Vorab und in aller Deutlichkeit sei daran erinnert, dass der EU-Raum nicht die einzige Region der Welt ist, die turbulente Zeiten durchlebt. So macht auch den USA eine vergleichbare Krise zu schaffen. Doch, während die USA beispielsweise die EU für Schuldenstände kritisieren, geht vergessen, dass gerade dort ein Schuldenszenario unaufgeregter Alltag ist, bei dem der Verschuldungsgrad erklecklich höher liegt als im EU-Raum, bei 112 Prozent des BIP gegenüber durchschnittlich 86 Prozent in der EU (28), resp. 92 Prozent (17).
Im europäischen Fokus stehen aber natürlich die Sorgenkinder: Griechenland mit 182 Prozent, Italien 128 Prozent, Portugal 124 Prozent, Irland 119 Prozent - in diesen Ländern liegen die Herde der gefährlichen Turbulenzen. (Zum Vergleich: Schweiz 46 Prozent). Diese Werte können je nach Quelle leicht abweichen.
Treten wir einen Schritt zurück und konzentrieren wir uns auf den alten Kontinent. Grundsätzlich ist die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EU) ein ambitiöses, langfristiges Friedensprojekt. Dessen Hauptidee: Kooperation statt Krieg. Das darf nicht, auch nicht nach 60 Jahren, in Vergessenheit geraten. Dieses Ziel vor Augen wurde der Europäische Binnenmarkt aufgebaut – als Mittel zum Zweck, sozusagen. Der Euro, die einheitliche Währung in 17 von 28 EU-Staaten, ist dabei selbst ein Subaspekt, quasi die dritte Stufe unter dem Generationen übergreifenden Friedensziel. Im Kurzzeitgedächtnis vieler Europäer und Europäerinnen werden solche banale Faktoren allzu oft verschüttet. Zu dieser Bevölkerungsgruppe zähle ich übrigens auch einige Inselbewohner der Glückseligkeit, Schweizerinnen und Schweizer.
Die griechische Schuldenkrise
Viel wurde in letzter Zeit in den Medien über die Eurokrise berichtet. Bei differenzierter Betrachtungsweise wäre indes eben nicht von einer Euro- sondern einer Schuldenkrise zu reden. Griechenland, um ein Beispiel zu nennen, steht zu Recht im Fokus. Das Land musste gerettet werden, nach Irland der zweite Dominostein im gefährlichen Spiel. Die griechischen Schulden stehen im Zusammenhang mit der Mentalität einer liebenswerten Bevölkerung, die über die Jahrzehnte etwas gar zu sorglos und gut lebte und ihrer Regierung, die damals bei der Aufnahme in die EU trickste, ohne rot zu werden. Dort liegt natürlich der Beginn des Marktdebakels, sichtbar beim Euro als Kristallisationspunkt.
Während Jahren kauften die Griechen Tomaten in Holland. Diese waren billiger als die einheimischen. Warum? Das einheimische Transportgewerbe war geschützt, die Gewerkschaft hat diese absurde Situation auf dem Gewissen mit ihren völlig welt- und marktfremden Lohnforderungen. Die griechische Schuldenkrise ist eigentlich eine Marktkrise.
Der sich selbst regulierende Markt
Doch Märkte, wir wissen es inzwischen, tendieren nicht immer dazu, sich selbst zu regulieren. Gerade hat Robert Shiller den Wirtschaftsnobelpreis dafür erhalten, dass er vor Jahren nachgewiesen hat, dass die mathematischen Modelle der rationalen Idealwelt, die so wunderbar funktionieren müssten, ab und zu fern der Realität sind. Der immer rational handelnde Mensch ist ein Irrlicht des Rationalismus, wie auch aus anderen Wissenschaftszweigen berichtet wird. Somit ist Marktversagen ein menschliches Versagen.
