Von Heiko Flottau, Budapest
Das Prunkstück ist 286 Meter lang, seine Bauzeit betrug 19 Jahre, von 1885 bis 1904. Der neogotische Bau, nachempfunden dem Parlament von Westminster in London, beherbergt, direkt am Budapester Donauufer, das ungarische Parlament. Meist war es weitgehend machtlos, etwa zur Zeit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie , in welcher die Krone fast alle Macht auf sich vereinte.
Die Amputationen von Trianon
Aber Immerhin entsprach die Größe des Baus wenigstens der Größe des ungarischen Reichsteiles, denn zu Ungarn gehörte damals u.a. Siebenbürgen, die heutige Slowakei, die heute serbische Vojvodina. Kroatien, damals auch Teil der Doppelmonarchie, wurde von Budapest aus regiert, nicht aus aber Wien. Im Vertrag von Trianon, einem Palast in Versailles, verlor das Königreich Ungarn als einer der Kriegsverlierer 1920 mehr als 70 Prozent seines Territoriums (etwa alle oben genannten Gebiet sowie die Karpato-Ukraine) und etwa 65 Prozent seiner Bevölkerung. Nutzniesser waren praktisch alle umliegenden Staaten.
Unter Hitlers und Moskaus Dominanz
Mit Hilfe Adolf Hitlers gewann Ungarn – von 1920 bis 1944 regiert vom so genannten Reichsverweser Miklos Horthy - zwar einige der in Trianon verlorenen Gebiete zurück. Das neogotische Prunkstück am Budapester Donauufer entsprach wieder in etwa der Grösse des ehemaligen ungarischen Königreiches. Doch 1946 (im Vertrag von Paris) gingen die mit Hilfe Nazideutschlands wieder gewonnenen Gebiete erneut verloren. Wieder glich das Gebäude einer leeren Hülle – steinernes Monument eines uneingelösten Versprechens an die Zukunft.
Denn unter den moskautreuen Kommunisten hatte das Parlament in seinem grossen Gehäuse ohnedies keinerlei Rechte.
Orbans Zweidrittelmehrheit
Heute regiert Viktor Orban das Land – mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die insgesamt 386 Abgeordneten werden sich zwar manchmal verlaufen in den weitläufigen Räumen des fast 110 Jahre alten Gebäudes. Aber nach der Wende von 1989 wurde das Parlament erstmals Herr der Geschicke Ungarns. Und für Viktor Orban ist das Parlament noch wichtiger als das Verfassungsgericht.
Kein Wunder, bei seiner satten Mehrheit kann er behaupten, er habe vom ungarischen Volk den Auftrag bekommen, das Land nach seinen – oft sehr nationalistisch anmutenden - Vorstellungen zu gestalten. Wäre man zynisch, könnte man von Orbans Räterepublik sprechen, denn nichts anderes bedeutet es, wenn eine Gruppe von Menschen, wenn auch frei gewählt, Kontrolle über ein ganzes Land hat oder doch anstrebt.
Nationalistische Wallungen trotz EU
Die EU hält einige Bestimmungen der Verfassung für unvereinbar mit europäischem Recht. Deshalb hat sie Vertragsverletzungsverfahren begonnen, die Ungarn das Stimmrecht in der EU kosten können – im Extremfall. Insgeheim nährt sie wohl die Hoffnung, dass der nationale Spuk wie einst in der Slowakei unter Vladimir Meciar und in Polen mit den Kaczyński-Brüdern vorübergehen möge.
Die Frage aber lautet: wie kommt es, dass in postkommunistischen Ländern wie etwa in Ungarn, in Kroatien, das am 1.Juli Mitglied der EU wurde, auch in Serbien eine Art Renationalisierung zu beobachten ist - wo doch Ungarn schon Mitglied der EU ist und Serbien, sowie auch Bosnien und Herzegowina, in die EU streben? Die Union ist immerhin eine Gemeinschaft, welche engstirnigen Nationalismus überwinden und damit dauerhaften Frieden dort stiften will, wo Jahrhunderte lang immer wieder Krieg herrschte.
Das neue Gesicht nach der Staatswirtschaft
Was also geschah in Ungarn ? Die Fahrt vom Flughafen Budapest in die Innenstadt zeigt das neue Gesicht des Landes. Alle möglichen westlichen Firmen, wie etwa der Discounter Lidl, haben sich hier festgesetzt. Wo früher die Staatswirtschaft herrschte, regiert jetzt die vom Westen zur Bedingung des EU-Beitritts gemachte so genannte freie Marktwirtschaft. Westliche Warenketten machen gute Geschäfte, haben auch Arbeitsplätze geschaffen.
