18 Jahre ist es her, dass der Tour de France Virus zugeschlagen hat. Man war im Urlaub im südwestfranzösischen Departement Gers, wo der Armagnac reift, nicht weit von D'Artagnans angeblichem Heimatort, und die Tour de France durchquerte die Pyrenäen.
Aufstehen um vier Uhr morgens, rund 200 Kilometer Fahrt zum legendären Tourmalet-Pass mit seinen 2115 Metern. Im Jahre 1910 hatten ihn die so genannten Helden der Landstrasse das erste Mal überquert und, als sie unten, schon bei Dunkelheit, am Ziel ankamen, die Veranstalter beschimpft, sie seien Mörder, verfluchte Mörder.
Mit dem Auto also diese jetzt seit langem asphaltierte Passstrasse hinauf, so weit es ging, dann, wie Tausende andere zuvor schon, am Rand geparkt, halb im Strassengraben und anschliessend zwei Stunden aufgestiegen bis knapp unter die Passhöhe. Aus manchen von Dutzenden Zelten am Strassenrand taumelten die ersten verschlafenen Gestalten, aus Wohnmobilen wurden Hunde Gassi geführt, ältere Damen bereiteten auf Gaskochern den ersten Café - es war tatsächlich so, wie man es einem beschrieben hatte: die grosse Gemeinde der Tour de France gab sich ihr Stelldichein, das alljährliche Volksfest im Juli am Rande der französischen Landstrasse kam an diesem Morgen langsam in Gang.
Gegen 11 Uhr quälte sich die Werbekarawane dröhnend die Passhöhe hinauf, gegen 13 Uhr wurde es dann ernst - die Spitzengruppe kündigte sich an, und man durfte unmittelbar die Enttäuschung erleben, die jeder verspürt, der erstmals am Rande der Tour steht: selbst den Berg hinauf sieht man die Fahrer nur wenige Sekunden - und dann ist fast alles vorbei.
Ein Schweizer am Tourmalet
Tony Romminger war an diesem Tag ganze vorne unterwegs - noch wusste man damals nicht, dass Ferrari nicht nur eine Automarke war, sondern auch eine italienische Version des Doktor Mabuse, der Herr über den Zaubertrank beim gallischen und bei anderen Radsportfesten, ein Arzt, der in jenem Jahr begonnen hatte, sich auch um die Schweizer Radsporthoffnung zu kümmern, im darauffolgenden dann dafür sorgte, dass das Team gewiss mit Romminger alles in Grund und Boden fuhr, bei der Tour de France ein Mannschaftszeitfahren mit einer geradezu unverschämten Durchschnittsgeschwindigkeit gewann. Nur ganz, ganz langsam begann in diesem Jahr 1993 das Wort EPO, über das dieser Doktor Ferrari bereits alles wusste, zu zirkulieren, im Fahrerfeld, unter Journalisten und unter Radsoportfans.
Am Tourmalet hing an diesem Julitag 1993 an Rommingers Hinterrad ein gewisser Zenon Jaskula - ein Pole, von dem man zuvor noch nie etwas gehört hatte und danach so gut wie nichts mehr, doch in diesem Jahr war er am Ende doch tatsächlich Dritter der Gesamtwertung geworden - alte Tourhasen kratzten sich skeptisch den Hinterkopf. Miguel Indurain , in jenen Jahren der Herrr des Pelotons, verzog keine Miene und wollte nichts bemerkt haben. Der inzwischen jung verstorbene Laurent Fignon, einst zweifacher Toursieger, verstand gar nichts mehr, spürte, dass da andere Kräfte im Spiel waren, und stieg vom Rad - bis zu ihm war EPO noch nicht wirklich durchgedrungen, die herkömmlichen Stoffe, die auch er zu sich nahm, konnten gegen dieses Wundermittel nichts ausrichten.
1994
Wie gesagt, man hatte den Tour Virus gefangen und war noch reichlich naiv. 1994 wollte man mit dem Mikrophon ein paar Tage für eine Reportage hinter die Kulissen der Tour schauen.
