Die schwierige Übergangsphase der bitter umstrittenen Präsidentenwahl verspricht nun mit der Einsetzung einer neuen Regierung in Kabul zu Ende zu gehen. Präsident Ashraf Ghani Ahmedzai hat bereits eine Grossoffensive gegen Korruption und Schritte zur Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten begonnen.
Am 12. Januar hat Afghanistan endlich eine neue Regierung erhalten. Sie soll aus 25 Ministern bestehen, die noch vom Parlament bestätigt werden müssen. Die Regierungsbildung hatte dreieinhalb Monate gedauert. Diese lange Frist war eine Folge des Streits über den Ausgang der Präsidentenwahlen und dessen Abschluss durch einen Kompromiss. Dieser legt fest, dass Ashraf Ghani zum neuen Präsidenten wird; sein Rivale, Dr. Abdullah Abdullah, ist Ministerpräsident und damit Leiter der Regierung.
Kompromiss des Gleichgewichts
Zum Kompromiss gehört auch, dass die Minister abwechselnd von beiden Rivalen, Präsident und Ministerpräsident, zu ernennen seien, wobei jeweils der Gegenspieler dem Kandidaten seines Rivalen zustimmen muss oder ihn ablehnen kann. Dies verursachte langwierige Verhandlungen, deren Zähigkeit darauf zurückging, dass beide Seiten gewichtige Parteigänger aufwiesen, die sich für ihre Oberhäupter eingesetzt hatten und nun darauf zählten, durch Ministerposten dafür belohnt zu werden.
Die Afghanen wissen von jedem der schliesslich ernannten Minister, ob er ein Mann des Präsidenten oder des Regierungschefs ist. Der neue Verteidigungsminister ist ein Mann Ghanis, der Innenminister einer Abdullahs usw. Allerdings hat die Notwendigkeit, zu Übereinkommen zu gelangen, auch bewirkt, dass manche der neuen Minister keine sehr bekannten Persönlichkeiten sind. Das Veto der jeweiligen Gegenseite hat oftmals prominente Politiker ausgeschaltet.
Präsident Ghani regiert energisch
Präsident Ashraf Ghani, der am 21. September in sein Amt eingesetzt worden war, wartete die Regierungsbildung nicht ab, sondern begann mit aller Energie zu regieren. Er soll dem Vernehmen nach 18 Stunden täglich während sechs Wochentagen arbeiten. Acht Stunden davon dienten der Korrektur bisheriger Missstände, acht weitere der Strategie und den Plänen für die Zukunft, und die zwei restlichen seien für Notfälle reserviert.
Der Präsident hat auch angeordnet, dass künftig alle politischen Geschäfte schriftlich niedergelegt werden müssten. Unter seinem Vorgänger Karzai waren mündliche Absprachen mit den besuchenden Politikern häufig gewesen. Die Beamten der Präsidentschaft erklären, in den drei Monaten der Herrschaft von Ghani sei mehr Papier verbraucht worden als in den 13 Jahren Karzais.
Diplomatie und persönliche Inspektionen
Der Präsident hat bereits alle Nachbarstaaten Afghanistans besucht, mit der Ausnahme Indiens. Die Ausnahme dürfte darauf zurückgehen, dass es für Afghanistan sehr wichtig ist, seinen Nachbarn Pakistan nicht zu verärgern, sondern ihn womöglich sogar zu versöhnen. Die wichtigsten dieser Staatsbesuche waren jener in China, der in Iran, der in Pakistan und der in Usbekistan. Ghani stattet auch Blitzbesuche in den Provinzhauptstädten ab sowie auch in einzelnen staatlichen Institutionen wie Spitälern und sogar dem grössten Gefängnis des Landes. Er erklärt, er wolle sämtliche Staatsbeamte persönlich kennen lernen, das sei sein Regierungsprinzip.
Bei solchen Inspektionen kann es zu Zornausbrüchen des Präsidenten kommen, wenn er den Eindruck gewinnt, die Beamten lögen ihn an. In der Provinzstadt Herat, im fernen Westen des Landes, hat er bei einem eintägigen Besuch Dutzende von Beamten fristlos entlassen. Unter ihnen waren alle 15 Distriktchefs der Polizei und manche Beamte, die so gut vernetzt waren, dass sie als unantastbar gegolten hatten. Ghani versicherte auf einer Pressekonferenz am Abend des gleichen Tages, sie würden alle vor Gericht gestellt werden.
Er hat die Vorsitzenden der staatlichen Banken entlassen und neue Chefs bestimmt. Die bisherigen Oberhäupter waren von Karzai beibehalten und geschont worden, obwohl sich in ihrer Amtszeit gewaltige Finanzskandale ereignet hatten.
Ein Gegner der Korruption
Der neue Präsident hat 15 Jahre in der Weltbank gedient und dabei je fünf Jahre in Russland, China und Indien verbracht . Er hatte zu Beginn des Karzai-Regimes, 2002 bis 2004 als Finanzminister Afghanistans gewirkt, war dann aber zurückgetreten. Er war Kandidat in den Präsidentschaftswahlen von 2009 gewesen, die Karzai gewann. Diese Wahlen hatten als besonders korrupt gegolten. Ghani hatte darauf in Kabul 2005 ein «Institut für staatliche Effektivität» gegründet.
