Seit zwei Monaten sprechen sich konstant zwei Drittel der französischen Bevölkerung gegen Präsident Macrons Rentenreform aus, die sie als brutal und ungerecht empfinden. Millionen Menschen haben an sieben Aktions- und Streiktagen dagegen demonstriert. Den Hausherrn im Élyséepalast scheint das seit Wochen nicht weiter zu stören. Das Reformgesetz könnte, trotz aller Proteste, noch diese Woche verabschiedet werden.
Der französische Senat, die zweite Kammer, hat dem Rentenreformgesetz Ende letzter Woche bereits zugestimmt, heute werden am mittlerweile achten landesweiten Aktionstag erneut Hunderttausende bei Protestmärschen auf den Strassen sein, während im Parlament eine paritätische Kommission aus sieben Senatoren und sieben Abgeordneten der Nationalversammlung tagt, die sich auf einen endgültigen Text einigen soll, welcher an diesem Donnerstag in die Nationalversammlung zurückkommt und dort in einer «feierlichen Abstimmung», wie es heisst, endgültig verabschiedet werden soll.
Tag der Entscheidung
Bis dahin, so die Schlagzeilen mehrerer Zeitungen in den letzten Tagen, steht der Regierung unter Elisabeth Borne jedoch der «kalte Schweiss» auf der Stirn. Denn sie ist sich bis zur Stunde immer noch nicht sicher, ob sie es schafft, eine Mehrheit von derzeit 287 der 593 Abgeordneten zusammenkratzen zu können.
Alleine verfügt das Lager Macrons nur über eine relative Mehrheit von 250 Abgeordneten, aber selbst unter diesen könnte es einige Abtrünnige geben.
Für eine absolute Mehrheit zählt die Regierung nun seit Wochen auf die Inhaber der verbliebenen 61 Mandate der einst grossen, konservativen Partei «Les Républicains».
Doch auch dort gibt es, anders als im Senat, eine ganze Reihe von Volksvertretern, die diese Reform nicht mittragen wollen.
Dieser Donnerstag wird ein wilder, bewegter, ja turbulenter Tag in der französischen Nationalversammlung werden. Ein Tag, an dem sich die Regierung irgendwann entscheiden muss, ob sie das Rentenreformgesetz zur Abstimmung freigibt oder aber erneut, bereits zum 12. Mal in dieser noch jungen Legislaturperiode, den berühmten Artikel 49.3 der französischen Verfassung hervorzaubert, der es ermöglicht, ein Gesetz auch ohne Abstimmung im Parlament zu verabschieden.
Doch diesen Paragraphen 49.3. in der gegenwärtigen Situation anzuwenden, wäre für Macron und seine Regierung eine Bankrotterklärung. Ein Gesetz, von dem Abermillionen Franzosen aktuell oder in Zukunft betroffen sind und über das monatelang gestritten wurde, auf diesem Weg und gegen alle Proteste durchzusetzen, ist im Grunde ein Scheitern, ein Eingeständnis der Schwäche und ein Symbol für ein klares demokratisches Defizit im politischen Regelwerk Frankreichs. Bis Donnerstagabend, ja bis weit in die Nacht hinein werden die Kontrahenten in der Nationalversammlung und ein Gutteil der Franzosen also den Atem anhalten.
Macron abgetaucht
Währenddessen schweigt der Vielredner Emmanuel Macron und versteckt sich. Dabei ist diese umstrittene Rentenreform ja seine grosse Reform, die er als wichtigste Tat seiner zweiten Amtszeit sieht und mit der er sich eine Art Denkmal setzen will. Doch Frankreichs Präsident hat sich mit diesem überstürzt erarbeiteten und definitiv zum falschen Zeitpunkt präsentierten Reformpaket in eine ziemlich unangenehme, ja mittelfristig angesichts der zunehmenden Wut in der Bevölkerung gefährliche Situation für das gesamte Land hineinmanövriert.
Nun, da es in Frankreich brodelt, scheint es dem Präsidenten plötzlich die Sprache verschlagen zu haben. «Bei Fragen, Unklarheiten, oder Kritik wenden Sie sich bitte an die Regierung», könnte die Ansage auf seinem Anrufbeantworter lauten.
In erster Linie sind damit die Premierministerin und der notorisch glücklose und überforderte Arbeitsminister gemeint. Nach der Logik: Der Präsident hat die grosse Vision, die Regierung ist für die Kleinarbeit zuständig und hat, wenn es stürmisch wird, gefälligst den Kopf hinzuhalten.
