Volker Gerhardts neue philosophische Studie bezieht Position gegen geisteswissenschaftliche Moden, die zunehmend alle generalisierenden Begriffe verteufeln. Ohne die Idee der einen Menschheit, so sein Argument, ist weder Rechtsgleichheit noch Demokratie zu haben.
«Individuum und Menschheit. Eine Philosophie der Demokratie»: Im Doppeltitel steckt das ganze Programm, das der Philosoph Volker Gerhardt sich mit seinem Buch vorgenommen hat. Er knüpft damit an sein 2019 erschienenes Werk «Humanität. Über den Geist der Menschheit» an, das eine zeitgemässe, an die grossen Debatten der Gegenwart anschlussfähige philosophische Anthropologie entwirft.
In beiden Studien entzieht sich Gerhardt den notorischen Attacken postkolonialer, poststrukturalistischer und postpatriarchaler Positionen, indem er den Gattungsbegriff Mensch zunächst nicht philosophisch, sondern naturgeschichtlich bestimmt. Er entgeht so dem zum geisteswissenschaftlichen Standard gewordenen Vorwurf, mit dem vereinnahmenden Kollektivsingular «der Mensch» die unterschiedlichen Identitäten einzuebnen, unsichtbar zu machen oder gar zu leugnen. Derartige Vergehen gegen die zum Leitbegriff erhobene Diversität können bekanntlich akademische Karrieren beenden und makellose Reputationen beschädigen.
Gerhardt leugnet die Diversitäten innerhalb der Gattung Mensch keineswegs, er spricht ihnen die Relevanz nicht ab und stellt sich auch den Realitäten, die mit ihnen anvisiert sind. Umso wichtiger ist ihm aber das Postulat jener Gattungseinheit, die sich im Begriff «Mensch» ausdrückt. Philosophische Termini sind nicht Abbilder vorgefundener Sachverhalte, sondern Instrumente des Denkens. Der Begriff «Mensch» ist das Denkzeug, das dem Versuch dient, angesichts der vorfindlichen Differenzen ethnischer, kultureller, sozialer, mentaler, geschlechtsspezifischer und sonstiger Art ein gemeinsames Menschliches zu erkennen und in seiner Bedeutung zu verstehen.
Dass Menschen jedweder Ausprägung sich als Individuen verstehen, bedarf heute, im Zeitalter der Individualisierung, keiner näheren Begründung mehr. Beim zweiten Begriff des Obertitels, «Menschheit», liegen die Dinge anders. Der Verfasser zeigt vor allem im Rückgriff auf Immanuel Kant – Volker Gerhardt zählt zu den wichtigsten Kant-Spezialisten – dass der Begriff der Menschheit für ein gehaltvolles philosophisches Reden über das Thema Mensch unerlässlich ist.
Diversität lässt sich nur feststellen vor dem Hintergrund eines begrifflichen Ganzen, zu dem alle Menschen gehören.
Vom Menschen als einem Individuum zu sprechen, hat nur einen Sinn, wenn dieses als Exponent der Menschheit aufgefasst wird. Diversität lässt sich nur feststellen vor dem Hintergrund eines begrifflichen Ganzen, zu dem alle Menschen gehören. Auf das Denken dieses Ganzen richtet Gerhardt in Übereinstimmung mit der abendländischen Philosophie seit der Antike den Fokus seiner Arbeit.
Demokratie vor zweieinhalb Jahrtausenden
Schon bei den griechischen Philosophen der Zeit zwischen 600 und 350 v. Chr. findet sich ein elaboriertes Denken darüber, was «den Menschen» ausmacht. Diese als Vorsokratiker bezeichneten Pioniere der Philosophie haben unter anderem erstmals das Prinzip der Rechtsgleichheit aller Menschen und damit eine der Grundvoraussetzungen der Demokratie formuliert.
Der Geschichtsschreiber Herodot berichtet in seinen «Historien» über eine Beratung am persischen Hof in Susa, in der darüber debattiert wird, welches die beste Staatsform sei. Ein gewisser Otanes macht sich für die Option einer demokratischen Ordnung stark. Seine Rede, entstanden um 520 v. Chr., ist nichts anderes als eine erstaunlich hochentwickelte Theorie der Demokratie. Otanes stützt sie auf folgende Postulate:
- Freiheit und Gesetz sind die beiden sich gegenseitig bedingenden Pfeiler der Demokratie.
