Der Begriff der Humanität ist nicht erst gestern in Verdacht geraten. Verschrien ist er als Konzept alter weisser Männer, das angeblich auf europäischen Philosophien vergangener Jahrhunderte fusst und zu Unrecht universelle Geltung beansprucht. Wer von Humanität oder «dem» Menschen rede, so ein Standard-Einspruch unserer Tage, verschleiere die realen Ungleichheiten zwischen Kulturen, Klassen und Geschlechtern.
In der philosophischen Disziplin der Anthropologie, der Lehre vom Menschen, haben denn auch zeitgenössische Entwürfe weitgehend gefehlt, bis kürzlich Volker Gerhardt, Emeritus der Humboldt Universität Berlin, seine Monographie zum Stichwort Humanität vorgelegt hat. Das lange Schweigen um das Thema war im Grunde verwunderlich, da ja nach Immanuel Kant alle philosophischen Bemühungen auf die eine Frage hinauslaufen: Was ist der Mensch?
Das Nachdenken über den Menschen ist Kern aller Philosophie und durchaus kein exklusives Geschäft für Bewohnerinnen und Bewohner akademischer Elfenbeintürme. Relevanz hat dieses «Was ist der Mensch?» eben nicht nur als unverzichtbares Element für den Bau philosophischer Gedankengebäude. Die Frage steckt als Prämisse auch in brennenden ethisch-politischen Herausforderungen. Volker Gerhardt führt seine Untersuchung über den Begriff der Humanität denn auch bis in diese Bereiche hinein: Verhältnis zur Technik, künstliche Intelligenz und Transhumanismus, Rechte der Tiere, drohende Selbstzerstörung der Zivilisation, Bedeutung von Spiel und Kunst. Aus dem Nachdenken über das Wesen des Menschen ergeben sich schliesslich Einblicke in die Notwendigkeit von Öffentlichkeit, Selbstbestimmung, Demokratie.
Gerhardt skizziert diese Konkretisierungen in der Einleitung – und löst die Versprechungen dann auch ein. Doch auf dem Weg dahin fordert er von den Leserinnen und Lesern etwas Geduld und viel Bereitschaft zum Mitdenken. Zwar erfordert das Buch lediglich Grundkenntnisse philosophischer Begriffe. Trotzdem ist der gut lesbare Text voraussetzungsreicher als er prima vista erscheint. Der Autor selbst spricht fast entschuldigend von Umwegen, die er im Buch drin gelassen habe. Da ist er zu bescheiden. Die angeblichen Schlaufen erweisen sich als fruchtbare Explorationen.
Rückgriff auf Paläontologie
Eine erste Überraschung in Gerhardts Vorgehen besteht nicht in einem Umweg, sondern in einer Abkürzung: Es ist die Nonchalance, mit der er die wohlbekannten poststrukturalistischen, kulturwissenschaftlichen, postkolonialistischen, genderkritischen Einwände einfach links liegen lässt. Mit fast schon aufreizender Selbstverständlichkeit knüpft er direkt und ohne sich zu entschuldigen an die abendländischen Denktraditionen an und macht den gänzlich unmodischen Kollektivsingular «der Mensch» zum Thema einer philosophischen Tiefbohrung. Vielleicht muss man heute als Hochschullehrer emeritiert sein, um so etwas wagen zu können.
Auch wenn die lauernden Einwände nicht explizit abgehandelt werden, sind sie doch präsent. Bloss hat Gerhardt sich für ein anderes Vorgehen entschieden: Mit sorgfältiger Sichtung paläontologisch-anthropologischer Forschungen sammelt er das aktuelle Wissen über die Evolution des Menschen und zeichnet so zunächst das Werden und von daher das grundlegende Wesen des homo sapiens nach, das diesen von anderen Lebensformen unterscheidet. Mit diesem die Natur- und Geisteswissenschaften integrierenden Ansatz visiert Gerhardt eine Beschreibungsebene an, die unterhalb kultureller und gesellschaftlicher Distinktionen liegt. Und tatsächlich gewinnt er hier die wesentlichen Charakteristiken des Menschen. An sie hält er sich konsequent in der Ausarbeitung seiner philosophischen Anthropologie.
Spaltung zwischen Natur und Geist unterlaufen
Ein Vorteil dieses Untersuchungsdesigns liegt zum einen in der Umgehung des sonst unvermeidlichen Streits mit poststrukturalistischen, postkolonialistischen, postpatriarchalen Positionen. Viel wichtiger aber – und das ist die zweite Überraschung bei Gerhardts Ansatz – ist die Auswirkung auf den gesamten Duktus der Abhandlung: Gerhardt kommt so zu einer Sichtweise, die den Menschen, obwohl das Augenmerk auf dessen evolutionärer Besonderheit liegt, stets als Teil der Natur betrachtet. Das ist in der abendländischen Denktradition weder selbstverständlich noch unumstritten. Im Gegenteil: Von der Antike bis in die Moderne herrschen Auffassungen vom Menschen vor, die diesen mehr oder weniger streng zweiteilen in ein Natur- und Geistwesen, wobei die Natursphäre nicht nur zweitrangig, sondern vielmals völlig abgewertet ist.