Erster Tag, ohne Akkreditierung, wie jeder x-beliebige Zuschauer, unter Zehntausenden am Mont Ventoux, Petrarcas weissem Berg in der Provence, die Steinlandschaft in 1900 Metern Höhe. Einer allein kam als erster die letzten Meter hinauf, ein Italiener mit dem unvergesslichen Namen Eros Poli - er war dem Feld in der Ebene so weit davon gefahren, dass der Vorsprung bis ins Ziel reichte - eigentlich hatte er da nichts zu suchen, denn er war das genaue Gegenteil eines Bergfahrers: über 1 Meter 90 gross und zudem bildschön - eine Journalistin der Tageszeitung Liberation schrieb am nächsten Tag, beeindruckt von seiner Gestalt und seinem Namen, eine wunderschöne, fast erotische Reportage über den Tagessieger.
Um anschliessend vom kahlen Berg wieder hinunterzukommen in den Zielort, brauchte man im Chaos und im Stau gut vier Stunden für 20 Kilometer und ergatterte im allerletzten Moment, bevor der Schwerlaster, in dem das bewegliche Tour de France Büro und sogar ein Postamt untergebracht waren, geschlossen wurde, die Akkreditierung, um einmal eine Etappe im Tross der Werbefahrzeuge und Journalistenautos mitfahren zu können - ganz unten in einem Schuhkarton fand man schliesslich das kostbare Stück.
Ach ja: zuvor war man oben am Mont Ventoux noch an einer Gedenkstätte vorbeigegangen: der Brite , Tom Simpson, war dort 1967 tot vom Rad gefallen, hausgemachtes Doping mit Amphetaminen, vermischt mit Cognac - der Berg und die unerbittliche Sonne der Provence hatten diese Mischung nicht zugelassen.
Alpe d'Huez
Nach einer kurzen Nacht am nächsten Tag 170 Kilometer aus dem Weinstädtchen Valreas bis zur legendären Bergankunft in Alpes d'Huez, über zwei Pässe, unterwegs mit der eingeimpften, goldenen Regel: man fährt auf beiden Spuren der Strasse in eine Richtung, aber unbedingt versetzt zum vorausfahrenden Fahrzeug, damit jeder, der es eiliger hat, schlingernd überholend schneller nach vorne kommen kann. Man weiss noch: manches Journalistenauto, das von Anfang an dabei war, sah schon ein wenig ramponiert aus, und vor allem hatte man vier Stunden lang die Sorge, ein Zuschauer am Rande, zumal ein Kind könnte sich beim Vorbeifahren auf ein paar herumliegende Werbeutensilien stürzen, die mit vollen Händen aus der vorausfahrenden Werbekarawane geworfen worden waren.
Dann Alpe d'Huez . Kaum Platz für abertausende Fans, dicht an dicht die Radsportbegeisterten vor den Grossleinwänden, darunter wildgewordene Italiener, gröhlend, schlimmer als im Fussballstadion, jedesmal wenn derjenige im Bild erschien, der alleine vorne lag und die berühmten 21 Kehren und 1100 Meter Höhenunterschied nach Alpe d'Huez hinauf jagte: Elefantino oder Pirat, wie sie ihn nannten, einer der ersten berühmten kahl geschorenen Schädel der 90-er Jahre- mit "dai, va fan culo, forza" schrien sie ihn der Berg hinauf - keiner konnte damals ahnen, wie tragisch Marco Pantani nur knapp zehn Jahre später enden sollte - ein Wrack, den das Doping zum Drogenabhängigen gemacht hatte , der Junge aus Cessenatico hatte, vereinsamt in einem Standardhotel in Rimini die letzte, zu starke Dosis Kokain zu sich genommen. Bis heute hält Pantani den Rekord für die letzten 14 Kilometer des Anstiegs nach Alpe d'Huez hinauf - sage und schreibe zwei Minuten schneller auf diesen wenigen Kilometern als jeder andere vor und nach ihm - welche Mixtur er an diesem Tag wohl im Blut gehabt hatte?
