Sterben findet in einem gesellschaftlichen Kontext statt. Eine Lockerung der Gesetzgebung in Richtung grössere Selbstbestimmung beim Sterben liegt im Zeitgeist. Im 21. Jahrhundert wird der Anspruch auf ein selbstbestimmtes Sterben zunehmend zur Selbstverständlichkeit. Oft ist der soziale Konsens den Gesetzen voraus und zieht dann Gesetzesänderungen nach sich. Ein solcher Prozess läuft gegenwärtig europaweit bei der Regelung der Sterbehilfe.
Sterben und medizinische Versorgung
Die Generation, die jetzt ins Rentenalter gekommen ist, hat viele Autoritäten abgeschafft. Die Götter in Weiss sind vom Olymp heruntergestiegen und verstehen sich mehr als Informanten und weniger als Entscheidungsinstanzen. Die Betroffenen sind bereit, mitzudenken und Verantwortung zu übernehmen und werden von sorgfältigen Ärzten in die Entscheidungen mit einbezogen.
Das Internet überschwemmt uns mit Informationen. Je mehr wir nachforschen, desto vieldeutiger werden die Antworten. Schulmedizin und alternative Methoden können sich ergänzen, aber sie relativieren sich auch gegenseitig. Die Medizin versucht dem Rätsel Körper auf die Spur zu kommen. Körperliche Symptome sind Ausdruck von Störungen in einem letztlich unergründlichen System, und der Versuch, einfache Kausalketten zu konstruieren, um dann eine Ursache bekämpfen zu können, trifft manchmal ins Schwarze und manchmal nicht.
Das medizinische Wissen hat seine Grenzen. Diagnosen sind immer mehr oder weniger adäquate Annäherungen, Hypothesen, die man als solche zur Kenntnis nehmen muss. Weder Ärzte noch Betroffene sollten von der Medizin mehr erwarten als sie leisten kann. Nicht jede Störung kann behoben werden. Vermeintliches Wissen richtet grossen Schaden an. Viele Verfallserscheinungen des alten Körpers müssen ertragen werden, und die Möglichkeit zur Linderung liegt vorwiegend auf der mentalen Ebene. Der Versuch, zu heilen was unheilbar ist und von den Sterblichen auf dem Weg zum Tod ertragen werden muss, führt zu unnötigem Leiden. Letztlich stehen wir dem Tod machtlos gegenüber.
Medizinische Vorsorge und Behandlungen können ein Leben überwuchern. Man wartet in den Wartezimmern. Oft verlangt nur schon die Abklärung mühsame, vielleicht unangenehme oder schmerzhafte Eingriffe. Dann kommt das Warten auf den Bericht, der, auch wenn er gut ist, häufig vorläufigen Charakter hat. Dann folgt die nächste Kontrolle. Eine Operation wird empfohlen. Bis zum Operationstermin ist das Leben suspendiert. Die Angst muss irgendwie in Schach gehalten werden. Der Eintritt ins Spital ist zuweilen schon beinahe eine Erlösung. Jeder medizinische Eingriff beeinflusst das Körpergleichgewicht. Auch wenn eine Operation gelingt, verändert sie durch Narkose und Wunden die Befindlichkeit. Die Heilung muss mit Geld, Schmerzen und Abhängigkeit erkauft werden. Vielleicht ist es nicht möglich, mit einer Operation zum Ziel zu kommen, und es werden weitere Eingriffe notwendig.
Bei derartigen Abläufen gibt es immer Ausstiegmöglichkeiten, Entscheidungspunkte, wo sich Alternativen zum Verschlucktwerden von der Wiederherstellungsmaschinerie anbieten. Die akzeptierte Endlichkeit erlaubt eine freiere Wahl. Reflexhafte Entscheidungen für die nächste Behandlung können einem vernünftigen und verantwortungsvollen Abwägen der Möglichkeiten weichen.
Alles Machbare machen müssen
Wir stecken in einer Situation, die niemand will. Untersuchungen zeigen, dass Ärzte bei sich und ihren Angehörigen weniger Eingriffe vornehmen als bei ihren Patienten. Sie kennen die möglichen negativen Nebeneffekte von medizinischen Behandlungen und das mit einem unsinnig verlängerten Leben verbundene Leiden. Sie machen sich aber unter Umständen strafbar, wenn sie nicht jede mögliche lebenserhaltende Massnahme ergreifen.