Eine erste aus der Evolution stammende unterscheidende Wesensbestimmung bezeichnet den Menschen als das Wesen, das Probleme hat – und das aus diesem Umstand einen Überlebensvorteil zieht. Aus Erfahrungen des Problemlösens bilden sich elementare Strukturen vernünftigen, auf seine Richtigkeit überprüfbaren Denkens, sodass man den Menschen auch das animal rationale, das vernunftfähige Tier, genannt hat. Gerhardt zieht immer wieder solche Begriffskombinationen heran, um einerseits die Verbundenheit des Menschen mit der tierisch-natürlichen Welt zu unterstreichen und gleichzeitig zu zeigen, welches die Entwicklungen sind, die dessen evolutionäres Plus ausmachen.
Doch die Vernunft ist, mit Nietzsche gesprochen, eine Funktion des Leibes. Sie steht mit ihren Bewusstseins-Instanzen des Ich und des Selbst im Dienst des Körpers – und kann gleichwohl zu diesem auf Distanz gehen. Durch ihre Leiblichkeit ist die Vernunft sodann ein Phänomen des Sozialen: Das Ich des einen Menschen vermag zu verstehen, was das Ich des anderen erlebt und äussert. Das Bewusstsein ist ein soziales Organ; es hat die Form eines Gesprächs zunächst zwischen Ich und Mich, und diese reflexiv-dialogische Struktur ermöglicht wiederum die Kommunikation mit einem Du und mit Erscheinungen der Welt.
Neue Philosophie des Geistes
Die Summe sozial und kulturell wirksamer Bestände des Bewusstseins heisst Geist – ein nach Meinung Volker Gerhardts in der Philosophie fatalerweise vernachlässigter Begriff. Gerhardt verhilft ihm schon mit dem Untertitel seiner Monographie zu neuer Prominenz: «Über den Geist der Menschheit» – eine bei Wilhelm von Humboldt ausgeborgte Formel.
Denkt man bei der Wesensbestimmung des Menschen von dessen Entwicklungsgeschichte her, so erwartet man wohl weniger die bei Gerhardt zuerst erörterten Formeln des homo quaerens (fragender Mensch) und des animal rationale, sondern die geläufigere Artbezeichnung homo sapiens (wissender, vernünftiger, intelligenter Mensch). Der Sapiens, einziger noch lebender Hominide, ist bekanntlich der – naturgeschichtlich gesehen – moderne Mensch, der vor etwa 300’000 Jahren auftrat.
Volker Gerhardt legt nun aber Wert darauf, die stammesgeschichtliche Bezeichnung homo sapiens nicht als alleiniges Wesensmerkmal zu sehen, das irgendwann in die Welt gekommen wäre und das, was wir als den Menschen kennen, schlagartig von früheren Hominiden abgehoben hätte. Vielmehr ist es eine Kombination von Merkmalen, die eine neue Entwicklungsstufe herbeiführten. Und um den Menschen heute zu verstehen, so Gerhardt, muss man das Zusammenwirken der evolutiven Eigenschaften beachten.
Technik der Distanzierung
Den homo sapiens hätte es nie gegeben ohne die Entwicklung zum homo faber, zum kunstfertigen Macher-Menschen. Der Faber dürfte älter sein als der Sapiens, da ja das Greifen dem Begreifen vorausgeht; doch beides ist aufs engste verbunden. Der homo faber et sapiens entwickelt durch seine Kombination von handwerklich-technischen und intellektuell-kulturellen Fähigkeiten die Potentiale, die wir als unterscheidend menschlich betrachten. Dabei spielt der Aspekt des Technischen eine viel grössere Rolle als das heutige Verständnis des Wortes vermuten liesse. Das griechische techne bezeichnete ursprünglich das handwerkliche Können, doch die Bedeutung des Begriffs weitete sich sukzessive aus auf jegliche methodisch geplante Arbeit, um schliesslich auch auf Kunst und Wissen bezogen zu werden.
Die grundlegende Leistung des homo faber et sapiens besteht in der Fähigkeit der Distanzierung: Sowohl das Machen wie das Denken geschehen nicht unmittelbar, sondern mit Hilfe von Werkzeugen. Die Sprache ist ein «technischer» Akt in dem Sinn, dass sie als Werkzeug Distanz schafft, Überblick erlaubt und Reflexion ermöglicht.
Inspiriert von Denkern wie Ernst Cassirer und Helmut Plessner wagt Gerhardt die kühne, aber bestechende These, Kultur und Geist seien nichts anderes als Formen der Natur. So gelingt es, die im abendländischen philosophischen und vor allem theologischen Denken notorische Spaltung zwischen Natur und Geist zu vermeiden. Die Vorteile dieses Denkansatzes sind eklatant. Sie zeigen sich am deutlichsten, wenn das Grundtheorem der Gerhardtschen Anthropologie, Natur und Geist seien keine substanziell geschiedenen Sphären, in ethisch-politische Debatten einfliesst.