Statt Erklärungen Widersprüche
Dieses Vorgehen ist, nebenbei bemerkt, ein Paradebeispiel dafür, wie das überkommene, ja im Grunde lächerliche französische System mit der Doppelspitze von Präsident und Premierminister funktioniert und wie es im Laufe von 60 Jahren mit dazu beigetragen hat, das Vertrauen der Franzosen in die Institutionen ihres Landes zu ruinieren.
Denn sollte diese jetzt seit zwei Monaten andauernde Schlacht um die Rentenreform für Macron schlecht ausgehen, hat das für ihn selbst keinerlei Folgen. Fünf Jahre lang ist der Hausherr im Élysée vor niemandem verantwortlich, auch nicht vor der Nationalversammlung. Und Macron muss nicht einmal daran denken, dass er wiedergewählt werden möchte. Nach zwei Amtszeiten ist 2027 Schluss für ihn.
Sollte etwas schieflaufen, wird die Premierministerin nicht mehr als eine Sicherung sein, die rausspringt und durch eine neue ersetzt wird. Vom Arbeitsminister ganz zu schweigen, der nach der zweimonatigen Gewalttour sogar physisch nicht mehr in der Lage scheint, diese immer noch von 70 Prozent der Franzosen abgelehnte Reform zu verteidigen. Ein Reformprojekt, das nach Ansicht der meisten Experten so schlecht gestrickt ist, dass es für die Bevölkerung unverständlich bleibt. Ja, sogar die Regierung selbst und ihre Sprachrohre haben sich über Wochen hinweg unfähig gezeigt, den Franzosen dieses Reformvorhaben wirklich zu erklären, so als hätten sie es selbst nicht verstanden, und verstrickten sich dementsprechend permanent in Widersprüche.
Das Kalkül Macrons
Der französische Staatschef, der sich rargemacht hat, ist sich jedoch offensichtlich sicher, diese Reform letztlich durchdrücken zu können, koste es, was es wolle und sei es, und das mit ziemlicher Sicherheit, den sozialen Frieden im Land während der verbleibenden vier Jahre seiner Amtszeit.
Sein zynisches Kalkül, mit dem er letztlich durchkommen dürfte, ist im Grunde ganz einfach: Die verarmte, arbeitende, gering verdienende Bevölkerung Frankreichs hat einfach nicht die materiellen Mittel, einen langen Streik durchzustehen, zumal in einer Zeit der galoppierenden Inflation.
Die Gewerkschaften hatten vergangene Woche dazu aufgerufen, das Land zum Stillstand zu bringen. Wirklich gelungen ist das nicht. Und ebenso wenig konkrete Folgen hatte der Appell einer Gewerkschaft, die französische Wirtschaft in die Knie zu zwingen.
Allerdings: In mehreren Berufssparten sind dauerhafte Streiks im Gang. Die Müllarbeiter in Paris und einem halben Dutzend anderer Städte sind seit Tagen im Ausstand, die Elektrizitätsarbeiter drosseln die Produktion der Atomkraftwerke, im Bahnverkehr fahren immer noch nur rund 60 Prozent der Züge, die Abfertigung in mehreren Häfen des Landes, wie in Marseille und Le Havre, bleibt gestört, die Raffineriearbeiter streiken nach wie vor, und hier und da kommt es bereits wieder zu ersten Strassenblockaden, etwa um Auslieferungen bei Grossunternehmen wie Michelin zu verhindern.
Macron abgetaucht
Inzwischen wirkt Macron auf die Franzosen wie einer, der sich seit Anfang des Jahres in seinem Elfenbeinturm verkrochen und diese Kraftprobe zu einer rein persönlichen Angelegenheit gemacht hat, bei der nur eines zählt: Jupiter darf sein Gesicht nicht verlieren.
Gleichzeitig flieht der Staatschef regelmässig ins Ausland, besonders an Tagen, da daheim die Gegner seiner Reform zu Hunderttausenden auf den Strassen sind.
Am 7. März waren es, laut Angaben des Innenministeriums, 1,3 Millionen (laut Gewerkschaften 3,5 Millionen) in über 300 kleinen, mittleren und grossen Städten des Landes. Es war der grösste Demonstrationstag in Frankreich seit Jahrzehnten. Eine Reaktion des Präsidenten aber blieb aus.