Nichts hat sich geändert
Ausgerechnet Pantani gewann dann vier Jahre später, 1998, im Jahr des Festinaskandals, die Tour de France, seine einzige. 13 Jahre liegt dieses Erdbeben bei der Frankreichrundfahrt nun zurück - doch kaum etwas hat sich geändert in Sachen Doping. Die Methoden haben sich verfeinert, das Blutdoping ist dazu gekommen, neue Generationen von EPO sind auf dem Markt, und es bleibt der ständige Verdacht.
13 Jahre, dass an der belgisch-französischen Grenze Zollbeamte ein Begleitfahrzeug des Festina-Teams gestoppt hatten, gesteuert von einem Betreuer und Masseur, Willy Voet. Und der hatte alles dabei, was man für eine Tour de France so braucht: die nötigen Dosen EPO und andere Mittel wie Wachstumshormone, Amphetamine und Testosteron. Vor allem aber auch seine gesamten Aufzeichnungen, den sauber geführten Terminkalender der vorhergehenden Wochen, wo peinlich genau festgehalten war, wann er welchem Fahrer wieviel verabreicht hatte. Willy Voet, ein gutmütiger, umgänglicher Mensch, wurde festgenommen und packte aus. Das haben ihm bis heute im Radsportmilieu viele unverbesserlichen Betonköpfe immer noch nicht verziehen. Willy Voet wurde Jahre später zusammen mit Festina - Teamchef Bruno Roussel als einziger verurteilt, zu 10 Monaten auf Bewährung und 30 000 Francs Geldstrafe.
Der gebürtige Belgier lebt heute in einem schmucklosen Mehrfamilienhaus in Veynes, in den südfranzösischen Alpen, und fährt täglich den Regionalbus auf der Strecke Gap - Marseille, für etwas mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 1000 Euros.
Noch ein Busfahrer
13 Jahre später, wieder knapp vor dem Start der Tour, hat es einen anderen Busfahrer erwischt: ein 39 jähriger, ehemaliger belgischer Radprofi war vom Omega-Lotto Team für die diesjährige Tour angeheuert worden, um den Mannschaftsbus zu fahren. Wenige Tage, bevor er das tat, stellte der Zoll ein voluminöses Paket sicher, das an ihn adressiert war und aus Australien kam. Der Inhalt: die neuesten Versionen von EPO. Der tapfere Ex-Profi behauptete, er habe dies per Internet für seinen Eigenbedarf geordert. Die Tour Veranstalter scheinen sich damit zufrieden zu geben, auch wenn der Kapitän des Omega Lotto-Teams, Philippe Gilbert, dieses Jahr, zum Erstaunen vieler Experten, fast alle Frühjahrsklassiker gewonnen hat und sich in einer mehr als erstaunlichen Form präsentiert. Nebenbei: er präsentiert sich auch mit einer, für einen 30 Jährigen erstaunlichen Akne im Gesicht - seit Katrin Krabbe und anderen DDR Athletinnen weiss man, das dies auch etwas mit Doping zu tun haben kann.
Doch Gilbert durfte sich nach der ersten Etappe dieser 98. Tour de France das Gelbe Trikot überstreifen, als wäre nichts geschehen.