Aber anderswo sieht es trister aus – etwa in der Stadt Miscolc in der Nähe der ukrainischen Grenze. Hier waren einst 20 000 Menschen in der Stahlindustrie beschäftigt, heute rottet die einstige sozialistische Herrlichkeit vor sich hin, wie Besucher berichten, und viele Menschen sind arbeitslos.
Pleite mit Schweizerfranken
„In den 1990iger Jahren erreichte die Arbeitslosigkeit 30 Prozent der Arbeiterschaft. Die Textil und Bankenwirtschaft haben sich allmählich entwickelt, aber viele Menschen verschuldeten sich und sind ruiniert“, sagt György Mike von der Stadtverwaltung Miscolc. Zu schnell wurden die alten Strukturen, meinen manche, abgebaut, zu schnell sind viele auf die Verheissungen des Kapitalismus herein gefallen – manche nahmen sogar Fremdwährungskredite auf, meistens in Schweizerfranken.
Mit der Bankenkrise war die Herrlichkeit vorbei. Zur Zeit der Kreditaufnahme war ein Schweizerfranken 150 Forint wert, während der Krise waren es 239. Die Folge: Etwa 260 000 ungarische Haushalte konnten ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen. Die Regierung Orban sprang in einigen Fällen ein, aber für viele war der Kollaps nicht zu vermeiden.
Kadars neue Beliebtheit
Es überrascht wenig, dass der beliebteste ungarische Politiker der Vergangenheit immer noch der Kommunist Janos Kadar ist. Mit Hilfe der Sowjetunion schlug er zwar 1956 den ungarischen Volksaufstand nieder. Aber dann leitete er eine neue Politik ein. Kleinbetriebe durften wieder in privater Hand sein, der Eigeninitiative wurde mehr Raum gegeben.
Vor allem aber handelte Kadar nach einem in der kommunistischen Welt neuen Leitspruch: „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns.“ Wer, demnach, nicht aktiv gegen das Regime revoltierte, war Verbündeter und genoss seine kleinen Freiheiten. Unter den damaligen Umständen garantierte dieser „Gulasch-Kommunismus“ vielen einen bescheidenen Wohlstand, man konnte sich in, einer gewiss oft kleinbürgerlichen Ecke gut einrichten.
Die Kommunisten und die Wende
So ist es auch nicht verwunderlich, dass das Jahr der Wende 1989 in Ungarn nicht durch eine Revolution von unten eingeleitet wurde, sondern durch die Kommunisten selber - nämlich durch den letzten kommunistischen Premierminister Miklós Németh. Der vollendete, was sich in den Jahrzehnten zuvor angebahnt hatte. Die kommunistische Führung hatte eingesehen, dass man – auch um das eigene System letztlich zu retten – mehr marktwirtschaftliche, auch ein paar demokratische Reformen in Angriff nehmen müsse.
Montagsdemonstrationen wie etwa in Leipzig gab es in Budapest nicht, auch einen Lech Walesa wie in Polen hat das Land nicht hervorgebracht – die verhältnismäßig guten Lebensbedingungen in Ungarn hatten einen Volkshelden wohl nicht nötig.
"Kampf um unsere Souveränität"
Heute – wie auch zu Kadars Zeiten – ist die wirtschaftliche Krise kaum schnell zu bewältigen – wiewohl Orban ankündigte die Staatsschulden des Landes schneller abbauen zu wollen als ursprünglich vorgesehen. Das Vakuum aber, welches der wirtschaftliche Misserfolg und das Missmanagement seiner Vorgängerregierungen hinterlassen hatte, füllte Orban mit Tönen, die bei vielen Ungarn gut ankamen. Ungarn stehe, verkündete er im September 2011, „vor dem Kampf um seine Souveränität“. Nicht ganz zu Unrecht machte Orban auch ausländische Wirtschaftsmächte für die neue ungarische Misere verantwortlich - Schweizer Banken etwa oder den Energiekonzern EON, der sich in Ungarn niedergelassen hatte und durch hohe Preise gute Gewinne erzielte.
Orban beschloss, EON auszuzahlen und die Energieversorgung wieder in nationale Regie zu übernehmen. Und er kündigte an, in China, Russland und in der arabischen Welt neue wirtschaftliche Verbündete zu suchen.
