Der Tod begleitet uns immer. Ein Sekundenbruchteil der Unaufmerksamkeit am Steuer, und es ist passiert. Tödliche Krankheiten schlagen in jedem Alter zu. Und doch geht uns der Tod lange Zeit nichts an. Die Anderen sterben, aber das hat mit uns nichts zu tun.
Der Tod der Eltern
Das Alter gibt den Blick auf die Endlichkeit des Lebens frei. Der Tod, in jüngeren Jahren eine ignorierbare Abstraktion, drängt sich als eigene Zukunft ins Bewusstsein. Wer nicht selbst betroffen ist, wird durch Krankheiten und Todesfälle in der Familie und im Bekanntenkreis an die eigene Verwundbarkeit erinnert. Mit dem Tod der eigenen Eltern stirbt ein Schutz vor dem Tod. Wir sind nun die oberste Generation und als Nächste an der Reihe. Zwischen den Gräbern der Gleichaltrigen versickert die Ignoranz dem Tod gegenüber. Die Illusion der körperlichen Unversehrbarkeit löst sich zunehmend auf. Gesundheit ist nicht mehr selbstverständlich, sondern ein kostbares, bedrohtes Gut. Die sich häufenden Beeinträchtigungen und Todesfälle im Umfeld beeinflussen die Grundstimmung. Sie zerschlagen die Milchglasglocke vermeintlicher Sicherheit und machen aus Gesunden bisher Verschonte. Der Tod baut sich unausweichlich als Zukunft am Horizont auf. Er ist unvermeidlich und die Frage ist nur, ob wir ihn bekämpfen, verdrängen oder akzeptieren.
Die Begrenzung durch den Tod, der Kontrast zum Tod, definiert und charakterisiert das Leben. Im Dunkel leuchtet unser Funke eine Sekunde lang auf. Das Eingangstor der Geburt und das Ausgangstor des Todes umfangen das Leben. Wir tauchen ins Leben auf, auf die Insel im Meer des Unbekannten, und versinken wieder. Woher? Wohin? Vom Nichts ins Nichts? Von der Ewigkeit in die Ewigkeit? Ist der Tod ein Übergang, oder ist er das Ende? Diese Fragen beschäftigten die Menschen seit jeher, und die Spuren ihrer Antworten darauf durchziehen die Menschheitsgeschichte, von den Pyramiden über die Kathedralen bis zu den Kyronikbehältern.
Die Todesvision Rilkes:
O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben kommt,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.
Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der grosse Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.
Zur Heimatlosigkeit befreit
Durch die Geburt aus dem warmen Dämmer der Urgeborgenheit gestossen, sehnen wir uns lebenslänglich nach ihr. Ganz aufgehoben und in Liebe umfangen sein: Der Sog dieses Bedürfnisses ist mächtig. Die Vorstellung, nach dem Tod heimgehen zu dürfen und von einem barmherzigen Gott liebevoll aufgenommen zu werden, ist eine tröstliche Antwort auf diese Sehnsucht. Die Mutter Gottes mit dem Kind im Arm nährt die Hoffnung auf die Geborgenheit im Glauben. Dieses Urbild wirkt unmittelbar auch gegen die Todesangst. Den barmherzigen Gott können wir denken, aber die Mutter Gottes begreifen wir mit allen Sinnen. Ebenso stärken wunderschöne Bilder an den Decken unserer alten Kirchen die Hoffnung auf ein ewiges Leben. Sie zeugen von der Auferstehung der geretteten Seelen. Oben, im Blau des offenen Himmels, umgeben vom goldenen Strahlenkranz sitzt Gottvater auf dem Wolkenthron. Engel in fliessenden Gewändern künden mit schlanken Trompeten von seiner Herrlichkeit.