- Der Staat ist da, um das Individuum zu schützen; gleichwohl bleibt dieses für sich selbst zuständig.
- Der Staat ist nichts Göttliches und Ewiges; er ist eine von Menschen für die Menschen geschaffene Einrichtung.
- Das Volk muss der Gesetzgeber sein.
Die attische Demokratie war die erste Verwirklichung solcher Ideen. Sie erlebte zwischen 462 und 322 v. Chr. in Athen ihre Hochblüte, war allerdings nach modernen Massstäben hinsichtlich der Rechtsgleichheit inkonsequent: Frauen und Sklaven waren von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen.
Begriffe wie Gleichheit und Freiheit sind keine Zustandsbeschreibungen, sondern dynamische Entwürfe.
Volker Gerhardt konstatiert dies kritisch. Gleichwohl wendet er sich gegen jenen geschichtsvergessenen Moralismus, der jeglichen historischen Befund an modernen Gleichheitsideen misst und bei Ungenügen ohne Wenn und Aber den Daumen senkt. Mehrfach im Verlauf seiner Untersuchung weist er darauf hin, dass Begriffe wie Gleichheit und Freiheit keine Zustandsbeschreibungen, sondern dynamische Entwürfe sind.
Griechische Impulse für das abendländische Staatsdenken
Auch Platon, einer der grossen politischen Philosophen, unterliegt dem Verdikt, in seiner epochalen Schrift «Politeia» (Der Staat) eine menschenfeindlich-autoritäre Idealordnung entworfen zu haben. In der Tat ist es nicht nur so, dass Platons in «Politeia» entwickeltes Staatskonzept mit modernen Rechts- und Demokratievorstellungen nicht kompatibel ist; vielmehr widerspricht es diesen ganz direkt.
Doch Gerhardt dämpft auch hier den Einspruch. Er hält dem umstrittenen Werk zugute, es formuliere eine Kritik an der Demokratie, die durchaus nicht abwegig sei. So ist nach Platon der demokratischen Staatsform mit dem ihr inhärenten dauernden Kampf um die Macht ein Element der Gewalt eingeschrieben. Zudem erlaube sie aufgrund ihrer «Buntheit» keine Konzentration auf politische Tugenden, und die Bürger seien in ihrer Mehrzahl ohnehin nicht fähig, auf Zerstreuungen zu verzichten, beharrlich auf Wahrheit zu drängen und dem Gemeinwesen zu dienen. – Platon wird die mitunter schmutzige Realität der attischen Demokratie vor Augen gehabt haben, als er im späten 4. Jahrhundert v. Chr. die «Politeia» schrieb.
Interessant ist nun aber, dass Platon in «Nomoi» (Gesetze), seinem letzten und umfangreichsten Werk, seine Theorie des Staates grundlegend neu entworfen hat. In diesem Buch lässt er drei alte Philosophen – sie repräsentieren drei griechische Stadtstaaten mit unterschiedlichen politischen Systemen – im Gespräch ein Staatskonzept der Tugend und der Mässigung entwickeln, das interessante demokratische Elemente aufweist. So soll man aus freiem Entscheid und in Kenntnis der Verfassung Bürger einer fiktiven Stadt Magnesia werden. Erstmals taucht also die Idee einer geschriebenen Verfassung auf, und erstmals soll ein Staatswesen auf freiwilliger Einsicht seiner Bürger gründen.
Erstmals die Idee einer geschriebenen Verfassung, und erstmals ein Staatswesen auf Basis freiwilliger Einsicht der Bürger.
Platon postuliert so die weltgeschichtliche Innovation, dass Menschen ihre politische Ordnung in völliger Freiheit selbst schaffen und wählen. Zudem sieht er in seinem imaginierten Magnesia keinerlei Standes- und Geschlechterunterschiede mehr (die Kritikerinnen, die ihn canceln wollen, haben das wohl nicht gelesen).
Die Unterschiede gegenüber früheren Werken sind markant. Volker Gerhardt hält sie für so gewichtig, dass er von einer Wende in Platons Denken spricht. Auch wenn in «Nomoi» die Prinzipien von Gleichberechtigung und Demokratie noch nicht vollständig im modernen Sinn vorweggenommen sind, hat Platon mit seinem Alterswerk doch Impulse in die Welt gesetzt, die das abendländische Staatsdenken nachhaltig in dieser Richtung beeinflusst haben.
