Die Schweizer Parteienlandschaft gilt als vielfältig und stabil. Legt eine Partei einmal fünf Prozentpunkte zu, ist schon von einem «Erdrutschsieg» die Rede. Und trotzdem: In den letzten Jahrzehnten hat sich die Parteienlandschaft in der Schweiz markant verändert.
Von 1919, der ersten Proporzwahl, bis 1967 waren im Nationalrat rund zehn Parteien vertreten. Vier Parteien dominierten klar: FDP, CVP, SP und SVP. Sie konnten sich auf 80 bis 92 Prozent der Wählenden abstützen und stellten zusammen seit 1943 auch – von zwei kurzen Unterbrüchen abgesehen – die Mitglieder des Bundesrats.
Neue gesellschaftliche Grundströmungen
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte im Zuge eines forcierten Säkularisierungs- und Modernisierungsprozesses in den westlichen Gesellschaften ein grundlegender Wandel der Parteienlandschaft ein. Am stärksten betroffen war vorerst die Katholisch-Konservative Volkspartei: Sie war seit Anfang des 20. Jahrhunderts der politische Arm des «Organisationskatholizismus» und arbeitete eng mit der katholischen Kirche zusammen.
Nach den Fünfzigerjahren wollte sich die Katholisch-Konservative Volkspartei – nach dem Vorbild der Schwesterparteien in Westeuropa – als überkonfessionelle Volkspartei neu in der bürgerlichen Mitte positionieren und gab sich 1970 den Namen Christlichdemokratische Volkspartei (CVP). Dabei wollte sie auch ausserhalb ihrer Stammlande vermehrt Fuss fassen. Dieses Unterfangen ist ihr, wie wir heute wissen, nicht gelungen.
Entstehung der neuen Mittelschicht
Im Zuge des gesellschaftlichen Strukturwandels, verbunden mit einer Bildungsexpansion, entstand ab den Sechzigerjahren in der westlichen Gesellschaft eine neue, gutausgebildete Mittelschicht. Aus dieser gingen die neuen sozialen Bewegungen und die 68er-Parteien hervor sowie in den frühen Achtzigerjahren die Grünen. Sie alle setzten sich für «neue», gesellschaftspolitisch progressive Werte ein: kulturelle Offenheit, gesellschaftliche Liberalisierung, Lebensqualität, Gleichstellung und nachhaltige Lebensweise. Hoch im Kurs waren dabei die Selbst- und Mitbestimmungswerte, während die Pflichtwerte zurückgingen.
Der SP kam im Rahmen dieses Strukturwandels ihre traditionelle Basis, die industrielle Arbeiterschaft, zunehmend abhanden. Sie wandte sich daher ab den Achtzigerjahren ebenfalls den neuen Mittelschichten zu. Damit begann sie im selben Teich wie die Grünen zu fischen, denen sie sich auch programmatisch anglich. Im Zuge dieser Neupositionierung der SP kam es in einigen Kantonen zu Abspaltungen (BS, GR, FR); diese vermochten sich eine Zeit lang als Demokratisch-Soziale Parteien zu halten.
Ausdifferenzierte Linke
SP und Grüne standen so schon früh in einer gewissen Konkurrenz zueinander. Aufgrund grosser Übereinstimmungen ihrer Wertevorstellungen und ihrer sehr ähnlichen Wählerbasis fanden – je nach gesellschaftspolitischer Themenkonjunktur – immer wieder starke Stimmenbewegungen zwischen den beiden Parteien statt. Dabei spielte die unterschiedliche Kompetenzzuschreibung durch die Wählenden eine wesentliche Rolle. Die Grünen werden in Fragen der Umweltpolitik für kompetenter gehalten als die SP. Diese wiederum gilt bei den Wählerinnen und Wählern vor allem in Fragen der Sozialpolitik als kompetent sowie, etwas weniger ausgeprägt, in der Europa- und Migrationspolitik.
So gewannen denn zum Beispiel die Grünen in den Achtzigerjahren, als der Umweltschutz die politische Debatte dominierte (Waldsterben, Reaktorbrand von Tschernobyl, Grossbrand in Schweizerhalle), während die SP entsprechend verlor. In den Neunzigerjahren – unter dem Einfluss der Europa- und Sozialpolitik – verhielt es sich umgekehrt. Bei den Nationalratswahlen von 2007 legten vor dem Hintergrund der dominierenden Klimafrage wiederum die Grünen stark zu und die SP verlor.
In den vergangenen vierzig Jahren vermochte sich das linke Lager – dank der Ausdifferenzierung in SP und Grüne – bei rund dreissig Prozent der Stimmen zu behaupten (26–31%). Die Grundtendenz war dabei, dass die Grünen stärker wurden und die SP schwächer. Bei den Nationalratswahlen 2019 kamen die Grünen gesamtschweizerisch auf rund 13 und die SP auf rund 17 Prozent. Für die Grünen war es das beste, für die SP das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte.