Manchmal steigern sich Arzt und Patient gegenseitig in eine Überbehandlung hinein. Der Patient möchte jede Behandlung haben, die auch nur den Hauch einer Hoffnung in sich trägt, und der Arzt will ihm diese Hoffnung nicht nehmen. Er schützt sich auch gegen einen möglichen späteren Vorwurf, nicht alles Menschenmögliche gemacht zu haben, nur schon um gegen rechtliche Klagen von Angehörigen gewappnet zu sein. Welcher Arzt ist schon willens, einen Patienten früher als unbedingt nötig mit dem Unausweichlichen zu konfrontieren? Und so wird bis zum «geht nicht mehr» behandelt und operiert. Auch unter den Ärzten gibt es schwarze Schafe, die ihren Verdienst über die Interessen des Patienten stellen. Reiche Privatversicherte haben daher ein erhöhtes Risiko für Überbehandlungen.
Ein zu hoher Aufwand für eine Lebensverlängerung mit minimaler Lebensqualität hat auch mit dem Verdrängen des Unausweichlichen zu tun. Wenn weder der Arzt noch der Patient mit der Endlichkeit des Lebens zurande gekommen sind, wird alles Machbare gemacht und dafür jedes Leiden und jeder Preis in Kauf genommen. In panischer Egozentrik jede auch noch so chancenarme Möglichkeit auszuschöpfen, bringt den Betroffenen nichts. Ein immer aussichtsloser werdender Kampf um das Leben verhindert die Hinwendung zum Tod. Die innere Vorbereitung für den Gang durch den undurchsichtigen Vorhang kann so nicht stattfinden, ebensowenig wie der Abschied von den Angehörigen. Patienten und ihre Angehörige sind oft nicht in der Lage, die Situation zu beurteilen und mehr Verantwortung für die Beendigung sinnloser lebensverlängernder Massnahmen zu übernehmen.
So werden Sterbende unter Umständen zu Bestandteilen einer lebenserhaltenden Maschinerie degradiert und müssen ausharren, bis sie trotzdem sterben können oder bis jemand den Mut hat, den Stecker zu ziehen, obschon er sich damit vielleicht strafbar macht. Diese Situation belastet die Ärzte, die Sterbenden, die Angehörigen, die Krankenkassen und damit die Gesellschaft. Hier wäre ein neuer gesellschaftlicher Konsens notwendig. Solange der Tod nicht sein darf, finden wir keinen guten Umgang mit ihm. Die psychischen und materiellen Kosten des verdrängten Todes sind immens. Wenn die Endlichkeit von allen Beteiligten wirklich akzeptiert worden ist, vergrössert sich die Chance auf gute Lösungen.
Angst vor Abhängigkeit
Psychosoziale Geborgenheit setzt intakte Familienstrukturen voraus, die in unserer individualisierten Gesellschaft seltener werden. Erwachsene Kinder wohnen nicht mehr selbstverständlich in der Nähe der alten Eltern, und wenn, fühlen sie sich nicht immer zur Hilfe verpflichtet. Bei einer schweren Krankheit zuhause stellt sich die Frage der Belastung von Angehörigen. Die Idee, abhängig zu werden und nichts mehr geben zu können, macht Angst.
Aber was heisst geben? Die Hilfsbedürftigkeit eines geliebten Menschen kann für die Betreuenden eine grosse Gabe sein. Es ist eine letzte Gelegenheit, ihre Liebe zu leben. Der Wunsch, einem Partner möglichst lange den Aufenthalt in der vertrauten Umgebung zu ermöglichen und ihn in der Nähe zu haben, motiviert zu grossen Leistungen. Das kann aber nur gutgehen, wenn der Hilfsbedürftige mit seiner Abhängigkeit zurecht kommt und auf der Seite der verantwortlichen Angehörigen viel Energie, Organisationstalent, Entlastungsmöglichkeiten und eine liebevolle Bereitschaft zur Hilfe da sind. Und das ist nicht immer der Fall. Die Vorhölle ist die von überforderten Angehörigen erzwungene Pflege, die im Extremfall in Hass und Wut von beiden Seiten zähneknirschend erlitten wird. Aber auch bei gutem Willen stösst die Belastbarkeit von Angehörigen an ihre Grenzen. Dann müssen andere Lösungen gesucht werden.
