Der Mordanschlag auf eine Schule in Peschawar vom 16. Dezember, dem nach der letzten Zählung 132 Schüler und 20 Erwachsene zum Opfer fielen, hat die politischen Verhältnisse in Pakistan auf den Kopf gestellt. Die Schüler waren in vielen Fällen die Söhne von Offizieren. Es handelte sich um eine der Schulen, die von der Armee für ihre Familien betrieben werden, in die aber auch Kinder anderer meist bürgerlicher Familien Zugang finden. Es gibt in ganz Pakistan 128 solcher Armeeschulen; sie werden von 150‘000 Schülern besucht. Neunzig Prozent davon sollen die Kinder von Offizieren sein.
Das Ende der "guten Taliban"?
Die Armee hat nach dem Anschlag erklärt: "Von nun an gibt es keinen Unterschied mehr zwischen guten und schlechten Taliban". Dass es einen solchen Unterschied vor dem Anschlag gegeben hätte, haben die Armeeangehörigen nie gesagt und manchmal sogar abgestritten. Doch ihre Handlungen zeigten, dass sie einen derartigen Unterschied gemacht haben. Dies schon seit sehr langer Zeit. Die "guten" afghanischen Taliban waren weitgehend eine pakistanische Schöpfung. Sie wurden von den pakistanischen Geheimdiensten 1994 lanciert, indem sie die kleine Kampfgruppe des afghanischen Mullahs, Muhammed Omar, unterstützten, und zwar mit Geld, Waffen und Rekruten aus den pakistanischen Madrases. Muhammed Omars Kampftruppe soll sogar von pakistanischen Offizieren in strategischer und taktischer Führung geschult worden sein.
Schon bevor die Taliban ihren Kampf in ihrem unruhigen Nachbarland begonnen hatten, hatten die pakistanischen Offiziere die Mudjahedin in Afghanistan über ISI, den pakistanischen Geheimdienst, betreut und gelenkt. Das war im Krieg gegen die Sowjetarmee von 1979 bis 1988. Die Amerikaner lieferten Waffen und Geld, Saudi-Arabien ebenfalls Gelder. Der ISI-Geheimdienst hatte sich das Recht ausbedungen, für die Verteilung der Waffen zuständig zu sein. Sie gingen nach Gutdünken von ISI an eine oder mehrere der sechs afghanischen Kampfgruppen, die ihre Verbindungsbüros in Peschawar besassen und die von Pakistan als die einzigen Verbindungsstellen des afghanischen Widerstands mit dem Ausland geduldet wurden.
Gegen Indien
Die pakistanischen Massnahmen entsprachen schon damals einer strategischen Doktrin der pakistanischen Heeresführung, nach welcher Afghanistan als die "strategische Tiefe" Pakistans gegenüber Indien zu dienen habe. Ohne Afghanistan, so lautete diese Doktrin, wäre der langgezogene und relativ dünne Schlauch des Indischen Subkontinentes, den Pakistan an der Westseite Indiens bildet, unerträglichem Druck durch das so viel grössere Indien ausgesetzt. Besonders gefährlich, so fürchteten die pakistanischen Strategen, würde diese Lage dann, wenn im Norden ihres Landes, jenseits der afghanischen Grenze, Indien Einfluss erlangen sollte und so Pakistan auch noch vom Norden her "einkreisen" könnte.
Aus diesem Grund, so die Doktrin von der "strategischen Tiefe", müsse Pakistan stets Einfluss auf seinen nördlichen Nachbarn ausüben. Afghanische Militante, besonders wenn sie im Namen des Islams auftraten, galten den pakistanischen Militärs über Jahrzehnte hinweg als das sicherste Mittel, um im Nachbarland Einfluss zu nehmen und zu bewahren - und dadurch Indien daran zu hindern, seinerseits in Afghanistan Fuss zu fassen.
Wenn es den Amerikanern in den 80er Jahren darum ging, die Sowjetunion in Afghanistan zu bekämpfen, sollte dies den pakistanischen Strategen recht und billig sein. Sie waren bereit, dabei mitzuhelfen, jedoch stets so, dass sie auf diesem Weg ihren Einfluss auf Afghanistan stärken und festschreiben konnten.
Politikwechsel nach 9/11
Nach dem Abzug der Russen von 1988 brach in Afghanistan das Chaos aus. Die afghanischen "Warlords" kämpften gegeneinander. Islamabad begann 1994 die Taliban zu fördern, um die chaotische Lage in Afghanistan wieder in den Griff zu bekommen. Als die Taliban zwei Jahre später Kabul einnahmen und danach ihre Herrschaft über Afghanistan zu errichten begannen, wurden sie einzig von Pakistan und von Saudi-Arabien anerkannt und unterstützt.
