Die Ukraine und Israel, zwei grundverschiedene Länder, sind existentiell in Verteidigungskriege verwickelt. Ziele und Hintergründe dieser militärischen Konfrontationen lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Aber in beiden Fällen lautet die Kernfrage: Wie können diese Kriege akzeptabel beendet werden?
Schon in ihrer räumlichen Ausdehnung unterscheiden sich die beiden Länder radikal. Die Ukraine ist flächenmässig das grösste Land innerhalb Europas. Das offizielle Israel ist 28 mal kleiner und mit 21’000 Quadratkilometern halb so gross wie die Schweiz, zählt aber ähnlich viele Einwohner. Die Ukraine kämpft seit mehr als zweieinhalb Jahren heroisch gegen die russische Invasionsarmee, die bisher nur rund 25 Prozent des ukrainischen Territoriums unter ihre Kontrolle bringen konnte.
Israel und die Gefahr der Hybris
Das hochgerüstete Israel ist vor einem Jahr durch einen blutrünstigen Überfall von Hamas-Terroristen aus dem Gazastreifen total überrascht worden. Das dokumentiert auch ein erstaunliches Versagen der zuständigen Sicherheitsinstitutionen. Seither hat Israels Armee im Kampf gegen die Hamas die Strukturen im Gazastreifen weitgehend zerstört, Zehntausende von dessen Bewohnern wurden getötet. Ausserdem greift Israel als Antwort auf die Angriffe des schiitischen Hisbollah auch den Libanon und dessen Protektor Iran an.
Für Israel sei jetzt die eigene Hybris (Selbstüberschätzung) die grösste Gefahr, kommentierte dieser Tage der britische «Economist». Ähnlich kritische Töne gegen die in eine breite Offensive übergegangene Regierung Netanjahu vernimmt man von Seiten israelischer Oppositioneller. Niemand bestreitet das Recht Israels, sich gegen die arabischen Extremisten zu verteidigen, die den jüdischen Staat erklärtermassen vernichten wollen. Aber gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Verhältnismässigkeit der israelischen Gegenangriffe im Gazastreifen und im Libanon, denen erschreckend viele unschuldige Zivilisten zum Opfer fallen. Auch die mögliche Entfesselung eines unbegrenzten Krieges mit Iran weckt ausserhalb und innerhalb Israels akute Besorgnis.
Durch diese Offensive erhoffen sich Anhänger Netanjahus eine mögliche Zerstörung der iranischen Nuklearanlagen, eventuell sogar den Sturz des Mullah-Regimes. Andere Stimmen warnen vor illusionären Erwartungen und erinnern an das abschreckende Beispiel Irak. Dort hatten die USA unter George W. Bush 2003 zwar durch ihren Einmarsch den Diktator Saddam Hussein gestürzt, doch eine stabile Ordnung kam nicht zustande und pro-iranische und islamistische Kräfte in diesem Land haben starken Einfluss gewonnen.
Die Mär von der «Umzingelung» und «Unterwerfung» Russlands
Im Unterschied zur komplexen Gemengelage der israelischen Interessen lässt sich im Ernst nicht bestreiten, dass die Ukraine einen reinen Verteidigungskrieg gegen den russischen Aggressor führt. Zwar behaupten die Putin-Propaganda und deren zynische oder naive Nachbeter im Westen unentwegt, das russische Riesenreich sei zu diesem Angriff provoziert worden und müsse sich gegen die «Umzingelung» durch die Nato zur Wehr setzen. Als ob die Nato das flächenmässig grösste Land der Welt, dessen längste Grenzen in Asien liegen, «umzingeln» könnte.
Keines der vorgeschobenen Argumente zur Rechtfertigung der russischen «Spezialoperation» gegen das Nachbarland, durch die Zehntausende von Menschen getötet und Millionen in die Flucht getrieben worden sind, hält einer seriösen Prüfung stand. Auch mit Rücksicht auf russische Interessen hat die Nato seit Jahren eine direkte Mitgliedschaft der Ukraine bewusst aufgeschoben.
Es gibt keinerlei konkrete Indizien zu irgendwelchen Nato-Absichten zur «Unterwerfung Russlands», über die die Kreml-Propaganda auf allen möglichen Kanälen raunt und schwadroniert. Sie wären innerhalb der demokratisch regierten Nato-Länder auch gar nicht durchzusetzen. Was Putin wirklich will, ist die imperiale Expansion seines Machtbereichs und die Verhinderung einer entwicklungsfähigen, attraktiven Demokratie im postsowjetischen Nachbarland.
Keine «saubere Geschichte» im Nahostkrieg
Was Israel und den aktuellen Nahostkrieg betrifft, so sind die Hintergründe vielschichtiger und verworrener. Keine Seite in diesem Konflikt habe eine «saubere Geschichte» anzubieten, schreibt Thomas Friedman, einer der profundesten Kenner des Nahost-Geschehens diese Woche in der «New York Times». Weder die rechtsnationale Regierung Netanjahus noch die Hamas-Terroristen und ihre Verbündeten seien bereit, die langfristig «einzig mögliche, gerechte und stabile Lösung» für die Palästinenserfrage anzuerkennen: «zwei Staaten für zwei Völker».