Gute professionelle Pflege braucht Zeit, Kompetenz und Engagement, was angemessen bezahlt werden muss. Pflege ist teuer. Kassenleistungen sind begrenzt, und mühsam angesparte Familienvermögen schmelzen schnell dahin, wenn eine vertretbare institutionelle Lösung finanziert werden muss. Bereits zeichnet sich für die Pflege ein Personalmangel ab, der sich nach den Prognosen noch verschärfen wird. Die exponentiell wachsende Gruppe der Betagten und Hochbetagten mit ihrem erhöhten Pflegebedarf bewegt sich auf einen Versorgungsengpass zu. Wenn die Ressourcen sich verknappen, wird vermehrt auf die Effizienz der Pflege geachtet. Das erzwingt unschöne fliessbandmässige Abfertigungen. Die Aussicht, in hilflosem Zustand von überlasteten Pflegenden versorgt zu werden, ist nicht rosig. Vereinsamte, kranke alte Menschen werden sich überlegen, ob sie sich einer institutionellen Pflege ausliefern wollen.
Unterstützung des Sterbens
Glücklicherweise verbreitet sich die Palliativmedizin, die den Kampf gegen unnötige, erschwerende medizinische Eingriffe in den Sterbeprozess aufgenommen hat. Dank der Palliativmedizin hat sich bei der Begleitung von Sterbenden vielerorts der Fokus von der Lebensverlängerung auf die Unterstützung des Sterbens verschoben, und Würde, Sicherheit und Komfort des Sterbenden haben den Vorrang. Sterben ist ein natürlicher Vorgang wie eine Geburt, und sollte durch ärztliche Eingriffe möglichst wenig gestört werden.
Nach dem Palliativmediziner Borasio (BG) könnten 90 Prozent der Sterbevorgänge zuhause stattfinden. Mit dem Einverständnis von Sterbenden und Angehörigen werden nötigenfalls Schmerzmittel so dosiert, dass sie als Nebenwirkung das Leben verkürzen können, und lebenserhaltende Massnahmen werden nicht eingeleitet oder nicht fortgeführt, wenn sie den Sterbeprozess unnötig erschweren. Wenn für die verbleibende Wegstrecke nur noch Schmerzen zu erwarten sind, ihre Linderung aber zu einem schnelleren Tod führt, kann sich zwischen Pflegenden, Angehörigen und Patient ein humaner Konsens bilden, der den Sterbenden erlöst.
In den letzten zwei bis drei Generationen hat sich die Einstellung zum Sterben in Richtung Selbstbestimmung verschoben. Die 68-er rückten etablierten Strukturen auf den Leib und machten es sich zur Gewohnheit, gesellschaftliche Selbstverständichkeiten zu hinterfragen. Sie werden im Alter auch dafür sorgen, dass die individuelle Entscheidungsfreiheit beim Sterben grösser wird. Eine Patientenverfügung zu schreiben, die Angehörigen und Ärzten klare Anweisungen gibt, wird für verantwortungsvolle Alte immer mehr zu einer Selbstverständlichkeit. Damit machen sie ein verlängertes Sterben unwahrscheinlicher und entlasten die Angehörigen.
Der Freitod
Die Diskussion um die Sterbehilfe ruft zwei gegensätzliche Wertvorstellungen auf den Plan. Auf der einen Seite wird der Wert des Lebens als absolut und unantastbar gesehen. Dem steht das Recht des Individuums auf Entscheidungsfreiheit über sein Leben gegenüber. Bei der Gesetzgebung um die Sterbehilfe muss ein Ausgleich gefunden werden zwischen dem Schutz von Schwachen und dem Recht auf Selbstbestimmung. Wenn es um hilflose Abhängige geht, kann der Schutz nicht zuverlässig genug sein. Aber mündige Erwachsene müssen frei sein, die Entscheidung über ihr Leben eigenverantwortlich zu treffen. Wenn ein urteilsfähiger alter Mensch sich für den Freitod entscheidet, sollte er wenn nötig bei dem Schritt unterstützt werden.