Der Anschlag auf das World Trade Center in New York durch Bin Laden, Gastfreund der Taliban, zerstörte dann die Afghanistan-Politik Pakistans. Die Amerikaner beschlossen, die Taliban aufzureiben. Als sie mit ihren lokalen Verbündeten gegen die Taliban-Truppen in Nordafghanistan vorgingen, mussten Hunderte von pakistanischen Offizieren, die als Mentoren der Taliban gedient hatten, in einer eiligen Notaktion nach Pakistan evakuiert werden. Dies, um zu vermeiden, dass sie von den Amerikanern und ihren Verbündeten der Nordallianz getötet oder gefangengenommen wurden.
Pakistanisches Doppelspiel
Die späteren Entwicklungen zeigten, dass die pakistanische Armee trotz dieses Rückschlags ihre Afghanistan-Doktrin nicht aufgab und im Geheimen weiterführte. Für sie waren die afghanischen Taliban "gute Taliban" geblieben. ISI rechnete damit, dass sie nach dem Abzug der Amerikaner wieder verwendbar würden. Der Geheimdienst sorgte deshalb dafür, dass die Taliban-Führung unter Mullah Mohammed Omar in der pakistanischen Grenzstadt Quetta Unterschlupf fand. Sogar Bin Laden konnte, wie sich erweisen sollte, in der Garnisonsstadt Abbotabad jahrelang ein sicheres Asyl beziehen. Was auch die Frage aufwirft, wo sich wohl sein Nachfolger, Ayman Zawahiri, heute aufhalten könnte.
Das Doppelspiel, das die pakistanischen Offiziere mit den Amerikanern spielten, deren Verbündete sie waren, aber deren Feinde sie heimlich beschützten, hatte immer den Zweck, eine Möglichkeit für Pakistan zu bewahren, nach dem Abzug der Amerikaner in Kabul Einfluss zu nehmen und jedenfalls zu vermeiden, dass Indien dort zum politischen Hauptpartner werde.
Die "bösen" Taliban stammen aus Islamabad
Dann aber traten "böse Taliban" auf. Diese waren zuerst in Islamabad in Erscheinung getreten, als radikale Islamgelehrte die Rote Moschee in der Hauptstadt zum Sitz islamistischer Propaganda erwählten. Die Moschee war von dem früheren Militärdiktator Zia ul-Haqq (Präsident von 1978-1988), der eine "islamische" politische Linie begünstigte, gefördert worden. Die Moschee zog grosse Mengen von Studenten (Taliban) an und besass auch eine getrennte islamische Schule für Frauen, ebenfalls radikaler Ausrichtung. Mit den Jahren versuchten die radikalen Mullahs und ihre Studenten, den Einfluss ihrer Lehrstätte auch auf die umgebenden Stadtteile von Islamabad auszudehnen. Sie wollten deren Bewohnern und Händlern eine Lebensweise aufzwingen, die ihren Vorstellungen des Islam entsprach. Dabei stiessen sie mit den Behörden und dem damaligen Machthaber, General Pervez Musharraf, zusammen.
Es kam zu Verhandlungen, die fehlschlugen. Schliesslich stürmten Sondertruppen der Regierung am 10. Juli 2007 die Moschee und die angegliederten Lehrstätten. Einer der beiden Brüder, die die Moschee geleitet hatten, wurde erschossen. Der zweite gefangengenommen, als er versuchte, verkleidet zu fliehen. Die Zahl der Toten ist bis heute umstritten.
Rache an Pakistan
Viele der aus der Hauptstadt vertriebenen "Studenten" und Geistlichen nahmen Zuflucht in den halbautonomen Grenzgebieten zu Afghanistan, besonders in Swat und Nord- und Südwaziristan. Diese Regionen wurden von Stammesautoritäten regiert. Diese rebellierten manchmal gegen die Zentralregierung in Islamabad. Eine derartige Rebellion war 2002 von der pakistanischen Armee niedergeschlagen worden.