FDP und CVP unter Druck von rechts
In den frühen Siebzigerjahren hatten sich erstmals seit Längerem wieder rechtsnationalistische Parteien bemerkbar gemacht: Nationale Aktion und Republikaner lancierten xenophobe Vorstösse und Volksinitiativen, von denen die Schwarzenbach-Initiative 1970 in einer Volksabstimmung die stärkste Zustimmung erhielt (46%). Bei den Nationalratswahlen erreichten die Rechtsnationalen zu jener Zeit eine gemeinsame Parteistärke von 5 bzw. 7,5 Prozent. Unter Druck kamen dabei vor allem FDP und CVP.
Als die rechtsnationalistischen Parteien wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwanden, betrat Mitte der Achtzigerjahre in der Deutschschweiz lautstark die Autopartei (später: Freiheitspartei) die politische Bühne. Sie wandte sich – wie ihr Name schon sagte – gegen die ökologisch orientierte Stimmung in der Gesellschaft und forderte eine harte Asylpolitik. Damit machte sie namentlich Druck auf FDP und CVP. Die Autopartei gewann massiv an Stimmen und erreichte 1991 eine Parteistärke von über fünf Prozent. FDP und CVP büssten im Vergleich zu 1979 je rund drei Prozentpunkte ein.
Damit wurde der Abstieg der FDP eingeläutet, den auch eine Fusion mit den Liberalen (2009) nicht aufhalten konnte. Mit dem Wahlslogan von 1979 «Mehr Freiheit und Selbstverantwortung – weniger Staat» signalisierte die FDP vor dem Hintergrund neoliberaler Strömungen in verschiedenen westlichen Ländern einen programmatischen Anti-Etatismus, mit dem sie sich von ihrem über hundert Jahre alten Selbstverständnis als staatstragende Partei verabschiedete. Damit büsste sie, selbst im bürgerlichen Lager, ihre Hegemonie ein.
Neuformierung der Rechten
Forciert durch den Fall der Berliner Mauer schritt in den Neunzigerjahren die europäische Integration voran und die Politik wurde zunehmend geprägt von der Konfliktlinie Öffnung versus Abschliessung. Dabei ging es um die Frage des Verhältnisses zu internationalen Organisationen, vor allem zur EU, sowie um die Themen Asyl-, Einwanderungs- und Ausländerpolitik. Zunehmend Bedeutung erhielten in diesem Zusammenhang auch Fragen des Verlusts von politischem Handlungsspielraum und der politischen Souveränität sowie der nationalen Identität.
Mit dem Abstimmungskampf und vor allem der Ablehnung des Beitritts der Schweiz zum EWR in der Volksabstimmung vom Dezember 1992 schlug die Stunde der SVP. Sie positionierte sich unter Führung von Christoph Blocher als nationalkonservative Partei und formierte das rechte Lager neu. Sie war dabei sehr erfolgreich und setzte zu einem Höhenflug an, der seit der Einführung der Proporzwahlen einzigartig ist. Bei den Nationalratswahlen steigerte sie sich von 12 (1991) auf 29 Prozent (2007, 2015).
Die Blocher-Partei expandierte dabei in drei Richtungen: Zuerst machte sie den rechten Rand dicht, indem sie die Autopartei, inklusive deren aggressiven Politstil, übernahm. Anschliessend richtete sie sich gegen die FDP und die CVP, die sich in den Neunzigerjahren Jahren für eine Annäherung an Europa stark gemacht hatten und eine aus SVP-Sicht allzu gemässigte Politik verfolgten.
Die Attacken der SVP trugen Früchte; namentlich schafften sie es, in den Stammlanden und Hochburgen der CVP Platz zu nehmen. Die SVP machte sich weiter auch daran, das konservative Potenzial in der Romandie neu zu sammeln. Auch hier gingen die Stimmengewinne der SVP weitgehend zu Lasten von CVP und FDP (und der Liberalen). Insgesamt halbierte sich die gesamtschweizerische Parteistärke der CVP von 21 (1979) auf 11 Prozent (2019) beinahe, ebenso jene der FDP (inkl. Liberale), welche von 27 auf 15 Prozent zurückging.
Bei ihrer Neupositionierung definierte sich die SVP inhaltlich auch als jene Kraft, welche die gesellschaftlich progressiven Werte von SP und Grünen (und der Grünliberalen) bekämpfte.
Neue Parteien in der Mitte
In den Nullerjahren kam es auf der linken und auf der rechten Seite zu Parteiabspaltungen und Neugründungen. 2004 trennte sich in Zürich eine Gruppe um die damalige Regierungsrätin Verena Diener und den Nationalrat Martin Bäumle von den Grünen und gründete die Grünliberale Partei (GLP), der sich aber nur wenige Grüne anschlossen. Die meisten grünliberalen Parteien, die in der Folge vor allem in den Deutschschweizer Kantonen entstanden, wurden von Neueinsteigern gegründet.
