
Kunstwerke verwandeln sich mit dem Ableben ihrer Urheberinnen und Urheber auf einen Schlag von der Qualität in die Quantität. Wichtiger als Kreativität und Genialität werden Quadratmeter, Kubikmeter und Kilogramm. Masse statt Klasse. Steht die Atelierräumung an, drängt sich unausweichlich eine harte Frage ins Zentrum: Wohin damit?
Die Frage treibt die Erben um und belastet sie, Gefühle spürend und Berge sehend. Ein künstlerischer Nachlass umfasst sowohl das Œuvre als auch die analogen und digitalen Sekundärdokumente wie Briefe, Tagebücher, Agenden, Einladungskarten, Vernissage-Reden, Zeitungsartikel, Werkverzeichnisse, Kopien von Verkaufsrechnungen und Fotografien.
Was für literarische Nachlässe das Schweizerische Literaturarchiv leistet, für fotografische die Fotostiftung Schweiz, für filmische und audiovisuelle das Schweizerische Filmarchiv, für kompositorische die Schweizerische Nationalphonothek, wären für die bildende Kunst die Museen. Sie bleiben als überfüllt und überfordert ein flüchtiger Traum.
Es droht der Albtraum vom Entsorgungshof, der die verzweifelten Erben ihrer Sorgen so schmerzhaft wie endgültig enthebt. Etwas sublimer ist der Abtransport ins Brockenhaus, was allerdings auch aufs Gegenteil von leidenschaftlicher Hege und Pflege des Nachlasses hinausläuft.
Schaffen und Wegschaffen
Um erfreulichere Lösungen müssen sich die Künstlerinnen und Künstler selber kümmern. Das beginnt mit der Überlegung, ob nicht bereits zu Lebzeiten der Bestand an Kunstwerken verkleinert werden könnte. Mit Verkäufen zu äusserst günstigen Bedingungen, mit Geschenken an den Freundes- und Bekanntenkreis oder an treue Sammlerinnen und Sammler.
Beim Aufräumen hilft auch die von Wunschdenken freie Abschätzung, wen die Hinterlassenschaft dereinst interessieren könnte. Das kunstaffine Publikum, Museen und Galerien für Ausstellungen, die Kunstwissenschaft, bloss einige Insider? Bewahrungsaufwand und Nutzen geraten rascher in ein finanzielles Missverhältnis, als lieb sein könnte. Immer dann, wenn aus dem klimatisch stimmigen und deshalb teuren Nachlass-Depot wie so häufig ein Wartsaal wird.
Flut ohne Ebbe
Den Hinterlassenschaften von heute folgen im schnellen Takt jene von morgen und übermorgen. Neue Kunstwerke versperren den Blick auf frühere. Die Kunst kennt nur die Flut und keine Ebbe.
Wer sich über die Rettung der Kunstwerke in die Zukunft detailliert informieren möchte, sei verwiesen auf das Buch «After Collecting – Leitfaden für den Kunstnachlass» von Franz-Josef Sladeczek und Sandra Sykora, Zürich, 2013. Ratschläge erteilen das «Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft (SIK)» und «Art Dock», beide in Zürich. Tipps finden sich auch unter www.kulturnachlässe.ch
Nützlich wäre es, würde «visarte», der «Berufsverband visuelle Kunst», die Mitglieder für die Regelung der Nachlässe sensibilisieren.
Vertrauen in den Lauf der Dinge
Das alles sind keine Probleme für Mirjam Cahn, Basler Künstlerin von internationaler Reputation. Ihr aus dem oben erwähnten Buch zitierter Standpunkt lautet: «Solange ich lebe, bestimme ich selbst über meine Arbeit, über mein Werk. Bin ich dann tot, ist es mir als toter Mensch egal.» Wenn weder Museen noch Galerien eine Lösung fänden, gehe «das Ganze seinen historischen Weg. Das Werk wird verstreut, verteilt, verkauft, fortgeworfen, vergessen oder nicht».
Das ist illusionslos souverän. Mirjam Cahn gewährt den Eigentümern ausdrücklich die Entscheidungsfreiheit, mit den Kunstwerken nach bestem Wissen und ohne schlechtes Gewissen zu verfahren. Der emotionale Druck ist weg. Was immer mit dem Nachlass geschieht, deckt sich mit der nüchternen Auffassung Mirjam Cahns. Die Situation ist klipp und klar. In letzter Konsequenz zum Preis der Vergänglichkeit.