Öffentlichkeit als Instanz der Menschheit
Gerhardt benötigt ein weites vorbereitendes Feld, um Begrifflichkeiten und Sichtweisen für seine Anthropologie zu etablieren. Doch dann geht es Schlag auf Schlag wie bei einer umsichtig geplanten Schachpartie: Wissen erwächst nur aus Verbindungen zwischen verschiedenen Gleichartigen, die sich als soziale Wesen konstituieren und eine Sphäre des Öffentlichen schaffen. In dieser erst können Wahrheitsansprüche geltend gemacht werden.
Das Private gehöre zum Öffentlichen wie der Körper zum Bewusstsein, konstatiert Gerhardt, dessen hier entwickelte Reflexionen zum Thema Öffentlichkeit und Demokratie gewiss zum Besten gehören, was derzeit philosophisch zu diesem Themenkreis an Klärendem angeboten wird. Er versteht das öffentliche Bewusstsein als eine Instanz der Menschheit, welche die Basis bildet für Moral, Religion und Kunst. Und diese seien «Tatsachen», die um der Humanität willen nicht verleugnet werden dürften. Diese Bewusstseinsgehalte führen den Menschen an Grenzen des Begreifbaren und veranlassen ihn zum Versuch, ins Transzendente auszugreifen, das ihm allerdings unzugänglich bleibt. Solche «Sinnerwartungen», so Gerhardt, gehören zur Natur des Menschen. Und diese Natur ist nicht ein Durchgangsort, sondern «der gleichermassen existenzielle wie metaphysische Ort» des Menschen.
Ungetrennt von der Natur
Mit solchen Formulierungen bekräftigt Gerhardt seine Position, die keine scharfen Trennungen zwischen paläontologischen, historischen, kulturellen und philosophischen Sichtweisen zulässt. Die Geschichte der Menschheit setzt die Naturgeschichte des Lebens fort. Mit dem homo faber hat eine Beschleunigung der Evolution eingesetzt, die gleichzeitig die biologische Innovation durch verringerte Mutationsraten verlangsamt hat. Menschliche Gesellschaft und Kultur sind also Naturerscheinungen. Die im 19. Jahrhundert gefallene Entscheidung, die Geistes- von den Naturwissenschaften zu trennen, hat denn auch nach Gerhardts Auffassung die ersteren enorm geschwächt. Er selbst hält mit seiner Art, Philosophie zu treiben, dagegen.
Sind die als unterscheidend «menschlich» aufgefassten Grössen Verstand, Vernunft, Kultur und Geist als der Natur zugehörig aufgefasst, so ergeben sich unter anderem Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Den Tieren Bewusstsein zuzugestehen, verliert den Schrecken eines Statusverlustes für den Menschen. Es wird eher möglich, das Gemeinsame der Arten zu respektieren – selbstverständlich mit Folgen für den menschlichen Umgang mit Tieren.
Humanität – eine reale Idee
Die Sicht des Menschen als Teil der Natur widerspricht nicht der Idee der Selbstbestimmung. Kant ist der Erste, der diesen Begriff gebraucht hat, da in seinem Verständnis beim Menschen Subjekt und Objekt zusammenfallen: Der Mensch macht sich autonom zum moralischen Subjekt, zum Exponenten der «Menschheit». Bei diesem Begriff handelt es sich um eine Idee mit empirischer Grundierung. Solche leitenden Ideen betrachtet Gerhardt – im Einklang mit Kants kritischem Idealismus – als reale Bestandteile der Kultur, und zwar in dem Sinne, dass der Mensch trotz aller negativen Erfahrungen nicht anders kann, als die «Menschheit» in den Rang eines höchsten Zwecks zu erheben. Nur als Idee kann sie Realität werden. Der Begriff der Humanität durchdringt die Realität des Menschen.
Was aber ist mit der herbeigesehnten oder befürchteten Abdankung des Menschen. Der von Tech-Utopisten propagierte Transhumanismus durch übermenschliche künstliche Intelligenz erinnert Gerhardt an Nietzsches Reden vom Übermenschen, der die Evolution fortführe in Analogie zum Übergang «vom Affen zum Menschen». Volker Gerhardt hält es hier mit dem Biologen Julian Huxley. Dieser nimmt an, der Mensch werde, gerade indem er durch Verwirklichung neuer Möglichkeiten seine Natur überwinde, Mensch bleiben. Denn «unabhängig von der Bewertung des erreichten Zustands wird man nicht leugnen können, dass sich kein anderes Lebewesen in so kurzer Zeit so stark verändert hat wie der Mensch». Trotzdem erkennt dieser sich auch in entfernten Vorfahren wieder, was ein Zeichen der grossen «Plastizität des menschlichen Selbstbegriffs» sei. Und dieser Begriff seiner selbst, so Gerhardt, ist «die Vorstellung von der selbstbewussten Individualität des Menschen, seiner Freiheit und Würde mit dem sie tragenden Begriff der Person, in dem sich die Humanität erfüllt».
Volker Gerhardt: Humanität. Über den Geist der Menschheit, Verlag C. H. Beck, München 2019, 320 S.