Die Newcomer sprangen in die Lücke, welche durch den Rechtsrutsch des bürgerlichen Lagers und den Linksrutsch von SP und Grünen entstanden war. Zu Beginn war die GLP «grün und sparsam»; in jüngerer Zeit, in der Nach-Bäumle-Ära, erhielt jedoch das gesellschaftspolitisch progressive Element mehr Gewicht. Bei den Nationalratswahlen 2019 steigerte sich die GLP – im Zuge der «grünen Welle» – gesamtschweizerisch auf knapp acht Prozent.
2008 spalteten sich – nach der Abwahl Christoph Blochers aus dem Bundesrat und dem Ausschluss der an seiner Stelle gewählten Eveline Widmer-Schlumpf aus der SVP – namhafte Teile der SVP-Kantonalparteien in Bern und Glarus von der SVP ab. Die Bündner Kantonalpartei wurde wegen ihrer Loyalität zu Eveline Widmer-Schlumpf aus der SVP ausgeschlossen. Diese Kantonalparteien gründeten in der Folge die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP).
Bei den Nationalratswahlen 2011 galten die beiden neuen Mitte-Parteien, GLP und BDP, mit einer Parteistärke von je 5,4 Prozent als die grossen Wahlsiegerinnen. Während sich die GLP in der Folge zunehmend als gesellschaftlich progressive Kraft positionierte, verlor die BDP nach dem Rücktritt von Eveline Widmer-Schlumpf ihre Orientierung und sackte bei den Nationalratswahlen 2019 auf 2,4 Prozent ab.
CVP-Präsident Gerhard Pfister, der zu Beginn seiner Präsidentschaft noch versucht hatte, die CVP mit einer Wertedebatte auf einen sozial-konservativen Kurs zu trimmen, nahm darauf einen Kurswechsel vor und peilte die Fusion mit der BDP an. Diese gelang 2020, unter dem Namen «Die Mitte». Bei den kantonalen Parlamentswahlen hielten jedoch die Stimmenverluste der Mitte – im Vergleich zu den zusammengezählten früheren Parteistärken von CVP und BDP – mehr oder weniger ausgeprägt an.
Ausgangslage für die Wahlen 2023
Die grossen Siegerinnen bei den Nationalratswahlen 2019, welche unter dem Thema des Klimawandels standen, waren die beiden Öko-Parteien, die Grünen und die GLP. Die GPS steigerte ihre Parteistärke um rund sechs Prozentpunkte (auf 13%), die GLP um rund drei Punkte (auf 8%). Grosse Verliererin war mit Stimmenverlusten von fast vier Prozentpunkten die SVP (auf 26%). Auch die anderen drei Bundesratsparteien büssten an Parteistärke ein: Die SP verlor zwei Prozentpunkte, die FDP 1,3 Punkte und die CVP, zusammen mit der BDP, zwei Punkte.
Nachbefragungen zeigten, dass der Wahlsieg der Grünen aufgrund eines spektakulären Zustroms von der SP zustande gekommen war: 22 Prozent der SP-Wählenden von 2015 hatten 2019 die Grünen gewählt. Dagegen konnte die SVP auf eine treue Stammwählerschaft zählen: 85 Prozent der SVP-Wählenden von 2015 hatten 2019 wieder SVP gewählt.
Bei den kantonalen Wahlen nach den Nationalratswahlen von 2019 konnten zwei Tendenzen festgestellt werden: In den ersten drei Jahren, also bis Ende 2022, hallte das parteipolitische Muster der Nationalratswahlen nach. Grüne und Grünliberale legten in fast allen Kantonen stark zu, während die Bundesratsparteien alle mehrheitlich auf der Verliererseite standen, am stärksten die SP. Bei den kantonalen Parlamentswahlen 2023 jedoch gewann die SVP bei fast allen Wahlen markant, während die Grünen verloren. Die SP und die Mitte vermochten sich zu stabilisieren. Auf der Siegerstrasse blieb die GLP, die FDP verlor weiter.
Anders als bei den Nationalratswahlen 2015 (Flüchtlinge) und 2019 (Klima und Frauen) sind die kommenden Wahlen nicht von einem grossen Thema bestimmt. Neben dem Klima dominieren diesmal auch Themen wie steigende Gesundheitskosten und Inflation/Kaufkraft sowie Zuwanderung. Bei den kommenden Nationalratswahlen dürfte sich so das Interesse unter anderem auf folgende Fragen richten: Wie halten sich die beiden Ökoparteien bei abgeflauter «grüner Welle»? Wieviel von der 2019 dazu gewonnen Parteistärke können sie behalten? Wie stark kann die SP von den sozialen Themen profitieren? Wie weit kann die SVP ihre Verluste von 2019 kompensieren? Und: Wie schneidet die neu gegründete Mitte ab?