Die radikalen Islamisten setzten sich in den Stammesgebieten fest. Ihr erklärtes Ziel wurde, einen islamischen Staat unter der Scharia in ganz Pakistan zu errichten. Doch in der Praxis konzentrierten sie sich zunächst darauf, ihre Herrschaft den lokalen Stammesführern aufzudrängen. Sie arbeiteten dabei lose mit den afghanischen Taliban auf der anderen Seite der Grenze zusammen. Ferner standen sie in enger Kampfgemeinschaft mit zahlreichen radikalen islamistischen Gruppen pakistanischer Herkunft. Die Gesamtführung übernahm Beitullah Mahsud. Er gehört dem in Wasiristan führenden Stamm der Mahsud an. Für ihn und seine Anhänger wurde der Sturm auf die Rote Moschee Anlass zur Rache am pakistanischen Staat und an seiner Armee. Beitullah begann seinen "Krieg" mit der Gefangennahme von 200 Soldaten der Armee, die er zwei Monate lang festhielt. Die Armee war gezwungen, ihre Freilassung mit ihm auszuhandeln. Später führten die pakistanische TTP (Bewegung der Taliban Pakistans) Bombenanschläge gegen zivile Ziele durch. Sprengkörper explodierten auf Märkten, bei Versammlungen und bei Sufi-Festlichkeiten.
Vertrauen in die Regierung untergraben
In den letzten 13 Jahren wurden in Pakistan 70‘000 Menschen durch solche Anschläge getötet. Die TTP unterhielten Kontakte mit den afghanischen Taliban und mit den überlebenden al-Qaeda Kämpfern. Doch die pakistanischen Taliban hatten ihr eigenes Ziel, eben die Errichtung eines islamischen Staats in Pakistan.
Die Bombenanschläge sollten dazu dienen, das Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit des Staates, ihre Sicherheit zu gewähren, zu untergraben. Auch in den Stammesgebieten kam es zu Anschlägen. Ziel waren Gegner der Taliban-Führung. Zudem schüchterten sie jene traditionellen Stammesführer ein, die sich weigerten, mit den Taliban zusammenzuarbeiten.
Drohnenangriffe
2007 und 2009 unternahm die Armee grössere Offensiven, die erste in Swat, die zweite in Nordwasiristan. Doch die Führung der pakistanischen Taliban konnte stets auf Nachbargebiete diesseits oder jenseits der Grenze ausweichen. Gegenwärtig ist eine Grossoffensive der Armee in Südwasiristan im Gang. Sie begann am 15. Juni 2014 und ist noch nicht abgeschlossen.
Die Amerikaner versuchten Taliban-Führer durch Luft- und Drohnenangriffe auszuschalten. Es gelang ihnen 2009 Beitullah Mahsud und im folgenden Jahr seinen Nachfolger Hakimullah Mahsud zu töten. Doch oft wurden Unschuldige getroffen. Die Angriffe scheinen gesamthaft den Hass auf Amerika in den Stammesgebieten gewaltig gesteigert zu haben.
Streit, Zersplitterung
Nach dem Tod des zweiten Taliban-Führers gab es Streit über die Nachfolge, der schliesslich zu einer starken Zersplitterung der Bewegung führte. Sie hat heute eine offizielle Führerfigur, die nicht zum Stamm der Mahsud gehört, Mullah Fazlullah. Er wurde am 7. November 2013 ernannt. Offenbar hält er sich oft auf der afghanischen Seite der Grenze auf, um der pakistanischen Armee zu entgehen. Im November 2014 soll er nur knapp einem Drohnenschlag der Amerikaner entkommen sein. Mulla Fazlulla hat Stellvertreter in den meisten der zahlreichen Regionen ("agencies") der Stammesgebiete. Doch er hat auch viele Rivalen, die ebenfalls die Führung beanspruchen, darunter einige aus dem bisher führenden Stamm der Mahsud. Die Pakistanischen Taliban haben inzwischen auch Zweigstellen im Punjab und in Karachi aufgebaut.
Die Zersplitterung der Bewegung trägt dazu bei, dass es fast unmöglich ist, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Abmachungen, die mit einigen ihrer Führer getroffen werden, gelten nicht für deren Rivalen. Im Gegenteil, diese suchen ihre Gegner auszustechen, indem sie sie sich nicht an die Abmachungen halten. Dies war die Erfahrung von Regierungschef Nawaz Sharif, der im vergangenen Jahr mit den Taliban Waffenstillstände abschloss. Kurz darauf kam es zu weiteren Bombenanschlägen.
Angekündigter Bannstrahl in Kaschmir
Viele der zahlreichen radikalen islamistischen Gruppen, die mit den Taliban zusammenarbeiten, waren gleichzeitig auch Instrumente der Geheimdienste. Die radikalen Kampftruppen wurden im Guerillakrieg in Kaschmir eingesetzt. Sie führten Anschläge durch, die die Geheimdienste selbst nicht durchführen wollten. Diese Zusammenarbeit hatte bereits in den Gründungsjahren Pakistans begonnen, als die blutige Trennung der beiden indischen Staaten durchgeführt wurde, aber Kaschmir als Streitobjekt übrig blieb.