Der Strom der erlösten Auferstandenen steigt von unten in den Himmel auf, wo sie bis in alle Ewigkeit im Lichte wandeln werden. Im Gegensatz zu den tröstlichen Auferstehungsbildern lassen die Höllenvisionen des mittelalterlichen Malers Hieronymus Bosch nichts zu fürchten übrig. Dem armen Sünder wird drastisch vor Augen geführt, was er im Jenseits zu erwarten hat, wenn er vom Pfad der Tugend abweicht: Die Verdammten stürzen kopfüber in die Hölle, wo grinsende Teufel ihr schwaches Fleisch mit glühenden Zangen zwacken. Seit dem Mittelalter sind diese Bilder verblasst, die schönen und die bedrohlichen. Da ist etwas verloren gegangen.
Der prägende Christbaum
Kindheitserfahrungen mit religiösen Feiern versenken ihre Andacht tief ins Unbewusste und sind schon da, wenn der kritische Verstand einsetzt. Von klein auf, bevor wir denken konnten, freuten wir uns auf diese grossen Feste. Frühe Erinnerungen an das Wunder der Weihnacht, den Adventskranz, den wir aus im Wald selbst gesammelten Tannenzweigen steckten und der jede Woche um ein Licht heller dem grossen Ereignis entgegenstrahlte, die Aufregung um die selbstgebastelten Geschenke, die gemeinsam gesungenen Weihnachtslieder, den überwältigenden Christbaum und das Fest mit der ganzen Sippe haben uns geprägt. Der Glanz dieser Erfahrungen leuchtet aus dem Unbewussten, auch wenn wir längst nüchterne Atheisten geworden sind, die aber doch „den Kindern zuliebe“ jedes Jahr mit allen Schikanen Weihnacht feiern. “Ich spüre jetzt noch die warme, sichere Hand meines Vaters, die meine hält. Unser Vater hatte vor dem heiligen Abend die Kinder auf einen Spaziergang mitgenommen, damit meine Mutter in Ruhe die Weihnachtsbescherung vorbereiten konnte. Wir stapften durch den Schnee in freudiger Aufregung unserem Haus entgegen und versuchten, im hellen Wohnzimmerfenster das Christkind auszumachen. Daheim angekommen warteten wir gespannt, bis im Weihnachtszimmer endlich die Glocke erklang. Dann ging die Türe auf, und der strahlende Christbaum leuchtete uns entgegen. Ich war im Himmel”, sagt eine Frau. Derartige Erfahrungen unterlaufen die spätere Skepsis.
Und Grund zur Skepsis haben die Verwalter des Glaubens reichlich geliefert. Die enge Kirche bietet der grossen Sehnsucht zu wenig Raum. Es geht dort zu sehr um Macht und Selbstinszenierung. Das kindliche Staunen konnte oft nicht zu einer erwachsenen Offenheit und einem Respekt für das Unerklärliche reifen. Dieser Prozess wurde auch durch inakzeptable kirchliche Verbote massiv gestört. Nur schon das Pillenverbot der katholischen Kirche war stossend. Die gegenwärtigen Alten sind die Pillengeneration. Die Erfindung und Verbreitung der Pille fiel in die Zeit ihres jungen Erwachsenenalters, just dann, wenn die Anziehung der Geschlechter im Zenith steht, die erblühten Körper Erfüllung suchen und Eros die Bühne beherrscht. Das katholische Pillenverbot hat bei einer ganzen Generation einen Lernprozess ausgelöst, der die Autorität der Kirche noch mehr schwächte, und gab so der Säkularisierung, die ohnehin im Gang war, einen weiteren Schub.
Die Heimatlosen
Die Schafe brachen in Scharen aus dem kirchlichen Pferch aus. Viele warfen den Glauben ganz über Bord und versuchten, ihrer seelischen Heimatlosigkeit mit Vernunft beizukommen. Andere trennten den Glauben von kirchlichen Dogmen und suchten ihren eigenen Zugang zum Göttlichen. Nach Dorothee Sölle entspricht die mystische Suche dem selbstverantwortlichen, autonomen Individuum der Moderne. Jeder Einzelne ist aufgerufen, sich nach bestem Wissen und Gewissen in eigener Regie um das Göttliche zu bemühen. Die Bibelauslegungen der Theologen haben ihre Autorität verloren, und so kann der Weg zum Transzendenten nur noch über die mystische Selbstversenkung führen. Die Priesterkaste hat weitgehend ausgedient. Die Suchenden sind auf sich selbst zurückgeworfen.