Aufklärung und Demokratie bei Kant
In der erkenntniskritischen Philosophie Immanuel Kants (1724–1804) kulminiert die Ethik im sogenannten kategorischen Imperativ, gemäss dem Handlungen und Grundsätze nur dann als moralisch gelten können, wenn sie als «Gesetze» für alle taugen könnten. (Das Wort «kategorisch» hat die Bedeutung von «gebieterisch» angenommen; man würde heute besser vom «kategorialen Imperativ» sprechen.) Und da Ethik die Basisdisziplin des philosophischen Staatsdenkens ist, muss auch dieses für Kant eine «kategorische» Form haben. Bezogen auf das Verhältnis des Individuums zum Staat resultiert daraus folgendes «Gesetz»: Jede und jeder hat sich als Teil des Ganzen zu verstehen; und dieses Ganze ist die Menschheit.
Volker Gerhardt erkennt in dieser Formel den Kern des Kant’schen Denkens über den Staat. Er zeigt genauestens auf, wie Kant diesem eigenen Grundsatz allmählich immer konsequenter folgt, bis er in seinem Alterswerk schliesslich zu einer klaren Option für Demokratie und Gleichberechtigung gelangt: «Kant hat erst spät gesehen, dass er (…) der Demokratie zu einer Begründung verhalf, die ihr bis dahin noch fehlte. Sie erlaubt uns nun zu sehen, wie die Freiheit des Einzelnen ursprünglich auf die Gleichheit aller Menschen bezogen ist, so dass es nicht nur möglich, sondern notwendig ist, die Demokratie als die genuine politische Form der Menschheit zu erkennen.»
Demokratie ist die genuine politische Form der Menschheit.
Zentral in Kants politischem Denken ist nicht der Staat, sondern die Menschheit. Der Staat ist bloss Mittel zum Zweck der Erhaltung der Menschheit. Kants Standards der Staatslehre, die Postulierung der menschlichen Würde und der rechtlichen Ordnung, dienen diesem Zweck. Sie sind zu ethischen Massstäben geworden, die heute ganz selbstverständlich zur Beurteilung von Politik herangezogen werden.
Ist Kant ein Rassist?
In postkolonialen Debatten ist das Urteil über Kant längst gesprochen. Und in der Tat gibt es Aussagen des Philosophen, die heute schockierend sind. Volker Gerhardt macht sich die Mühe, die einschlägigen Zitate zu kontextualisieren. Die zu Kants Zeit entstehende biologische Wissenschaft führte den Begriff der Menschenrassen ein. Kant beschäftigt sich damit und nutzt für seine häufig zu haltenden Vorlesungen über Physische Geographie und Anthropologie die ihm zugänglichen Berichte von Entdeckungsreisenden. Daraus entnimmt er Elemente, die heute als rassistisch gelten.
Doch als er sich 1775 erstmals selber zum Begriff der Menschenrassen äussert, hält er fest, dass alle Menschen zu «einer Familie» gehören. Die Unterschiede der Menschen seien äusserlich; als Gattung bildeten sie eine Einheit.
Der Begriff der Menschheit ist der ideelle Gehalt jeder Person.
1785 verschärft Kant seine diesbezügliche Entschiedenheit: In der Weise, wie man bei Tieren von Rassen sprechen könne, sei dies bei Menschen nicht möglich. Die Einheit der Menschen als Gattung ist für sämtliche moralphilosophischen und politiktheoretischen Schriften Kants konstitutiv. Der Begriff der Menschheit ist der ideelle Gehalt jeder Person. Darin liegen sowohl die Würde jeder menschlichen Person wie auch das Verlangen nach Frieden begründet.
«Zum ewigen Frieden»
Auch Kants Alterswerk «Zum ewigen Frieden» (1795) ist in dem Sinn ein «kategorisches» Staatskonzept, als es jene politische Ordnung entwirft, die als allgemeines «Gesetz», beziehungsweise als Beurteilungsmassstab realer Politik dienen kann. Kant postuliert, es müssten alle Staaten der Welt Republiken oder Demokratien sein, damit auf der Basis einer Föderation freier Staaten und eines allgemeinen Völkerrechts eine weltweite Friedensordnung errichtet werden kann. Gerhardt betont, bei dieser kleinen Schrift handle es sich nicht lediglich um ein Friedenstraktat, sondern um den kühnen Entwurf einer Theorie der Politik. Die Wirkung dieses Entwurfs war so weitreichend, dass Kants Friedensschrift die Charta der Vereinten Nationen entscheidend beeinflusst hat.