Arme Tour de France
Langsam können einem die Organisatoren der Tour de France leid tun. Denn: Lässt man Miguel Indurain (5 facher Tour Sieger zwischen 1991 und 95) einmal beiseite, muss man feststellen, dass die legendäre Tour de France seit nunmehr 15 Jahren doch tatsächlich keinen Sieger vorweisen kann, der nicht auf die eine oder andere Art des Dopings verdächtigt oder überführt wäre: Bjarne Ris hat gestanden, Jan Ullrich hatte die Blutbeutel bei Doping- Doktor Fuentes in Madrid, Pantani war eine rollende Apotheke, Lance Armstrongs Analysen beim ersten Toursieg 1999 wurden Jahre später als positiv ausgewertet, ein halbes Dutzend seiner ehemaligen Kollegen haben ausgesagt, dass sie von ihm das Dopen gelernt oder ihn dabei beobachtet haben. In den USA steckt er nun bis zum Hals in einem Prozess, den er wohl nicht unbeschadet überstehen dürfte. Auf Armstrong folgte Floyd Landis, erbärmlich enttarnt und degradiert, dann Carlos Sastre und Alberto Contador, auch der hatte vor Jahren Blutbeutel bei Doping Doktor Fuentes in Madrid, die mit dem Namen seines Hundes versehen waren und wurde bei der vergangenen Tour-Ausgabe positiv kontrolliert - angeblich habe er ein Steak gegessen, in dem das unzulässige Mittel enthalten war. Und da das Verfahren gegen ihn auch nach einem Jahr noch nicht abgeschlossen ist, durfte der dreifache Tour-Sieger dieses Jahr doch tatsächlich antreten. Immerhin, und das ist bisher einmalig: bei der Vorstellung der Teams am 1. Tag der Tour wurde der Vorjahressieger vom Publikum doch tatsächlich ausgepfiffen. Und die Tour de France Veranstalter schauten betreten auf ihre Schuhe. Tour Direktor Prudhomme, ein ehemaliger Journalist mit dem Aussehen des idealen Schwiegersohns, flieht, so gut es geht, vor Interviews und sieht, wenn er doch über Contador sprechen muss, aus, wie einer, den man gezwungen hat, eine dreifache Dosis Lebertran zu schlucken.
Armstrong-Fan Sarkozy
All dies wird Frankreichs Präsidenten, der gelegentlich demonstrativ selbst aufs Rad steigt, nicht davon abhalten, sich auch dieses Jahr wieder auf einer Bergetappe zu zeigen, er, der indirekt dem Doping seinen Segen gegeben hat, indem er Lance Armstrong gleich mehrere Male, erst als Minister und später als Präsident empfangen und dessen Charakter, dessen Bravour und Engagement über den grünen Klee gelobt hatte. Beim letzten Mal hatte er sich Lance Armstrong vor den Kameras derartig an den Hals geworfen, dass er darüber vergass, dass auch ein paar Dutzend französische Profis am Start waren. Nachdem es deswegen in Frankreichs Radsportwelt gewaltig rumort hatte, musste er die französischen Fahrer nach der letzten Etappe in Paris zur Strafe abends allesamt im Elyseepalast empfangen
Der Präsident hätte dieser Tage die Sportzeitung L'Equipe lesen sollen. Dort hat Paul Kimmage, Ende der 80-er Jahre irischer Radprofi, ein Interview gegeben. Er ist heute, mit knapp 50, als Journalist für die Sunday Times bei der Tour unterwegs. Schon 1990, nachdem er seine Karriere frühzeitig beendet hatte, war von ihm ein Buch über Dopingpraktiken im Radsport ("Rough Ride") erschienen. Heute sagt er über den 7 fachen Tour de France Sieger:
"Armstrong hat dem Radsport geschadet. Er hat sich zur Ikone des Kampfs gegen Krebs gemacht, dabei ist er selbst das Krebsgeschwür des Radsports gewesen."
Schwindendes Interesse
Über ein Jahrzehnt lang hat man sich, wann immer möglich und streckenweise mit Begeisterung, die Etappen der Tour de France im Fernsehen angesehen - dieser Tage ist man doch tatsächlich vor dem Bildschirm eingeschlafen - zugegeben, es war eine Flachetappe. Aber offensichtlich nimmt man das, was da zu sehen ist, nicht mehr sonderlich ernst und nichts reisst einen mehr vom Hocker - denn im Grunde wartet man nur auf den nächsten Dopingfall - und auch das wird offensichtlich im Lauf der Jahre ein wenig langweilig, wirkt einschläfernd.