Neue Leere mit alten Parolen füllen
Wo der gesamtgesellschaftliche Konsens brüchig geworden ist, wo sich die Verheissungen auf die Zukunft nicht erfüllen, versuchen Politiker wie Orban die neue Leere mit alten Parolen zu füllen. Orban selbst stammt nicht aus dem liberalen Bürgertum der Hauptstadt, sondern aus der südwestlich gelegenen, eher ländlichen Stadt Székesfehérvár (dem ehemaligen Stuhlweißenburg). Seine „Ungarische Zivile Bürgerunion“ (Fidesz) war ursprünglich eine liberale Partei.
Als aber 1994 Postkommunisten und Liberale eine Regierung bildeten (nachdem die konservative Vorgängerregierung des „Ungarisch-Demokratischen Forums“ in jeder Beziehung gescheitert war), sah Orban eine rechte Lücke, die er zu füllen gedachte. Auf seine eigene Anregung hin (Orban war 2010 zum Premierminister gewählt worden) verabschiedete das Parlament 2011 ein neues „Grundgesetz Ungarn“. Diese neue Verfassung revitalisiert die nationalen, christlichen Wurzeln des Landes.
“Gott segne die Ungarn“
Dort heißt es am Anfang:„Gott segne die Ungarn.“ Dann folgt ein „Nationales Bekenntnis“. In ihm beruft sich Ungarn auch auf seine mittelalterliche Vergangenheit, insbesondere auf den im Jahre 1000 gekrönten Stephan I., den Nationalheiligen, den Gründer des christlichen Ungarn.
„Wir, die Mitglieder der ungarischen Nation erklären zu Beginn des neuen Jahrtausends in der Verantwortung für alle Ungarn folgendes: Wir sind stolz darauf, dass unser König der Heilige Stephan I. den ungarischen Staat vor tausend Jahren auf festen Fundamenten errichtete und unsere Heimat zum festen Bestandteil des christlichen Europa machte ... Wir erkennen die Rolle des Christentums bei der Erhaltung der Nation an. Wir achten die unterschiedlichen religiösen Traditionen des Landes.“
Wendiger Taktiker Orban
Die EU ist irritiert. Die Gemeinschaft, die engstirnigen Nationalismus überwinden wollte, sieht sich einer nationalen Renaissance gegenüber, mit der sie nichts anfangen kann. Gegen Verletzungen europäischen Rechtes durch Ungarn kann die EU, wie bereits geschehen, mit einem Vertragsverletzungsverfahren vorgehen. Doch das Phänomen einer nationalen, oft nationalistischen Renaissance ist schwerer zu bekämpfen.
Und Orban erweist sich als guter Taktiker. Auf Ermahnungen aus Brüssel reagiert er stets mit dem Versprechen, seine Politik modifizieren zu wollen. Dem rechten Spektrum im Lande gegenüber, dem er viele Zugeständnisse macht, weil er dessen Wählerstimmen in sein politisches Kalkül einbezieht, kann er dann beteuern, er habe vieles für die ungarische Nation getan, mehr aber lasse die Kommission in Brüssel nicht zu.
Schatten des Horthy-Regimes
Denn das Ungarn von heute hat ein Problem mit dem Ungarn von vorgestern – mit dem Ungarn des so genannten Reichsverwesers Miklos Horthy. In Budapest am Donauufer, nicht weit vom schönen Parlamentsgebäude entfernt, sind eiserne Schuhe in das Pflaster eingelassen. Sie erinnern an jene Juden, die Anfang 1944 von den rechtsradikalen Pfeilkreuzern erschossen wurden und deren Körper, manchmal erst halbtot, in der eisigen Donau verschwanden. Eine der wenigen, die durch Zufall überlebten war Agnes Heller, damals fünfzehn Jahre alt, heute Philosophin und Inhaberin des Hannah-Arendt Lehrstuhles in New York.
Viele Ungarn gedenken jährlich in einem „Marsch des Lebens“ an die über 500 000 Juden, die zum größten Teil aus Ungarn verschleppt und im KZ Auschwitz ermordet wurden. Es war kein anderer als Adolf Eichmann, der diese Judentransporte organisiert hat.
Unter dem „Reichsverweser“ Horthy waren Juden zwar nicht direkt physisch verfolgt, wurden aber in vielen Lebensbereichen diskriminiert. Ungarn erließ schon in den 1920-er Jahren, also lange vor Hitler, spezielle „Judengesetze“. Nachdem sich Horthy angesichts der drohenden Niederlage von Hitler abgewandt und geflüchtet war, hatte Nazi-Deutschland Ungarn besetzt und noch in den letzten Kriegsmonaten sein Vernichtungswerk an den Juden begonnen.