An dieser Stelle lohnt sich ein weiterer kurzer Zwischenhalt. Wie Raimon Panikkar, der spanische Philosoph einst sagte, ist für ihn „die wahre Welt nicht die Welt der Zeitungen, des Fernsehens oder der Politik.“ (Wohl auch nicht die der Finanz- und Wirtschafts- oder Binnenmarktwelt). Unter Welt versteht er nicht den abstrakten Begriff, „sondern eine menschliche Welt und die Menschen, die leben, leiden, kämpfen, sterben.“ Dies vor Augen, könnte man folgern, dass die Politikerinnen und Politiker, die sich in Brüssel zu Tausenden und oft mit echtem Engagement um die Zukunft ihres „Marktes“ kümmern, eben nur Darsteller in eine Schattenwelt sind und, dies meine Spekulation, nicht die Protagonisten auf der wirklichen Bühne des menschlichen Alltags repräsentieren.
Die Fokussierung auf den Binnenmarkt der EU beleuchtet im Grunde genommen die Menschen, die sich darin bewegen. Und auch diese, das sagt die Forschung aus der Neuroökonomie, tendieren dazu, nicht immer dem Menschenbild eines rationalen Wesens zu entsprechen. Es erstaunt denn auch nicht, dass ein anderer Wirtschaftsnobelpreisträger, George A. Akerlof, schon vor geraumer Zeit nachgewiesen hat, dass die wichtigsten Faktoren der Wirtschaft die „Animal Spirits“ (Instinkt, Gefühl, Geist) sind. Somit haben – so meine These – ökonomische Ereignisse wie Marktversagen größtenteils mentale Ursachen. Etwas überspitzt formuliert, hat sich die Makroökonomie in den letzten 30 Jahren eigentlich in die falsche Richtung bewegt.
Kontrollwahn und Regulierungswut in der EU
Daraus lässt sich nun durchaus den Schluss ziehen, dass im Reglementierungsgestrüpp der EU, wuchernd seit Jahrzehnten und alle nationalen Grenzen überquerend, falsche Folgerungen und Maßnahmen ein Gewicht erhielten, das ihnen gar nicht zukommt. Der von Brüssel ausgehende Regulierungswahn ist die Konsequenz eines untauglichen Marktverständnisses, er verkörpert die Schattenwelt und vernachlässigt die Hauptdarsteller der wirklichen Welt. „Weniger wäre mehr“, dafür mit anderen Schwerpunkten.
Aktuellster Akt dieses Trauerspiels: Jetzt will die EU-Kommission mit einem weiteren Gesetz „die Duftstoffe in Kosmetika“ restriktiver und einheitlich reglementieren. Dies würde ausgerechnet für die Hersteller von Naturkosmetika neue Hürden aufbauen. Ein unverhältnismäßiger Eingriff auf einem Gebiet, das naturgemäß eben nicht nach einer uniformen Reglementierung ruft.
Angst vor Machtverlust
Doch warum diese Regulierungswut? Begründet wird sie oft damit, dass für den erfolgreichen Prozess der supranationalen Integration ein einheitliches Regelwerk unabdingbar wäre. Doch diese statischen Fesseln engen ein, reglementieren hunderte von Details, die für das Gelingen des Hauptprojekts wenig relevant sind. Sie befassen sich intensiv und bis ins kleinste Detail mit administrativen Vorschriften, weil sie ein theoretisches Marktmodell beschreiben, das in Tat und Wahrheit, gar nicht existiert. Die beiden oben erwähnten Friedensnobelpreisträger entlarven indirekt die fragwürdigen Kontrollstrategien der Funktionäre, die den Markt regulieren wollen und dabei den Menschen vergessen.
Jetzt lässt sich weiter folgern: Jeder Kontrollwahn ist die Folge eines befürchteten Machtverlustes. Was war zuerst? Befürchtet „Brüssel“ vielleicht, die Macht darüber zu verlieren, wie sich die EU dereinst verwirklichen und erleben soll?