Der bunte Supermarkt der Sinnstiftungsangebote umwirbt die Heimatlosen. So übt der Buddhismus eine grosse Anziehungskraft auf christlich desillusionierte westliche Menschen aus. Die Reise nach Indien mit Meditationen zu Füssen eines Meisters gehörte für die Hippiegeneration zum guten Ton. Und heute versuchen gehetzte westliche Manager mit Hilfe von Zen-Meditationen von der Oberflächlichkeit wegzukommen. Kein Wunder. Die Schwachstellen der Religion, mit der man aufgewachsen ist, sind bekannt: Die ganze verstaubte Sonntagschulmoral und all die desorientierten Pfarrer auf dem Egotrip. Da ist es einfacher, die Glaubenssehnsucht auf die von Erfahrung unbefleckte Projektionsfläche einer fremden Religion zu richten. Doch auch Freikirchen, die freiheitsüberforderten Suchenden verbindliche Richtlinien und soziale Einbindung bieten, haben Hochkonjunktur. Das Sinnvakuum füllt sich aber auch oft mit zweifelhaften Inhalten auf. So wird man an Einladungen zuweilen von astrologisch eingeweihten Damen mit der Frage nach dem Geburtsdatum belästigt, das dann der Schlüssel zu Schicksal und Persönlichkeit sein soll.
Die autoritätsfeindlichen und feministischen Strömungen taten ein Übriges zur Abschaffung von Gottvater mit dem Bart, wie er an der Decke der sixtinischen Kapelle zu sehen ist. Damit sind aber auch all die tröstlichen Bilder der Auferstehung nach dem Tod unverbindlicher geworden. Im besten Fall hat die Säkularisierung die Jenseitsvorstellungen vergeistigt und abstrahiert. Häufig ist aber auch eine ratlose Abwendung vom Glauben zu beobachten. Die Gewissheit, nach dem Tod in eine Ewigkeit einzugehen, ist vielen abhanden gekommen. Der ungebrochene Glaube an ein Jenseits fehlt.
Meisterhaft bringt Marie Louise Kaschnitz die Ambivalenz zwischen Ratio und Geborgenheitssehnsucht auf den Punkt:
Nicht mutig
Die Mutigen wissen
Dass sie nicht auferstehen
Dass kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Dass sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Dass nichts ihrer wartet
Keine Seligkeit
Keine Folter
Ich
Bin nicht mutig.
Nach dem Tod ist nichts
Nach dem Tod kommt nichts. Der Tod ist kein Übergang, sondern das Ende. Diese Auffassung wurde bereits in der Antike vertreten. Der Stoiker Epikur sah den Sinn des Lebens ganz in der Lebensfreude im hier und jetzt. Ehe, Nachkommen und politische Ämter schienen ihm nicht erstrebenswert, weil sie dem anzustrebenden Ziel der Seelenruhe abträglich sein können. Freundschaft hingegen bringt Glück und Freude, ebenso massvoller Genuss. Angst vor der Strafe der Götter und Angst vor dem Tod, die den inneren Frieden stören könnten, sind gegenstandslos. Gottesfurcht ist unnötig: Die glückseligen Götter greifen nicht in das menschliche Schicksal ein, weil sie sich damit belasten würden. Aber auch die Furcht vor dem Tod macht keinen Sinn, wenn man bedenkt, dass sich die menschliche Seele durch den Tod auflöst. Der Tod ist ein Nichts, weil alles Gute und Üble auf Empfindungen beruht. Der Tod indessen ist die Aufhebung aller Empfindungen. Ich habe nichts zu befürchten, weil es mich nach dem Tod nicht mehr gibt. Sein ist an das Leben gebunden. Wir können nicht tot sein, denn wenn wir tot sind, sind wir nicht mehr. Wo ich bin, ist der Tod nicht, und wo der Tod ist, bin ich nicht.