“Marsch des Lebens“ und Jobbik
Der „Marsch des Lebens“ ist eine Seite des heutigen Ungarn. Aber es gibt auch die rechtsradikale Partei Jobbik, die „Bewegung für ein besseres Ungarn“. Sie errang bei den Wahlen 2010 siebzehn Prozent der Stimmen. Sie forderte kürzlich, Parlamentsabgeordnete, welche die ungarische und israelische Staatsangehörigkeit haben (also Juden), müssten sich registrieren lassen, da sie eine nationale Gefahr darstellten.
In der Öffentlichkeit wurde der Eindruck, vermutlich gewollt, erweckt, als ob sich alle Juden des Landes melden sollten. Premier Orban distanzierte sich von solchen Äußerungen. Doch das Thema lässt die extreme Rechte Ungarns seitdem nicht los. Manche Ungarn freuen sich über eine, wenn auch wohl begrenzte Horthy-Renaissance.
Die Greueltaten der „Pfeilkreuzler“
Horthy war ein bekennender Antisemit. Er zog mit Hitler in den Krieg gegen die Sowjetunion. Als der Krieg verloren ging, ordnete Horthy - wohl um der Verfolgung als Kriegsverbrecher zu entgehen - das Ende der Deportationen an, einen Zug mit 1700 Juden, die nach Auschwitz verschleppt werden sollten, liess er zurückholen. In den Nürnberger Prozessen diente Horthy als Zeuge, er starb im Portugal des Faschisten Salazar, der ihm Asyl gewährt hatte.
In Ungarn wüteten in den letzten Kriegsmonaten die Pfeilkreuzer, eine 1939 gegründete rechtsradikale Partei. Vom Oktober 1944 bis Ende März 1945 töteten sie in dem noch nicht von der Roten Armee besetzten Teilen Ungarns mehrere zehntausend Menschen, vornehmlich Juden. Die eisernen Gedenkschuhe am Budapester Donauufer erinnern an diese Greueltaten.
Angesichts dieser Vergangenheit und des mit ihr neuerlich wieder belebten Antisemitismus ist es nicht verwunderlich, daß der „Jüdische Weltkongress“ im Mai seine Jahrestagung in Budapest abhielt. Präsident Ronald Lauder sprach im Vorfeld davon, dass Ungarn seinen Kompass verloren habe. Und grosse Erwartungen knüpfte man an die Rede von Viktor Orban. Der verurteilte zwar jedweden Antisemitismus, er versprach, das Gedenken an den Holocaust hochzuhalten – aber vielen Delegierten erschienen Orbans Worte dennoch blass, der Beifall war verhalten.
Was tun in der EU mit einem Ungarn, das die Gemeinschaft zwar keineswegs aufgeben, das auch keine Grenzkorrekturen fordert, das sich aber innerhalb der Union so prononciert als Nationalstaat gebärden will wie nur irgend möglich? Die EU kann ermahnen und mit juristischen Verfahren drohen. Doch Rechtsradikalismus und Antisemitismus bekämpfen muss das Land selber – wie andere Mitgliedsstaaten auch.
Litertur: Laurent Geslin und Sebastian Gobert: „The Kingdom of Greater Hungary - again?“ In: Le Monde Diplomatique, engl. Internetausgabe Mai 2013.
Weitere Quellen: Christian Schmidt-Häuer „Budapester Tragödien“. In: Die Zeit vom 2. Mai 2013; Bernhard Albrecht: „Wiederkehr des Hasses“. In: Stern, 29.Mai 2013. Bücher: Paul Lendvai: „Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch“, 2010. - Über die spätkommunistischen Phase: Andreas Schmidt-Schweizer: „Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation in Ungarn. Politische Veränderungsbestrebungen innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) von 1986 bis 1989“ , 2000.
Ende der Serie. Die ersten drei Berichte beschäftigten sich mit Kroatien, Serbien sowie Bosnien und Herzegowina.
Reise durch Kroatien, Serbien, Bosnien, Ungarn
Teil 1: Reise durch ein altes Kriegsgebiet: Kroatien
Teil 2: Reise in ein altes Kriegsgebiet: Serbien
Teil 3: Reise in ein altes Kriegsgebiet: Bosnien/Herzegowina