Als Präsident gedenkt er nun offensichtlich der notorischen Korruption im Lande ein Ende zu bereiten. Es gibt bereits kritische Stimmen, die anmerken, er wolle alle Dinge von sich aus regeln, ohne an andere zu delegieren. In der Tat kann man sich fragen, wie er mit seinem Rivalen und Regierungschef auskommen wird, wenn er als Präsident weiterhin dermassen direkt zu regieren sucht. Doch ob und wie die Zusammenarbeit gelingen wird, bleibt zunächst noch abzuwarten.
Notlage im Lande
In den vielen Monaten, die von der Präsidentenwahl und ihren Folgen dominiert waren (der erste Wahlgang hatte am 5. April 2014 stattgefunden, die Stichwahl am 14. Juni, dann war das lange Seilziehen über das Wahlresultat gefolgt), haben sich die wirtschaftliche Lage und die Sicherheit im Land verschlechtert. Die Preise stiegen bedeutend an, und die Taliban verübten vermehrt Anschläge bis ins Innere der Hauptsatdt hinein. Die Arbeitslosigkeit stieg durch die Abreise der Nato-Armeen. Die Staatskasse war dermassen leer, dass Afghanistan bei den Nato-Mächten um Nothilfe ersuchen musste. Die Bevölkerung war ungeduldig geworden, als die Regierungsbildung sich immer weiter verzögerte.
Der neue Präsident hatte sofort nach seiner Inauguration den Vertrag mit den Amerikanern unterzeichnet, den Karzai sich zu unterschreiben geweigert hatte. Dieser Vertrag erlaubt nun, dass 13’000 amerikanische Soldaten in Afghanistan bleiben, während die Hauptmasse abgezogen wurde. Die verbleibenden Militärs sind in erster Linie für die Ausbildung der afghanischen Truppen zuständig. Im Notfall sollen sie aber auch in der Lage sein, gegen die Taliban durchzugreifen. Die afghanische Armee hat die Verantwortung für die Sicherheit im ganzen Land übernommen.
Verhandlungen mit den Taliban
Zum Programm Ashraf Ghanis gehört, dass er versuchen will, mit den Taliban zu verhandeln und einen Waffenstillstand oder gar Frieden mit ihnen zu erwirken. Dies war schon von Karzai beabsichtigt, und die Amerikaner hatten ebenfalls versucht, mit den Taliban ins Gespräch zu kommen. Ohne Erfolg; wahrscheinlich weil die Taliban wussten, dass sie nach dem Abzug der Amerikaner über eine bessere Ausgangsposition gegenüber Kabul verfügen werden als vorher. Dies jedenfalls, wenn man annimmt, dass sie überhaupt zu verhandeln gedächten. In Pakistan hatte Regierungschef Nawaz Sharif ebenfalls beabsichtigt, mit «seinen» Taliban, das heisst jenen Pakistans, zu verhandeln. Doch dies ist nun endgültig fehlgeschlagen.
Um mit den Taliban ins Gespräch zu kommen, benötigt der neue Präsident die Hilfe Pakistans. In der pakistanischen Provinzstadt Quetta tagt nach wie vor die Regierung der afghanischen Taliban unter Mullah Omar. Der pakistanische Geheimdienst ISI (Inter Service Intelligence) duldet sie dort und schirmt sie ab. Ghani hat von Pakistan Zugang zu dieser Exilregierung gefordert. Bisher wurde ihm dies nicht gewährt, doch sein Ersuchen wurde auch nicht abgelehnt.
Zusammenarbeit mit Pakistan
Die Zusammenarbeit zwischen den afghanischen und den pakistanischen Truppen und Sicherheitsleuten an den Grenzen Afghanistans soll sich wesentlich verbessert haben. Unter Karzai und in der «amerikanischen» Zeit war es immer wieder zu Schusswechseln beider Seiten an den Grenzen gekommen. Nun kämpft die junge afghanische Armee auf ihrer Seite der Grenze in der Provinz Kunar gegen die pakistanischen Taliban, die vor der Offensive der pakistanischen Armee in Nordwasiristan über die Grenze nach Afghanistan auswichen.
Die afghanischen Offiziere sagen, sie hätten 182 von ihnen getötet und 122 verwundet. Am 14. Januar gaben sie bekannt, sie hätten fünf Personen, die für den Anschlag vom 16. Dezember auf eine Schule in Peschawar verantwortlich seien, gefangen genommen. Bei jener Untat hatten 132 Schüler ihr Leben verloren. Die Taliban hatten erklärt, der Anschlag sei ihre Rache für den Feldzug der pakistanischen Armee in Nordwasiristan. Diese Grossoffensive der pakistanischen Armee in Nordwasiristan begann am 15. Juni 2014. Sie ist noch immer im Gange, und die Zivilbevölkerung von fast einer Million Menschen, die angewiesen worden waren, die Provinz zu räumen, ist noch immer nicht heimgekehrt.
In Pakistan wird die bisherige Politik gegenüber den Taliban revidiert. Dies eröffnet Möglichkeiten einer weiteren Verbesserung der Zusammenarbeit mit Afghanistan. Doch ob sie sich verwirklichen wird und wie weit die Verbesserungen reichen werden, bleibt abzuwarten.