Auch moderne Todesforscher wie Stephen Cave sehen den Tod als das Ende. Der Tod ist kein Übergang, weder in den Abgrund, noch an einen anderen Ort: “Wir können uns hier mit einer Welle im Ozean vergleichen. Wenn sie sich an der Küste bricht, ist ihr kurzes Leben vorüber. Aber sie tritt dann nicht in den Zustand der Seinsweise einer “toten Welle” oder einer “ehemaligen Welle” ein. Vielmehr zerstreuen sich die Teile, aus denen sie bestand, und werden wieder vom Meer absorbiert. Ganz ähnlich ergeht es uns. Wenn die selbstregulierte, organisierte Komplexität eines menschlichen Organismus zerfällt, hört die betreffende Person vollständig auf zu existieren und tritt nicht in einen neuen Zustand des Todes ein. Sie hat aufgehört zu sein, und ihre Bestandteile verlieren langsam ihre menschliche Gestalt und gehen wieder in das Ganze ein.” (CS, S. 325)
Das Gehirn und der Tod
Die Erkenntnisse der Hirnforschung werden gegen die Vorstellung des Weiterlebens nach dem Tode ins Feld geführt. Die bildgebenden Verfahren haben unser Wissen enorm erweitert. Bei jeder mentalen Aktivität wird ein bestimmter Teil des Hirns aktiv. Es gibt keine kognitive oder emotionale Aktivität, die sich nicht als messbare Veränderung der Spannungsverhältnisse im Gehirn niederschlägt. Dank den Hirnscans kann dies visualisiert werden. Es entstehen eindrückliche Landkarten der Hirnaktivitäten, die viel zu ihrem Verständnis beigetragen haben. Der Geist ist vom Körper vollständig abhängig. Es ist nicht denkbar, dass ein individuelles Bewusstsein ohne seine materielle Grundlage fortbesteht. Mit dem Tode des Hirns stirbt das Bewusstsein. Wer den Computer vernichtet, vernichtet auch alle dort gespeicherten Daten. Mit der Hardware verschwindet auch die Software. Aber sind vielleicht die Programme und Daten bei ihrem Erfinder abrufbar und könnten von dort aus weiter bearbeitet werden?
Die Idee vom Tod als Übergang, als Erlösung in ein besseres Leben danach erübrigt sich bei einem abgerundeten, erfüllten Leben. Der Soziologe Peter Gross stellt den Schreckensszenarien der Überalterung die Idee einer durch die Zunahme alter Menschen bedingten Reifung der Gesellschaft entgegen. In der kinderarmen Langlebigkeitsgesellschaft nimmt die Hektik ab. Wer nicht mehr in die kompetitive Leistungsgesellschaft eingebunden ist, kann eine gelassenere und menschenfreundlichere Weltsicht entwickeln. “Alte beruhigen. Wo Alte sind, erfährt jede Gegebenheit eine atmosphärische Verfärbung ins Unaufgeregte.” (GP, S. 123) Innerhalb von zwei Jahrhunderten hat sich die Lebenszeit der Menschen verdoppelt. Das Zeitgeschenk am Ende des Lebens erlaubt seine Reflektion. Das ist eine Quelle von Sinn, die früher nur den wenigsten zugänglich war. Im Mittelalter wurden die Menschen durch einen frühen Tod mitten aus dem Leben gerissen. Die Aussicht auf ein Weiterleben im Jenseits machte das harte Leben im Dieseits erträglicher. Der Tod war der Eintritt in eine bessere Welt. Das ist für die heutigen Langlebigen nicht mehr so wichtig. Sie können ihr Leben zu Ende leben, haben Zeit, seinen Sinn zu erforschen und sind viel weniger auf Heilsversprechungen im Jenseits angewiesen.
