Frankreich verliert eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten seiner Nachkriegsgeschichte. „In Zeiten der Mittelmässigkeit wie heute“ – so die Reaktion von Jean Louis Debré, Sohn von de Gaulles legendärem Premierminister und Vater der Verfassung der 5. Republik, Michel Debré – „ist es eine Ehre, an eine Person erinnern zu dürfen, mit der man Worte wie Grösse, Würde und Wille in Verbindung bringt.“
Staatspräsident Macron twitterte: „Mögen unsere Mitbürger sich an ihrem Beispiel inspirieren. Sie werden in ihr das Beste Frankreichs finden.“
Fingerspitzengefühl und Durchhaltevermögen
Simone Veils Tod hat innerhalb weniger Stunden eine regelrechte Welle von Ehrerbietung und Respekt ausgelöst. Ohne Übertreibung kann man sagen: Frankreich verneigt sich vor einer aussergewöhnlichen Frau.
Vor einer, die Auschwitz überlebt hat, die im Alter von 17 – eine Jugendliche von umwerfender Schönheit, die ihr das Leben retten sollte – aus Nizza deportiert wurde und deren Mutter nach dem Todesmarsch im März 1945 in ihren Armen gestorben war. Vor einer Frau, die später nach dem – auch in Frankreich – langen Schweigen über den Horror der Vernichtungslager mit grossem Fingerspitzengefühl und Durchhaltevermögen so viel für die Erinnerungsarbeit über den Holocaust getan und sich jahrzehntelang dafür eingesetzt hat, dass die Worte „nie wieder“ keine leeren Worte bleiben.
Abtreibungsgesetz
Vor allem aber zollt man heute der Frau Respekt, die ab 1974 – als die Politik noch fast ausschliesslich von Männern beherrscht war – unter Präsident Valéry Giscard d'Estaing und Premierminister Jacques Chirac Gesundheitsministerin war und in dieser Rolle zu einer Ikone wurde.
In einem monatelangen geradezu dramatischen Kampf – auch gegen die alten Kämpen ihres eigenen politischen Lagers, ja unter Drohungen gegen ihre Person – hat sie damals in Frankreich das Recht auf Abtreibung durchgesetzt; bis heute spricht man von der „Loi Veil“.
Historisch ist ihre Rede vom 21. November 1974 in der Nationalversammlung, als sie angesichts wüster Beschimpfungen und machistischer Zwischenrufe mit den Tränen kämpfend ihren Gesetzestext verteidigte.
Drei Tage und zwei Nächte hat Simone Veil diese Debatte durchgehalten, in deren Verlauf sie sich sogar sagen lassen musste, es sei doch merkwürdig, dass ausgerechnet sie, eine Auschwitzüberlebende, sich für das Recht zum Töten ausspreche. Bis zuletzt hatte sie die diskrete, aber feste Unterstützung von Jacques Chirac. Am Ende wurde das Gesetz mit den Stimmen der Linken und des Zentrums und gegen die der Altgaullisten angenommen – mit 284 gegen 189 Stimmen.
Damals sassen 481 Männer und ganze 9 Frauen im Parlament.
Die Europäerin
Simone Veil war wohl auch auf Grund ihrer persönlichen Geschichte eine überzeugte Europäerin der ersten Stunde, war von 1979 an drei Jahre lang die erste Präsidentin des Europaparlaments, hatte in jener Zeit den deutschen Karlspreis angenommen und am 27. Januar 2004, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, im deutschen Bundestag eine grosse und sehr eindringliche Rede gehalten.
Darin hat sie als Überlebende von Auschwitz die Erinnerungsarbeit in Deutschland gewürdigt und gleichzeitig vor Rückfällen in der Zukunft gewarnt, unter anderem mit den Worten: „Zivilcourage, Toleranz und die Achtung des anderen: Das sind die Werte Europas, die – wie die Geschichte des Nationalsozialismus gezeigt hat – in den dunkelsten Stunden am bittersten Not tun."
Die Ehre ihrer Anwesenheit
Im Frühjahr 2013 hatte das Ehepaar Lilianne und Raphael Esrail, als erste Überlebende von Ausschwitz überhaupt, akzeptiert, von Deutschland in der Residenz des deutschen Botschafters in Paris das Grosse Bundesverdienstkreuz verliehen zu bekommen. Simone Veil war unter den Gästen. Die Zeit ihres Lebens aufrechte Frau sprach damals nicht mehr, sie sass – mit dem für sie so typischen Knoten im Haar und dem unvergleichlichen Blau ihrer Augen – wie abwesend am Rande, liebevoll umsorgt von ihrem Mann. Die Reden schienen an ihr vorbeizugehen, aber sie war da, und es war eine Ehre.