Die Kombination von Repräsentation und Mehrheitsprinzip war die historische Innovation, die Demokratie praktisch möglich machte.
Zu Rousseaus Demokratievorstellungen war Kant noch auf Distanz gegangen, weil diese auf einstimmigen Beschlüssen basieren; das hat nicht nur er als politisch nicht praktikabel beurteilt. In den von den Neuenglandstaaten und dem revolutionären Pariser Parlament entwickelten Konzepten erkannte er hingegen den Durchbruch der demokratischen Idee: Die Kombination von Repräsentation des Volks durch gewählte Vertreter und Mehrheits- statt Einstimmigkeitsprinzip war die historische Innovation, die Demokratie praktisch möglich machte.
Kant wird in seinem Spätwerk zum engagierten Anwalt der Demokratie und vollzieht damit einen in der Philosophiegeschichte epochalen Positionswechsel. In der Friedensschrift entwickelt er ausserdem die Idee des Weltbürgers als eigentlichem Akteur der Politik. Kant legt damit eine wichtige Grundlage für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948.
Liberale Demokratie oder sozialistische Revolution
Für die Entwicklung des philosophischen Denkens über Demokratie spielt nach Gerhardts Einschätzung eine Schrift des Sprachforschers, Bildungspolitikers und Philosophen Wilhelm von Humboldt (1767–1835) eine wichtige Rolle: «Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen» (1792, wegen der Zensur erst postum publiziert 1851). Mit «Wirksamkeit» ist der Aufgabenbereich und Handlungsrahmen des Staats gemeint.
Humboldt ist darin ganz Kantianer, dass es auch für ihn die freien und zu eigenem Urteil fähigen Individuen sind, die den Staat ausmachen. Politik, so Humboldt, erstreckt sich auf eine derartige Vielzahl und Vielfalt von Situationen, dass sie nicht anders funktionieren kann als durch die Fähigkeiten der vielen entsprechend gebildeten und zu moralischem Verhalten fähigen Einzelnen, die diesen Situationen gewachsen sind – eine genuin demokratische Vorstellung, die, kaum verwunderlich, unter das Verdikt der Zensoren des preussischen Obrigkeitsstaats geriet.
Der Brite John Stuart Mill (1806–1873), Vordenker des Liberalismus, war von Humboldts Schrift begeistert. Er hat das Konzept der demokratischen Staatsform weiterentwickelt. Insbesondere hat er sich mit der theoretischen Legitimierung des Repräsentationsprinzips befasst und die Grundbedingungen einer demokratischen Ordnung formuliert. Es sind dies
- das Prinzip der Öffentlichkeit,
- die Unabhängigkeit der Justiz,
- die Unantastbarkeit der menschlichen Würde
- sowie die Freiheit und Rechtsgleichheit aller Personen.
Rechtsgleichheit war bereits ein Postulat der ersten griechischen Philosophen. Sie praktisch umzusetzen, erfordert zivilisatorische und kulturelle Entwicklungen, die noch nicht abgeschlossen sind. Dies feststellend, kommt Volker Gerhardt zu einer wichtigen Distinktion: Demokratie ist die Staatsform, die gesellschaftliche Verhältnisse grundsätzlich in Frage stellen und reformieren kann.
Demokratie ist die Staatsform, die gesellschaftliche Verhältnisse grundsätzlich in Frage stellen und reformieren kann.
Reform ist zwar nicht die exklusive Domäne, aber auf jeden Fall ein Lebenselement der Demokratie. Demgegenüber romantisieren revolutionäre Staatskonzepte den gewaltsam herbeigeführten totalen Neuanfang und die permanente revolutionäre Gewalt. Für Marx spielte Freiheit keine entscheidende Rolle; sie erscheint bei ihm einzig als Freiheit zu revolutionärem Umsturz. Entsprechend haben Kommunisten die an Freiheit und Recht festhaltende Sozialdemokratie, die für die Umgestaltung der Gesellschaft auf den Weg der Reform setzt, immer verachtet.
Demokratie: Standard oder gefährdete Ausnahme?