Der Tod - Mutter aller Religionen
Dem Tod als Ende stellt sich der Gedanke des Todes als Übergang entgegen. Eingebettet in ein grösseres Ganzes erscheint er als Wendepunkt in einem lebensübergreifenden Zyklus. Nur schon im Jahresablauf der Natur mit seinem blühenden Erwachen im Frühling, seinem Wachsen im Sommer, seiner Ernte im Herbst und seiner kräftesammelnden Winterstarre verwirklicht sich das Prinzip einer fortdauernden Transformation. Die reife Frucht fällt vom Baum und bildet Schösslinge, die zu einem Baum werden, der neue Knospen und Früchte hervorbringt. Kreisläufe sind uns vertraut und legen es uns nahe, den Tod als eine Wandlung, als einen Übergang, als ein Tor in ein neues Land aufzufassen. Poetisch formuliert Michael von Brück: “Aus der schöpferischen Nacht bricht der erste Klang des Schöpfungsmorgens hervor, aus dem Schweigen entsteht der Ton, aus dem Tod das Leben. Gott tanzt mit sich selbst durch die Zyklen des Sterbens und Wiedergeborenseins hindurch.” (BM, S.127) Das Weiterleben der Toten beschäftigte die Menschen seit jeher. “Die ältesten Kulturleistungen der Menschheit, die uns bekannt sind, deuten auf Bestattungs- und Grabriten hin, die damit rechnen, dass der Tote in irgendeiner Form weiter existiert und die Lebenden sich dazu verhalten müssen. Die Ausnahmen einzelner Skeptiker bestätigen die Regel, dass das kulturelle Gedächtnis der Menscheit von einem Glauben daran geprägt ist, dass der physische Tod nicht das letzte Ereignis im Leben des Menschen ist.”( BM, S. 21)
Menschen wenden sich dem Glauben zu, weil sie sterblich sind und eine Einordnungsmöglichkeit brauchen, die ihnen erlaubt, mit dem Tod zu leben. Der Mensch muss sterben, kommt damit nicht zurecht und ist deshalb auf Unsterblichkeitskonstruktionen angewiesen. Der Tod ist die Mutter aller Religionen. (CS, S. 26ff) Die Vorstellung des Todes als Aufbruch in ein neues Leben beruhigt. Allerdings ist es angesichts eines verwesenden Leichnams nicht einfach, diese Überzeugung durchzutragen. Das Grauen, das die materielle Evidenz des Todes hervorruft, in eine gläubige Hoffnung zu verwandeln ist aufwändig. Die alten Ägypter lösten diesen Widerspruch auf der physischen Ebene. Der Körper der Toten wurde durch die Mumifizierung vor dem Verfall geschützt, auf dass er ewig lebe. Monumentale Jenseitspaläste mit luxuriöser Austattung in Pyramidenform beherbergten die Mumien der Könige. Eine moderne Variante der Mumifizierung ist die Kyronik: Menschen lassen sich einfrieren in der Hoffnung, zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Medizin weitere Fortschritte gemacht haben wird, aufgetaut und geheilt werden zu können.
Die Reinkarnationslehren relativieren die Bedeutung des sterblichen Körpers. Die Entwicklung der Seele ist mit dem Tod nicht abgeschlossen. Sie sucht sich wieder einen irdischen Körper, um dort Aufträge und Defizite der vergangenen Inkarnation zu bearbeiten, mit dem Ziel einer Annäherung an einen Zustand der Vollkommenheit, der dann weitere Inkarnationen erübrigt. Dieses aus dem Buddhismus stammende Gedankengut hat im Westen weite Verbreitung gefunden, nicht zuletzt über die Anthroposophie von Rudolf Steiner. Auch für die christliche Religion ist die sterbliche Hülle des Menschen nicht von Bedeutung, weil sie auferstehen wird. Der Gläubige wird im Jenseits in seinem unversehrten Leib in die Ewigkeit eingehen. Diese Verheissung trug ursprünglich viel zur Verbreitung des Christentums bei. Unterdessen hat die säkulare Skepsis den Glauben an eine Auferstehung im Leib erodiert. Laut Befragungen glaubt nur noch eine Minderheit der Christen an sie.(RF) Das christliche Dogma der Auferstehung im Leib ist für viele Gläubige nicht mehr verbindlich, wohl aber das Weiterleben der Seele. Für moderne gläubige Christen existiert das Individuum nach dem Tod weiter, zwar nicht auferstanden im Leib, aber doch in seiner geistigen Substanz. Nicht der Körper, aber die Seele überlebt den Tod. Dieser Glaube nimmt dem Tod viel von seiner Bedrohlichkeit. Christus wird nach dem Tod von Gott auferweckt wie auch die, die ihm folgen. Der barmherzige Gott wird sie bei sich aufnehmen. “Wenn die letzte Wirklichkeit Gott ist, dann ist der Tod weniger Zerstörung als eine Metamorphose – also nicht Minderung, sondern Vollendung.” (KH 2, S.249) “Fürchtet euch nicht !”, ruft Christus den Menschen zu.