Früher war der Tod allgegenwärtig. Er griff früh und hart ins Leben ein. Der Tod im Kindbett, der Tod in der Schlacht und der Tod durch Infektionen raffte die Menschen dahin. Viele Kinder überlebten ihr erstes Lebensjahr nicht. Sie starben eines natürlichen Todes. Die moderne Medizin schiebt den Tod hinaus. Infektionskrankheiten, die noch vor wenigen Generationen unweigerlich zum Tod geführt hätten, sind ausgerottet oder heilbar. Heute stehen Operationsmethoden zur Verfügung, die uns aus schweren Gefährdungen herausholen. Körperliche Abnützungserscheinungen lassen sich beheben. Schmerzende Gelenke und trübe Linsen werden ersetzt, Arterien dilatiert oder verstärkt. Sogar die Transplantation ganzer Organe ist unterdessen zur Routine geworden. Das Sterben kann heute auch bei Indikationen verhindert oder hinausgeschoben werden, die noch vor einer Generation schnell zum Tod geführt hätte. Hätten wir in anderen Zeiten gelebt, gäbe es die meisten von uns Alten längst nicht mehr. Die Fortschritte der Medizin haben vieles, was früher als Gegebenheit akzeptiert werden musste, in den Bereich der Entscheidung gerückt.
Die Idee vom absoluten Wert des Lebens ist im Christentum religiös verankert. «Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt», steht in der Bibel, ebenso das Gebot «Du sollst nicht töten». Ob damit auch die Selbsttötung gemeint sei, stand lange nicht zur Diskussion. Das Sterben liegt in Gottes Hand. Der Mensch hat kein Recht, in einen Sterbeprozess einzugreifen, sondern muss ihn geschehen lassen und das Leben erhalten, so gut es geht. Niemand darf den Sterbeprozess im Sinne einer Abkürzung beeinflussen.
Menschliche Bedürfnisse sind dem gottgewollten absoluten Wert des Lebens unterzuordnen. Selbstmord ist deshalb verwerflich. Früher verwirkte ein Selbstmörder seinen Platz in der Gemeinschaft, und er wurde ausserhalb der Kirchhofmauer begraben. Vielerorts hat sich diese Auffassung in den Gesetzen niedergeschlagen. Ein Arzt macht sich heute noch strafbar, wenn er zur Sterbehilfe Hand bietet, auch wenn der Patient ihn darum bittet und er es aus Mitleid tut. Lebenserhaltende medizinische Eingriffe kamen noch vor einer Generation viel selbstverständlicher zum Zug als heute. Den alten Menschen war auferlegt, jede lebensverlängernde Behandlung bis zum «natürlichen» Ende über sich ergehen zu lassen.
Auflösung und Wandel kirchlicher Normen
Unterdessen verloren kirchliche Verhaltensanweisungen zunehmend ihre Verbindlichkeit. Das autonome Individuum hat Gott als oberste Autorität abgelöst und beansprucht Selbstbestimmung. Die frühere Verurteilung menschlicher Mitbestimmung beim Sterben ist einer grösseren Toleranz gewichen. Das spiegelt sich auch in der Sprache. Der Selbstmord wurde zur Selbsttötung und dann zum Freitod. Im Alter geht es dabei meistens um die aktive Sterbehilfe, also um Verabreichung von Substanzen, die den Tod herbeiführen, und um die passive Sterbehilfe, das heisst die Nichteinleitung oder die Nichtfortführung von lebenserhaltenden Massnahmen.
Von theologischer Seite kommen neue Töne. Der führende katholische Theologe Hans Küng ist – gegen das Gebot seiner Kirche – der Sterbehilfe-Organisation Exit beigetreten und hat mit diesem bahnbrechenden Schritt und seiner theologischen Begründung für viele gläubige Christen den Konflikt zwischen Kirchentreue und dem Wunsch nach Selbstbestimmung entschärft. Hans Küng schreibt: «Nach christlicher Überzeugung ist das menschliche Leben (...) eine Gabe Gottes. Aber zugleich ist das Leben nach Gottes Willen auch des Menschen Aufgabe. Es ist so in unsere eigene verantwortliche Verfügung gegeben.» (KH1, S. 214) Das gibt auch einem gläubigen Christen die Erlaubnis zum Freitod.