Im Schlussteil seiner weit ausgreifenden Studie konstatiert Volker Gerhardt, Demokratie sei in der Mitte des 20. Jahrhunderts zum globalen Standard geworden. Die Vereinten Nationen fordern von ihren Mitgliedstaaten zwar keine demokratische Ordnung, doch die Uno-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beruhen auf Werten, die eigentlich klar auf Demokratie hinauslaufen. Es ist denn auch auffällig, dass autokratische Staaten sich die Mühe machen, mit Pseudo-Parteien, Scheinparlamenten sowie mehr oder weniger subtil gelenkten oder dann gleich dreist gefälschten Wahlen demokratische Fassaden aufzubauen.
Autokratische Staaten bauen demokratische Fassaden auf mit Pseudo-Parteien, Scheinparlamenten und gefälschten Wahlen.
Trotz des sich darin spiegelnden globalen Siegeszugs der Demokratie-Idee steht es um gelebte Demokratie im Weltmassstab nicht zum Besten. Gerhardt kommt mehrfach auf die Trumps und Putins dieser Welt zu sprechen. Die Ausarbeitung seiner «Philosophie der Demokratie» steht merklich unter dem Schock des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Demokratie ist in Putins Russland nur noch ein abblätternder Firnis, unter dem es die seit den Zaren im Wesentlichen unveränderte autoritäre Ordnung gar nicht mehr ernstlich zu verbergen sucht. Russland, wie übrigens auch sein grosser Pate China, ist in dieser Hinsicht ein «einfacher», weil klarer Fall. Beide Mächte treten zunehmend selbstbewusst auf als angebliche Alternative zum Westen.
In theoretischer Hinsicht komplizierter sind diejenigen Staaten und politischen Entwicklungen, die demokratisch zu sein beanspruchen, dabei aber essentielle Bestandteile von Demokratie attackieren oder gar völlig über Bord werfen: Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Freiheit der Meinungen und Lebensentwürfe, Verzicht auf Indoktrination, Integrität des Wahlrechts, Respektierung der Opposition. Entsprechende Tendenzen in den USA unter Trump, in der Türkei unter Erdoğan, in Brasilien unter Bolsonaro, aber auch in Ungarn unter Orbán oder Serbien unter Vučić (die Liste ist bei Weitem nicht vollständig) waren und sind nicht weniger beunruhigend als der geopolitisch aggressive russisch-chinesische Autoritarismus.
78 Prozent der Weltbevölkerung leben in autokratisch beherrschten Staaten.
Weltweit gesehen ist die Demokratie unter starkem Druck. Das Forschungsprojekt «Varieties of Democracy» (V-Dem) der Universität Göteborg weist nach dem Rückgang im letzten Viertel des 20. für das 21. Jahrhundert wieder einen Vormarsch der Autokratien nach. 2022 verzeichneten 42 Länder Tendenzen in Richtung Autokratie und nur 13 solche in Richtung Demokratie. 78 Prozent der Weltbevölkerung leben derzeit in autokratisch beherrschten Staaten – und die Entwicklung läuft in die falsche Richtung.
Mit diesen Aspekten befasst Volker Gerhardts Buch sich nicht explizit. Er versucht zwar im Schlussteil die Kriterien der demokratischen Kultur und Staatsform so zu schärfen und anzureichern, dass sie als Instrumente zur Scheidung der Geister dienen können: diejenigen der echten, substantiellen Demokratien auf der einen und der nur vorgeblichen, in Wirklichkeit aber ausgehöhlten Volksherrschaften auf der anderen Seite.
Eine nicht nur implizierte, sondern direkte philosophische Auseinandersetzung mit Konstrukten wie Orbáns «illiberaler Demokratie» und anderen ideologischen Rechtfertigungen antidemokratischer Tendenzen wäre jedoch zu wünschen. Denn diese Ideologien werden zusehends raffinierter. Sie sehen sich durchaus nicht in der Defensive, sondern treten selbstbewusst auf, versuchen den Westen mit dessen eigenen Ansprüchen und Werten anzugreifen und erzeugen einen Relativismus, der, lässt man sich auf ihn ein, keine klaren Positionen mehr erlaubt.
Vielleicht entschliesst sich Volker Gerhardt, seine zwei anthropologisch-politischen Studien mit einer ethischen Kritik der aktuellen Weltpolitik zur Trilogie zu erweitern. Sie würde gewiss auf starkes Interesse stossen.
Volker Gerhardt: Individuum und Menschheit. Eine Philosophie der Demokratie, C.H. Beck 2023, 352 S.