Pakistan setzte damals irreguläre islamische Kämpfer ein, um den Norden Kaschmirs "zu befreien". Dieser gehört heute praktisch zu Pakistan, trägt aber noch immer den Namen "Azad Kashmir" (Freies Kaschmir). Diese schon mehr als ein halbes Jahrhundert alte Zusammenarbeit soll nun beendet werden. Es ist die Rede davon, die verschiedenen radikalen islamistischen Gruppen endgültig als illegal zu erklären. Zu den bekannteren dieser Gruppen gehören "Lashkar-e-Taiba" (Heer der Reuigen), "Sepah-e-Sahaba" (Heer der Gefährten Mohammeds - spezialisiert in Mordaktionen gegen Schiiten) und die "Haqqani Gruppe", deren Angehörige in Wasiristan zuhause sind, aber in Afghanistan gemeinsam mit den afghanischen Taliban kämpfen. Der angekündigte Bannstrahl gegen solche lange Jahre hindurch von der Armee instrumentalisierte, aber dennoch blutige und radikale Bewegungen und Terrorgruppen ist allerdings noch nicht ergangen.
In zwei Wochen an den Galgen
Zunächst hat die Armee nach dem Anschlag auf die Armeeschule bewirkt, dass sie vom Parlament die Vollmacht erhielt, in Sicherheitsbelangen Angeklagte vor Militärgerichte zu stellen, und sie für die nächsten zwei Jahre der Zuständigkeit der normalen Gerichte zu entziehen. Gleichzeitig wurde die Todesstrafe, die gesetzlich besteht, aber ausgesetzt worden war, wieder eingeführt. Die Grenzen, wo genau Sicherheitsfragen beginnen, sind fliessend. Nicht nur die Durchführung von Anschlägen, sondern auch die Planung oder Verschwörung dazu, sowie die Apologie von derartigen Handlungen oder die Propaganda können als Sicherheitsbelange eingestuft werden. In der Praxis werden es angesichts der Machtverhältnisse in Pakistan die Militärs sein, welche die Reichweite ihrer Zuständigkeit festlegen werden.
Die Militärbehörden gaben bekannt, dass sie bereits neun ständige Militärgerichte eingerichtet hätten, die sofort ihre Arbeit beginnen würden. Der Oberbefehlshaber der Armee, General Raheel Scharaf, erklärte, diese Gerichte würden ermöglichen, dass ein Terrorist in zwei Wochen von der Anklage an den Galgen gelange. Der offizielle Chef der Pakistanischen Taliban, Fazlullah, reagierte darauf über Video mit der Aussage: "Denkt daran, dass eine jede Aktion eine Reaktion hervorruft. Ihr habt unsere Gefangenen aus euren Gefängnissen geholt und sie in feiger Weise ermordet".
Voraussetzung für internationale Zusammenarbeit
Wenn es nun wirklich und endgültig dazu kommt, dass die pakistanische Armee aufhört, wie die Engländer sagen, "mit den Hunden zu jagen und mit den Hasen zu rennen," wird das von grosser internationaler Tragweite sein. Denn ohne ein Ende dieser doppelgesichtigen Politik ist es nicht denkbar, dass Pakistan wirksam mit den anderen Mächten rings um den Hindukusch zusammenarbeiten kann. Alle wären sie daran interessiert, dass die Aktivitäten der Taliban, seien es die afghanischen oder die pakistanischen, beendet werden: Iran, die zentralasiatischen Staaten, Usbekistan, Turkmenistan und Kirgistan, mit ihnen Russland, aber auch China, in erster Linie der Uiguren wegen. Ferner auch Indien, das kürzlich von der Gründung einer Qaeda-Zweigstelle für Indien erfuhr und gegen 100 Millionen sich oftmals als diskriminiert betrachtenden Muslimen anspricht, sowie natürlich auch Pakistan und Afghanistan selbst. Diese beiden, am meisten von den Islamisten bedrohten Staaten, könnten und sollten ein regionales Netz aufbauen, um der Drohung Herr zu werden, besonders nun, nachdem die USA und die Nato sich aus Afghanistan zurückziehen.
Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die doppelgesichtige Politik von Pakistan, die natürlich all seine Nachbarn kennen, endgültig beendet wird.