Unsere Langlebigkeit erhöht die Gefahr degenerativer Krankheiten, die Hilflosigkeit und Selbstentfremdung mit sich bringen können. Wenn der gute Moment für den Tod verpasst wird, überschattet vielleicht eine unwürdige, unnötige Endstrecke ein ganzes Leben. Wenn Todkranke eine freie Wahl hätten, würden sich bei einer guten palliativen Pflege wahrscheinlich die meisten für ein natürliches und gegen ein selbstbestimmtes Sterben entscheiden. Aber es beruhigt, eine Wahl zu haben. Die Aussicht auf grössere Mitbestimmung am Ende mildert im Alter die Angst vor Schmerzen, Abhängigkeit und Sterben und erlaubt alten Menschen, sich in Ruhe und Frieden dem Tod zu nähern. Das ist ein gewichtiges Argument für den erleichterten Zugang zur Sterbehilfe
Breit akzeptierte Autonomie
Das Recht, den Zeitpunkt des eigenen Todes zu wählen, wird zunehmend beansprucht. Bei einer Abstimmung in der Schweiz im Jahre 2011 lehnten 85 Prozent der Beteiligten die Abschaffung der Sterbehilfsorganisationen Exit und Dignitas ab. 68 Prozent der Befragten bejahten in einer repräsentativen Umfrage in der Schweiz die Möglichkeit eines erleichterten Alterssuizids. Bei den älteren Befragten war die Zustimmungsrate höher als bei den jüngeren. Wie weit der gesellschaftliche Konsens über die Mitbestimmung beim Sterben gediehen ist, zeigt die Tatsache, dass in der Schweiz in vielen Alters- und Pflegheimen Sterbehilfeorganisationen zugelassen sind.
Die Schweiz hat bezüglich der selbstverantwortlichen Handhabung des Sterbens die fortschrittlichste Gesetzgebung Europas. Der assistierte Freitod ist in der Schweiz unter bestimmten Bedingungen zulässig. Sterbewillige Ausländer suchen in der Schweiz Hilfe. Bei Exit lautet die Indikation zu einem begleiteten Freitod: «Bei hoffnungsloser Prognose, unerträglichen Beschwerden oder unzumutbarer Behinderung soll ein begleiteter Suizid ermöglicht werden. Exit engagiert sich für den Altersfreitod und setzt sich dafür ein, dass betagte Menschen erleichterten Zugang zum Sterbemittel haben sollen.» Die Mitgliederzahlen von Exit steigen stetig.
Den Sterbewillen respektieren
Ein Freitod schickt seine Schockwellen ins Beziehungsnetz. Von einem Freitod überrumpelt zu werden, kann für die Angehörigen traumatische Folgen haben. Oft quält ein Gefühl der Mitverantwortung für den Tod die Nahestehenden, und solche Schuldgefühle können ein Leben nachhaltig aus der Bahn werfen. Bei der destruktivsten Variante des Freitodes, dem Rachesuizid, ist dieser Effekt beabsichtigt. Zur Trauer der Hinterbliebenen gesellen sich manchmal auch Wut über den Verstorbenen, der sich durch einen Freitod einfach entzieht.
Wenn der Sterbewillige die Angehörigen über seine Pläne informiert, verringern sich diese Gefahren. Paare sollten sich möglichst offen und früh miteinander über ihre diesbezüglichen Ansichten und Wünsche austauschen und auch die entsprechenden schriftlichen Festlegungen vornehmen. Oft brauchen Angehörige Zeit, um sich mit dem Gedanken eines Freitodes vertraut zu machen. Das Loslassen fällt schwer. Günstigenfalls kann der Sterbewillige seine Angehörigen überzeugen und sich ihre Hilfe sichern. So unterstützen sie sein Vorhaben als letzte Gabe an den Sterbebereiten. Die gemeinsame Planung eines Freitodes erlaubt einen guten Abschied.
Früher liess sich der Entschluss zu sterben ohne Aufhebens umsetzen. Todkranke Menschen beendeten ihr Leben, indem sie keine Nahrung mehr zu sich nahmen. Wer die Welt verlassen wollte, hörte auf zu schlucken, und öffnete so dem Tod die Türe. Sich auf diese Weise verlöschen zu lassen, ist auch heute noch eine häufig gewählte Todesform mit einer hohen Dunkelziffer. (BG, S.172) Verhungern und verdursten tönt drastisch, scheint aber laut Untersuchungen kein schlimmer Tod zu sein. 85 Prozent der Sterbewilligen sterben so innerhalb von 15 Tagen. «Diese Patienten erlebten in der Regel einen sehr friedlichen Sterbeprozess» (BG, S.111).