Am Abend des beeindruckenden Aktionstages richteten die Chefs aller acht Arbeitnehmerverbände der in Frankreich so seltenen gewerkschaftlichen Einheitsfront einen Brief an Emmanuel Macron, in dem sie ihn aufforderten, sie dringend im Élyséepalast zu empfangen. Ein Brief, in dem es heisst: «Sie und ihre Regierung schweigen angesichts dieser gewaltigen sozialen Bewegung. Für uns stellt das Fehlen einer Antwort von Ihrer Seite ein schwerwiegendes demokratisches Problem dar, welches unumgänglich zu einer Situation führen wird, die explosiv werden könnte.»
Der Präsident liess sich 48 Stunden Zeit, bevor er der Anfrage eine Absage erteilte, in einem Brief, der mit Floskeln gespickt war wie: «Meine Regierung ist jederzeit offen für einen Dialog». Gleichzeitig gestand Macron immerhin ein, dass er sich des Unmutes im Lande durchaus bewusst sei, beendete den Brief allerdings mit dem Satz, diese Rentenreform müsse und werde zu Ende gebracht werden.
Lügen, Halbwahrheiten, Ungereimtheiten
Sicher ist, dass kaum eine Regierung jemals eine Reform so schlecht verkauft hat wie Macron und das Kabinett unter Premierministerin Borne jetzt diese Rentenreform.
Das erste Schlagwort, das von Anfang Januar an die Runde machte, lautete: «Diese Reform ist gerecht.» Als dann aber klar wurde, dass die Arbeiter am unteren Rand der Lohnskala die Hauptlast dieser Reform zu tragen haben werden und dass ausgerechnet die Frauen, oft mit einer sehr unregelmässigen Berufskarriere, ganz besonders unter dieser Reform leiden werden, konnte niemand mehr verstehen, was an dieser Reform gerecht sein sollte.
Also liess man das mit der Gerechtigkeit fallen und deklarierte, diese Reform sei absolut nötig, um das französische Rentensystem an sich zu retten. Auch dieses Argument konnte nicht annähernd glaubwürdig begründet werden. Gleich mehrfach wurde nachgewiesen, dass das französische Rentensystem weit davon entfernt ist, vor dem unmittelbaren Zusammenbruch zu stehen.
Dass der irrlichtende Arbeitsminister, ein früherer Sozialist, dann auch noch gewagt hat, diese Reform als eine «linke Reform» zu bezeichnen, brachte die Menschen noch zusätzlich auf die Palme.
Und vor allem hat in Frankreich so gut wie niemand verstanden, warum für Macron nach zwei Jahren Pandemie, die die französische Gesellschaft reichlich ausgelaugt und verunsichert zurückgelassen haben, angesichts des Krieges in der Ukraine und vor allem auch angesichts der Klimakrise sowie der herrschenden Inflation nun ausgerechnet diese Rentenreform absolute Priorität haben musste. So mancher fragte sich, ob dem Staatschef das politische Gespür nun völlig abhanden gekommen sei.
Die grosse Lüge
Um der Reform zumindest einen kleinen sozialen Anstrich zu verpassen, hat man von Regierungsseite dann hervorgehoben, dass die Mindestrente auf 1’200 Euro erhöht würde, was sich durchaus gut anhört. Die breite Öffentlichkeit hatte verstanden: Die fünf Millionen Pensionisten, die bislang weniger als 1’200 Euros pro Monat erhalten, würden davon profitieren.
Als Experten und Oppositionspolitiker aber ihre Nase tiefer in diese angekündigte Massnahme steckten, kam heraus, dass die Reformer in diesem Fall schlicht gelogen, beziehungsweise einiges bewusst nicht gesagt hatten. Am Ende musste der im Kreis rudernde Arbeitsminister eingestehen: Diese Massnahme wird maximal 20’000 Personen zugutekommen.
Die Mähr von der Legitimität
Auch das immer wieder vorgekaute Argument, diese Rentenreform sei ein zentraler Punkt in Macrons Wahlkampfprogramm 2022 gewesen und er sei mit diesem Programm schliesslich wiedergewählt worden, ist formal zwar keine Lüge, zumindest aber heuchlerisch.
Erstens hat – man erinnert sich – der damals bereits amtierende Präsident Macron im Frühjahr 2022 so gut wie überhaupt keinen Wahlkampf geführt, so als hätte er das einfach nicht nötig.
Zweitens hat Macron im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl dann 27,85% der Stimmen und nicht über 50% erzielt. Knapp 28% entsprechen ungefähr der Zahl derjenigen, die heute seine emblematische Rentenreform gutheissen, während sie von 70% der Franzosen abgelehnt wird.