Unsterblichkeit durch Werke
Die Motivation, ein bleibendes Werk zu schaffen, ist eine treibende Kraft in der Musik, der bildenden Kunst und der Literatur. Das Bestreben, über den Tod hinaus präsent zu sein, treibt ohne Zweifel die Produktivität mächtig an. Wir verdanken ihm grosse Leistungen. Das unsterbliche Werk soll die Sterblichkeit seines Schöpfers relativieren. Monumentale Bestattungsbauten dienen nicht nur den Verstorbenen als Aufenthaltsort, sondern bezwecken auch die Verankerung der Toten in der Erinnerung der Lebenden. Das gilt auch für andere Monumente. Das Zielpublikum für imposante Bauten, von den Pyramiden bis zum KKL, sind auch die Nachfahren. Das grosse Ego tendiert zur Verewigung. Indessen spielen nicht nur narzisstische Motive eine Rolle. Das Bedürfnis, kommenden Generationen etwas zu schenken und über die Grenzen der eigenen Person hinaus für sie zu wirken bringt die Haltung der Generativität hervor.
Ein überwiegender Teil aller bleibenden Werke wurde von Männern geschaffen. Die Ursache liegt vielleicht nicht nur in den Rollenzuschreibungen und einseitigen Ausbildungsangeboten des Patriarchats. Männliche Kulturleistungen werden auch der Kompensation des männlichen Gebärneides zugeschrieben. Es sind die Frauen, die gebären können. Dieses schöpferische Werden geschieht in ihrem Körper. Frauen engagieren sich auch an der Menschwerdung der Kinder durch die Erziehung stärker. Sie sind dem Weiterleben durch die Kinder näher. Indessen geben beide Eltern ihre Anlagen den Kindern mit. Die Substanz der Eltern, die ein Kind grossgezogen und es durch unzählige Begegnungen und Einwirkungen geprägt haben, lebt in ihm weiter. Die Eltern mögen sterben, aber ihre Generationenreihe läuft weiter in die Zukunft, an der sie durch ihre Nachfahren teilnehmen werden. Das macht den Tod erträglicher. Das Weiterleben der Kinder und das Weiterleben durch die Kinder relativiert den Tod.
Spuren hinterlassen
Eine Frau erzählt von einem mentalen Vermächtnis: “Ich liebte meinen Vater. Seine Zuwendung und seine Unternehmungslust waren mir so selbstverständlich wie die Luft, die ich atmete, und sie bescherten mir und meinen Geschwistern eine reiche Kindheit. Erst später begriff ich die gute Basis, die er mir mit seiner heiteren Zuverlässigkeit gegeben hatte, als grosses Lebensgeschenk. Als mein alter Vater starb, trauerte ich kaum um ihn. Er blieb bei mir. Es war, wie wenn sein Tod seine Präsenz in mir verstärkt hätte, wie wenn sein Tod seine Substanz in die Welt geschickt und in mir lebendig gemacht hätte. Es war wie ein Auftrag. Durch seinen Verlust wurde mir sein Wesen noch klarer. Er war wohlwollend und unterstützend. Sein Tod war für mich ein Anstoss, diese Eigenschaften in mir mehr zu leben, und indem ich das versuche, bin ich ihm nahe, und er ist da.”