Sorry, we are closed
Eine Fiktion wäre es, ein Museum nehme einen Nachlass begeistert entgegen und kümmere sich wissenschaftlich, konservatorisch, kuratorisch und publizistisch um ihn mit dem Ziel der ewigen Präsenz in der Kunstszene. Für diese Leistungen fehlen auch den willigsten Museen schlicht und ergreifend das Personal, die Finanzen und die Räumlichkeiten.
In seltenen Fällen lassen sich Museen zwei, drei Kunstwerke und vielleicht den schriftlichen Sekundärnachlass schenken. Sofern die Künstlerin oder der Künstler im Urteil des Museums eine überragende Bedeutung besitzt und deshalb mit einiger Wahrscheinlichkeit nachgefragt bleibt.
Willensklarheit als das A und O
Befassen sich Künstlerinnen und Künstler in keiner Weise mit ihrem Nachlass, fällt er an die gesetzlichen oder eingesetzten Erben. Sie wollen alles richtig machen und spüren die Angst im Nacken, sich falsch zu entscheiden, weil sie rätseln müssen, was sich die oder der Verstorbene für den Umgang mit dem Werk wünschte.
Darum sollte es für Künstlerinnen und Künstler eine Selbstverständlichkeit sein, einen schriftlichen letzten Willen oder ein Testament zu hinterlassen. Mit klaren Bestimmungen und solchen, die praxistauglich sind und sich nicht als Luftschlösser erweisen.
Die Steuerbehörden reden mit
Den Künstlerinnen und Künstlern steht es frei, für die Nachlassbetreuung zu Lebzeiten oder von Todes wegen eine Stiftung oder einen Verein zu gründen. Ebenfalls für diese Lösungen empfiehlt es sich, eindeutig zu sein, auf dem Boden der Realität zu bleiben und juristische Expertise einzuholen. Aber: Stiftungen und Vereine garantieren nur dann die professionelle Aufbewahrung, die Sicherung des Nachruhms und die Erhaltung des Marktwertes, wenn sie über hohe Kompetenz und ausreichende Mittel verfügen.
Wofür auch immer sich die Kunstschaffenden entscheiden, reden die Steuerbehörden ein Wörtchen mit. Sie können, je nach konkreter Situation, Erbschaftssteuern erheben, Vermögenssteuern und Gewerbeliquidationssteuern. An weiteren Kosten sind jene für die klimatisierte Lagerung und die Versicherung der Werke und der Sekundärdokumente zu bedenken.
Wette auf den Zufall
Hinter jedem Wunsch, den Nachlass auf Dauer zu erhalten, steckt die Hoffnung, es erfülle sich der Infinity-Effekt. Das ist eine Wette aufs Schicksal, die Fügung, den Zufall und die unergründlichen Wellen der Neubewertung. Der Wettgewinn ist so selten wie die Perle in der Muschel.
Die Chancen steigen mit dem Berühmtheitsgrad der Künstlerinnen und Künstler und dann – um es nochmals zu betonen –, wenn die für den Nachlass Verantwortlichen mit der Kunstszene eng vertraut sind und aus Erfahrungen wissen, mit welch enormem Engagement das Interesse wachgehalten werden kann. Für Nägel mit Köpfen braucht es überdies einen langen finanziellen Atem.
Ein Staatsarchiv für Kunst steht in den Sternen
Die komplexen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Nachlassbetreuung wecken immer wieder den Ruf nach staatlicher Unterstützung wie für die Literatur-, Fotografie- und Filmarchive. So nachvollziehbar dieses Postulat ist, so deutlich überschreitet es das finanziell vernünftig Machbare. Allein schon der Raumbedarf für Werke der bildenden Kunst, insbesondere der skulpturalen und installativen, wäre immens.
Zudem ist es die primäre Aufgabe der genannten Archive, das historische Kulturgut nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu bewahren und nicht, den Nachruhm der Urheberinnen und Urheber proaktiv zu fördern. Die Kosten dafür stiegen ins Unermessliche.
Fazit
Die Vor- und Nachteile der Lösungsvarianten gegeneinander abgewogen, spricht viel für die Auffassung Miriam Cahns, den Nachlass dem Schicksal und dem Respekt gegenüber den verstorbenen Kunstschaffenden anzuvertrauen. Das ist einsichtsvoll pragmatisch. Zwingende Bedingung auch für diese einfache Lösung – nicht ideal, aber mehr als keine Vorkehrungen – ist die glasklare schriftliche Willensäusserung an die Hinterbliebenen.
Der Autor dankt Rita Wenger, Aadorf, Rechtsanwältin und Präsidentin des Kunstvereins Frauenfeld, für die erb- und steuerrechtlichen Informationen. Sie sind hier kursorisch erwähnt, weil eine Detaillierung den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.