Drittens ist glasklar, dass Macron die 58,5 % im zweiten Wahlgang – bereits satte 8% weniger als 2017 – nie und nimmer für sein Rentenreformprojekt und sein Programm insgesamt erhalten hat, sondern dass Millionen Französinnen und Franzosen aus dem politischen Zentrum und von der Linken – wie übrigens bereits fünf Jahre zuvor – nur aus einem einzigen Grund für ihn gestimmt hatten, nämlich um Marine Le Pen am Einzug in den Élyséepalast zu hindern.
Der wiedergewählte Präsident hatte noch am Abend seines Wahlsiegs betont, er sei diesen Millionen Wählern von anderen politischen Ufern verpflichtet. Ein Satz, den er wohl schon am folgenden Tag wieder vergessen hatte. Wie auch immer: Emmanuel Macron war sich nach seinem Wahlsieg Ende April 2022 durchaus bewusst, dass er von den Wählern in der entscheidenden Stichwahl alles andere als einen Blankoscheck oder gar ein Mandat für diese Rentenreform erhalten hatte.
Und danach?
Eines scheint sicher: Macron wird nicht tun, was einige seiner Vorgänger getan haben, nämlich angesichts der Massenproteste einen Rückzieher machen.
François Mitterrand wollte 1984 den katholischen Privatschulen den Geldhahn abdrehen. Ein Aufschrei ging durch die Reihen der Konservativen und die katholische Basis. Über Monate wurden die Demonstrationen immer grösser, am Ende zogen weit über eine Million Menschen in einem Sternmarsch durch Paris zur Bastille; Präsident Mitterrand zog den Gesetzentwurf zurück.
Jacques Chirac verzichtete 1995 nach langen Streiks der Verkehrsbetriebe auf eine Rentenreform und brachte es 2006 sogar fertig, ein bereits verabschiedetes Gesetz für einen heftig kritisierten besonderen Arbeitsvertrag für Berufsanfänger nicht anzuwenden, weil die Proteste der französischen Jugend auch nach Verabschiedung des Gesetzes kein Ende nahmen.
Emmanuel Macron jedoch beherzigt nicht die alte Weisheit, womit man nicht gegen sein Volk regieren kann. Er wird nicht nachgeben, es sei denn, das Gesetz zur Rentenreform kommt am Donnerstag nicht durch die Nationalversammlung. Wie er jedoch den immer grösser werdenden Graben zwischen sich und der Bevölkerung reparieren will und die verbleibenden vier Jahre seiner Amtszeit in einer einigermassen friedlichen Atmosphäre hinter sich bringen will, bleibt sein Geheimnis.
Denn nach dem grossen Engagement von Millionen Bürgern und den Massendemonstrationen der letzten zwei Monate, kann im Grunde nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergegangen werden. Inwieweit die Proteste weitergehen, wenn das Gesetz verabschiedet ist, welche Formen sie annehmen, steht noch in den Sternen.
Aber manchmal sagte man sich im Laufe der letzten Wochen: Hätte Frankreichs Präsident eine zweite Gelbwestenbewegung provozieren wollen, so hätte er sich in der Auseinandersetzung um die Rentenreform genau so, wie er es getan hat, und nicht anders verhalten. In seinen Augen hat Macron die Schlacht um die Rentenreform gewonnen, im Grunde aber hat er verloren.
Denn kommt dieses neue Rentengesetz an diesem Donnerstag durchs Parlament und in wenigen Wochen zur Anwendung, werden viele Franzosen die angestauten Frustrationen, ihre Enttäuschung, ja ihre Wut auf Regierung und Präsidenten nicht einfach hinunterschlucken.
Sollten sie es dennoch tun und zumindest nach aussen wieder zur Tagesordnung übergehen, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass bei den nächsten Wahlen noch weniger Bürger an die Urnen gehen, weil sie schlicht resigniert haben, und von denen, die zur Wahl gehen, noch mehr der extremen Rechten des Rassemblement National von Marine Le Pen ihre Stimme geben.
Le Pen selbst hat sich aus dieser Rentendebatte bezeichnenderweise weitgehend herausgehalten, wie jemand, der nur darauf zu warten braucht, dass die Früchte des Unmuts ihm in den Schoss fallen.
Angesichts der Stimmung im Land, der politischen Konstellationen und dem vorhandenen politischen Personal gibt es momentan kaum jemanden in Frankreich, der sagen könnte, wie man Marine Le Pen 2027 als Präsidentin im Élysée verhindern könnte.
Sollte dieser Fall am Ende tatsächlich eintreten, wird Emmanuel Macron nach zehn Jahren an der Macht und durch die Art und Weise, wie er diese Macht ausgeübt hat, einen gehörigen Anteil Mitverantwortung an dem Desaster tragen.