Alle hinterlassen Spuren. Jede Tat, jedes Wort, jeder Blick und jedes Lächeln haben Auswirkungen, die sich fortpflanzen. Die Hinterlassenschaft jedes Einzelnen besteht aus der Summe dessen, was er bewirkt hat. Die unzähligen Handlungen während eines Lebens schicken tausende von kleinen Kausalkettchen in die Welt. Meistens verliert sich ein Name schnell. Wer den Anspruch hat, als Individuum im Gedächtnis der Nachwelt zu bleiben, hat Grund zur Verzweiflung. Wer aber zufrieden ist, dass die unzähligen Impulse, die von ihm ausgegangen sind, die Kräfteverhältnisse auf der Welt um ein My veränderten und weiter verändern werden, und dies hoffentlich auch in eine gute Richtung, dem fällt das Sterben leichter.
Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Vielleicht gibt es ein Leben nach dem Tod, vielleicht aber auch nicht. Aber reicht das unverbindliche Vielleicht für das Kommende aus? Der Tod kennt kein Vielleicht. Sollte dem absoluten Tod nicht eine entschiedene Gewissheit entgengesetzt werden? Gewissheit kann nicht plötzlich erzwungen werden. Das Alter bringt keine radikalen Einstellungsänderungen. Im Gegenteil: Die vertrauten Überzeugungen bieten Schutz vor seinen Bedrohungen. Der religiös Desinteressierte wird weiterhin anderweitig beschäftigt sein, der Atheist ist auf seine konsequente Rationalität stolz und der Gläubige bleibt im Gespräch mit Gott. Im Alter vor der Todesangst in den Glauben flüchten zu wollen ist keine gute Idee. Zwar ist nach christlicher Auffassung die echte Wandlung vom Saulus zum Paulus jederzeit möglich. Aber ein aufgesetzter Glaube verunsichert nur. Was heisst Glaube? Dag Hammarskjöld gibt auf diese Frage eine generöse Antwort, die viele subjektiv Ungläubige als Gläubige miteinschliesst: „Gott stirbt nicht an dem Tag, an dem wir nicht länger an eine persönliche Gottheit glauben, aber wir sterben an dem Tag, an dem das Leben für uns nicht von dem stets wiedergeschenkten Glanz des Wunders durchstrahlt wird, von Lichtquellen jenseits der Vernunft.“
Über die spontane Empfänglichkeit für das, was uns begegnet, erschliesst sich ein Respekt für das Geheimnis des Todes, das man sich nicht durch falsche Landkarten verbauen lassen sollte. Ein spezifischer Glaube ist nicht ausschlaggebend. Die innere Ruhe hängt nicht von der Beantwortung der Frage ab, ob oder wie es nach dem Tod weitergeht. Man kann sich den Gesetzen des Stirb und Werde unterstellen und den Tod akzeptieren ohne gläubig zu sein, und der Glaube garantiert noch kein einvernehmliches Sterben. Ein grundsätzliches Einverständnis mit dem Lauf der Dinge hat sich über die Spanne eines Lebens gebildet oder eben nicht. Dieses Vertrauen geht tiefer als Glaubensinhalte. Das ist es, was unter Gottvertrauen verstanden wird.
Weiterführende Literatur
BG Borasio, Gian Domenico: Über das Sterben. München 2011
BM Von Brück, Michael: Ewiges Leben oder Wiedergeburt? Freiburg 2007
CS Cave, Stephen: Unsterblich. Frankfurt am Main 2012
GP Gross, Peter: Wir werden immer älter. Vielen Dank. Aber wozu? Freiburg im Breisgau 2013
KE 1 Kübler-Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden. Chicago 1969
KE 2 Kübler-Ross, Elisabeth im Interview mit Franz Alt 2005. Google 19.11.14
KH 1 Küng, Hans und Jens, Walter: Menschenwürdig sterben. München 2009
KH 2 Küng, Hans: Jesus. München 2012
FR Reich, Felix: Exit-Offensive für den Altersfreitod, reformiert, 25. September 2014
RM 1 Renz, Monika: Zeugnisse Sterbender. Paderborn 2000
RM 2 Renz, Monika: Hinübergehen. Feiburg im Breisgau 2011
TB Tommer, Benjamin: Demenz verursacht alarmierend hohe Kosten. Neue Zürcher Zeitung vom 12.9.10
YI Yalom, Irvin D.: Staring at the sun. San Francisco 2009