-er Jahren fiel noch in das Ende der sogenannten 30 glorreichen Jahre des Wirtschaftsaufschwungs und der quasi Vollbeschäftigung. Die militanten Gegner, die damals zur Unterstützung der Schafbauern des Larzac auf das Hochplateau zogen, waren freiwillige Aussteiger aus einer bestenfalls durch die erste Ölkrise etwas angekratzten Wachstums- und Konsumgesellschaft. Es waren junge Menschen, die andere Lebensformen, andere Formen der Freiheit und des Glücks suchten.
In Notre Dame des Landes ist die Jugend der Krise vor Ort, sind es nicht Aussteiger, sondern Ausgeschlossene, die ein umstrittenes Projekt mit den unterschiedlichsten Mitteln verhindern wollen. Es sind Arbeitslose, Verschuldete und Verarmte, Wohnungslose und junge Menschen ohne jede Perspektive, die sich jetzt mit dem Staat und vor allem mit dem Grosskonzern Vinci anlegen. Der Grundton ist wesentlich härter geworden, die soziale und kapitalismuskritische Komponente des Protestes deutlich ausgeprägter als einst im Larzac.
Hartnäckige Fragen an die Regierung
Immer und immer wieder stellen sie in Notre Dame des Landes zum Beispiel die Frage, auf die die Regierung schlicht keine glaubwürdige Antwort geben kann: Wie ist es möglich, dass der Staat dem multinationalen Konzern Vinci eine derart vorteilhafte Konzession für den Flughafen erteilt hat, die in hohem Masse abhängig ist von einem Wirtschaftswachstum, das heute nur noch als illusorisch zu bezeichnen ist?
Eine Konzession, die zudem völlig im Widerspruch steht zu den Engagements der neuen Regierung hinsichtlich des Kampfs gegen den Klimawandel und für den Erhalt der biologischen Vielfalt und die zudem noch mit dem Makel eines Interessenskonflikts behaftet ist – hat sich doch der frühere Präfekt, der höchste Vertreter des französischen Staates vor Ort, vom multinationalen Baukonzern Vinci abwerben und de facto kaufen lassen.
Hollande wie einst Mitterrand?
Präsident Hollande und seine Regierung stecken in den Feuchtwäldern nordöstlich von Nantes in einem echten Dilemma. Dulden sie die Besetzung des künftigen Flughafengeländes weiter, wird das von vielen im Land als ein erneutes Zögern, ja Nachgeben gewertet werden, als das Fehlen einer klaren Linie und ein weiteres Beispiel für den viel zitierten Zickzack-Kurs der neuen Regierung.
Lassen sie das Gelände räumen, wäre dies nicht nur ein Affront und ein Zeichen der Geringschätzung für alle ökologisch Engagierten in Frankreich, sondern auch ein symbolischer Akt dafür, dass die seit einem Jahrzehnt erste sozialistische Regierung Frankreichs nicht in der Lage ist, Politik auf wirklich andere Art zu betreiben und der in den Fesseln der 5. Republik versteinerten Demokratie Frankreichs neues Leben einzuhauchen.
Schon kommt der Verdacht auf, Hollande könnte am Ende auch nicht anders handeln als einst Francois Mitterrand: Hat man die Wahl erst mal gewonnen, richtet man sich in den so oft kritisierten Institutionen der monarchischen Republik Frankreich gemütlich und dauerhaft ein.