Gerade sind wir in diesen Monaten Zeugen des Aufkommens einer neuen Weltsicht und eines neuen Zeitverständnisses. Alle Kontrollversuche über Internet und BIG DATA müssen scheitern, da eben diese digitalen Errungenschaften die persönliche Freiheit der Menschen stärken. Das Machtverständnis der Chefs der NSA in den USA ist ein Relikt des letzten Jahrhunderts, als dieses Land – auch das sollten wir nicht vergessen – Europa aus den Klauen jenes Machtmenschen befreit hat, der besessen war vom Kontrollwahn über Rassen, Völker, Menschen. Wer den Machtanspruch zurückstellt, entgeht der Ohnmacht.
Die wirkliche Welt akzeptieren
Der in Gang gekommene Denkwandel weg von Macht, Planung, Programm, Kontrolle hin zu einer bescheideneren Vorstellung über die menschlichen Qualitäten, in Richtung Akzeptanz der Welt als Chaos, Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit müsste die Richtung andeuten, in der es auch der EU gelingen könnte, sich aus einem Teil der Turbulenzen lösen. Weniger starre Klammern, weniger alles reglementierende, rechtliche Vorgaben, weniger vorausschauende Planungswut. Mehr Vertrauen in die Menschen und in die dort überall angelegten Wünsche nach Frieden und Freiheit.
Ulrich Beck stellte schon vor einigen Jahren die Frage, wodurch Menschen verschiedener Nationalitäten und Vergangenheiten möglicherweise geeint werden könnten. Seine These: „durch die traumatischen Erfahrungen der erzwungenen Gemeinsamkeit globaler Risiken, die die Existenz aller bedrohen“. Soweit sind wir im Moment noch nicht, doch wenn wir den Satz auf unser Thema fokussieren, könnte er so lauten: durch die traumatischen Erfahrungen der erzwungenen Gemeinsamkeit nationaler Risiken, die die Existenz der ganzen EU bedrohen.
„Chinesische Mauer“ zwischen Schweiz und EU
Bislang war die EU Thema dieser Kolumne. Kommen wir zum Schluss zur Schweiz. Die „chinesische Mauer“, die Metapher, die seit 1992 Befürworter und Gegner einer Annäherung unseres Landes an die EU trennt, ist die in Beton gegossene Vorstellung, dass fremde Richter dereinst über uns richten könnten. Das von Donnergrollen begleitete Bild in den Köpfen einiger Verteidiger der unabhängigen und neutralen Schweiz, beruht seinerseits auf dem Machtanspruch „alles selbst zu kontrollieren“, auch wenn die Praxis inzwischen längst ganz andere Tatsachen widerspiegelt.
Ähnlich wie das Marktverständnis des europäischen Binnenmarkts sich als Mythos entpuppt hat, dem in Brüssel nachgelebt wird, erweist sich in unserem Land der Schlachtruf „auf in den Kampf gegen die fremden Vögte“ als entzauberter Mythos von Menschen, die im Kampf ihren Sieg suchen, statt in der Kooperation eine moderne Erkenntnis zu verwirklichen. „Die menschlichen Gene sind auf Kooperation angewiesen“, wissen wir aus der neurobiologischen Forschung, auf Zuwendung, Vertrauen und Wertschätzung. Dass der Mensch primär auf Egoismus und Konkurrenz eingestellt wäre, ist widerlegt.
Was können wir daraus folgern? Die Schleifung der „chinesischen Mauer“ ist eine dringende Aufgabe der zivilisatorischen Entwicklung in unserem Land. Die 120 bilateralen Abkommen, die in 27 gemeinsamen Ausschüssen EU/Schweiz mühsam verhandelt wurden, sind genug. Umgekehrt: die neue Ausrichtung in Brüssel, weg vom Kontrollwahn des anonymen Gebildes eines Marktes, hin zur Akzeptanz der chaotischen Welt und deren Bewohner, ist gleichermaßen ein Gebot der Zeit. Wenn einmal auf beiden Seiten die instrumentalisierten Mythen und die alten Machtstrukturen entsorgt sind, könnten wir „in einer menschlichen Welt, deren Menschen, die da leben, leiden, kämpfen, sterben“ eigentlich friedlich Turbulenzen und dem Donnergrollen hinter uns lassen.