Weil der israelische Regierungschef und seine nationalistischen Koalitionspartner es strikte ablehnen, eine solche Zweistaatenlösung auch nur ins Auge zu fassen, blockieren sie damit die angebotene Möglichkeit einer Normalisierung der Beziehungen mit dem einflussreichen Saudi-Arabien. Hinzu kommt die ständige, völkerrechtswidrige und moralisch verwerfliche Ausdehnung israelischer Siedlungen im besetzten Jordanland, was ebenfalls dazu beiträgt, die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung zu torpedieren. Friedman wirft Netanjahu weiter vor, dass es ihm persönlich mit der Ablehnung eines Waffenstillstandes im Gazakrieg nicht zuletzt darum gehe, den gegen ihn hängigen Gerichtsverfahren wegen Korruption zu entgehen.
Temporärer Gebietsverzicht der Ukraine?
Welches sind die Perspektkiven für die von der Ukraine und Israel zurzeit geführten Verteidigungskriege? Die kurze Antwort lautet: Der Ausgang ist in beiden Fällen höchst unberechenbar. Die Ukraine ist inzwischen in die Defensive geraten und das angreifende Moskau ist nur bereit, Verhandlungen über einen Waffenstillstand aufzunehmen, wenn Kiew auf die bereits besetzten Gebiete definitiv verzichtet und die Möglichkeit einer Nato-Mitgliedschaft endgültig begräbt, wie Aussenminister Lawrow dieser Tage in einem Interview mit der Zeitschrift «Newsweek» gerade wieder bestätigt hat. Diese Bedingungen laufen auf einen Diktatfrieden Putins und auf eine militärische Unterwerfung der Ukraine und ihre faktisch wehrlose Position unter Russlands Knute hinaus. Man kann verstehen, dass Selenskyj und seine Regierung an Verhandlungen unter diesen Voraussetzungen kein Interesse zeigen.
Doch es ist nicht ausgeschlossen, dass Moskau flexibler mit sich reden lässt, wenn man dort erkennt, dass das Ziel eines solchen Diktatfriedens militärisch nicht durchsetzbar ist. Dann könnte Putin sich vielleicht mit den bisher erreichten territorialen Gewinnen zufriedengeben und die Möglichkeit von Sicherheitsgarantien der Westmächte für die Ukraine, die das Land vor weiteren militärischen Angriffen schützen könnten, nicht mehr stur ablehnen.
In diesem Fall sollte auch Selenskyj sich dazu durchringen, mit den russischen Aggressoren Verhandlungen zu führen. Ein vorläufiger Verzicht auf die Rückereroberung besetzter Gebiete muss nicht eine völkerrechtlich verbriefte Abtretung bedeuten. Das Beispiel der deutschen Widervereinigung nach dem Kollaps der Sowjetunion könnte da als Inspiration dienen.
Verschwommene Ziele der Regierung Netanjahu
Voraussetzung für ein solches wenigstens halbwegs akzeptables Kompromiss-Szenarium bleibt allerdings, dass der Westen die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf militärisch noch entschlossener als bisher mit Waffenlieferungen und Luftabwehrystemen unterstützt. Solange Putin daran glaubt, dass er seine Ziele mit militärischen Mitteln erreichen wird, dürfte er auch zu keinerlei Kompromisslösungen Hand bieten.
Ob im laufenden Nahostkrieg zurzeit Chancen für irgendwelche Ansätze zu Verhandlungslösungen bestehen, ist schwer erkennbar. Die extremistischen Milizen Hamas und Hisbollah sind zwar deutlich geschwächt und der israelische Regierungschef Netanjahu scheint im Moment wieder fest im Sattel zu sitzen.
Doch Israels Zukunft hängt nicht nur von seiner militärischen Überlegenheit ab. Erfolg oder Misserfolg eines Verteidigungskrieges wird auch durch die Glaubwürdigkeit und politische Konsistenz seiner Zielsetzungen beeinflusst. Und diese Ziele sind im Falle der Regierung Netanjahu unklar und verschwommen. Geht es im Gazakrieg und im besetzten Westjordanland allein um Israels Sicherheit oder auch um die definitive Annexion dieser Gebiete und die Unterwerfung der dortigen palästinensischen Bevölkerung, wie das das Netanjahus rechtsnationalistische Koalitionspartner ziemlich unverhohlen postulieren?
Der Regierungschef macht nicht den Eindruck, dass er willig ist, diese wesentliche Frage zu klären. Wenn das so bleibt, läuft Israel Gefahr, die innenpolitische Spaltung zu vertiefen und sich international vermehrt zu isolieren. Selbst in den USA, auf deren Waffenlieferungen er dringend angewiesen ist, könnte der jüdische Staat spürbar an Rückhalt verlieren.
In Bezug auf die Definition ihrer Verteidigungskriege gibt es zwischen der Ukraine und Israel also erhebliche Unterschiede. Die Ukraine will die russischen Invasoren vertreiben und ihre völkerrechtlich verbriefte territoriale Integrität zurückgewinnen – sonst gar nichts. Auch Israel geht es primär um die Sicherung seiner Existenz. Aber dieser legitime Anspruch wird teilweise vernebelt durch expansive Ambitionen religiös-ideologischer Hitzköpfe.
Ohne die zumindest partielle Aufweichung der eigenen Ziele auf allen Seiten (natürlich auch auf Seiten der Angreifer, die diese Kriege ausgelöst haben) ist ein Ende weder im ukrainischen noch im israelischen Verteidigungskrieg abzusehen.