Das terminale Fasten ist eine natürliche Art, aus dem Leben zu scheiden. Aber das ist nur in einer Umgebung möglich, die den freien Willen des Sterbenden respektiert. Der Tod zuhause, wo Sterbende und Angehörige mehr Kontrolle haben, wird seltener. Im Spital sind sie von den Entscheidungen der Ärzte abhängig. Das Risiko, dass gegen den Willen des Patienten Infusionen gesteckt werden, besteht. «Ich darf nicht daran denken, wie mein Vater gestorben ist», sagt eine Frau, «es war nur noch schlimm. Wir konnten uns einfach nicht gegen das Pflegeheim durchsetzen. Er konnte nicht mehr sprechen, hat aber seine Infusionen immer wieder herausgerissen. Schliesslich haben sie ihm die Hände angebunden, und er musste so bis kurz vor seinem Tod ausharren.» Auch weil diese Form des natürlichen, selbstbestimmten Sterbens im Spital nicht überall zugelassen wird, brauchen Sterbende manchmal Hilfe von aussen.
Euthanasie – ein verdorbenes Wort
Die zunehmende Entscheidungsfreiheit verlangt einen sorgfältigen Umgang, da die Missbrauchgefahr gross ist, wie am Begriff der Euthanasie aufgezeigt werden muss. Die alten Griechen unterschieden zwischen einem unzeitigen, gewaltsamen Tod und einem sanften, guten Tod. Euthanasie setzt sich aus Eu (gut) und Thanatos (Tod) zusammen. Euthanasie ist also ursprünglich der gute Tod oder die Hilfe zum guten Tod.
Diese positive Bedeutung ist verlorengegangen. Der Begriff der Euthanasie hat ein schreckliches Assoziazionsfeld erhalten. Die deutschen Nationalsozialisten massten sich an, zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben zu unterscheiden und schreckten nicht vor Morden an «Untermenschen» zurück. Diese Massenmorde bezeichneten die Täter euphemistisch als Euthanasie. Die Verbrechen der nationalsozialistischen Ära überschatten in Deutschland auch heute noch die Diskussion um die Sterbehilfe.
Wenn man gegenwärtig die demographische Entwicklung betrachtet, wird einem mulmig. Eine wachsende Altenpopulation steht schrumpfenden Nachfolgegenerationen gegenüber. Die Lebenserwartung hat sprunghaft zugenommen, während die Geburtenrate sinkt. Immer weniger Junge müssen für immer mehr Alte aufkommen. Die zahlreichen Alten leben länger, lange genug, um kostspielige degenerative Krankheiten zu bekommen, die die Krankenversicherungen exponentiell belasten werden.
Wie wird die Gesellschaft mit diesem zunehmenden Druck umgehen? Der ehrwürdige Plato kommt mit einem unzimperlichen Lösungsvorschlag: Er ist der Ansicht, dass bei Kranken mit fehlender Lebenskraft die ärztliche Hilfe eingestellt werden sollte, weil sie dem Kranken nichts nützt und weil der Kranke dem Staat schadet, das heisst die Gemeinschaft belastet. (Platon Politeia 407). Die Stoiker gehen noch einen Schritt weiter: Unter bestimmten Umständen ist ein Suizid nicht nur erlaubt, sondern gefordert. Bei unheilbarer Krankheit, bei unerträglichen Schmerzen und bei unabwendbarer Armut hat der Bürger die Pflicht, aus dem Leben zu scheiden.
Hilflose mit vermindertem Schutz
Suizid als Bürgerpflicht? Diese Idee ist in abgeschwächter Form leider nicht ganz abwegig. Der Preis für eine Gesetzgebung, welche die Entscheidungsfreiheit vergrössert, wird eine Veränderung des gesellschaftlichen Konsenses über den Wert des Lebens sein. Wenn dem Freitod weniger Schranken gesetzt werden, kann es für die Schwachen gefährlich werden. Als das menschliche Leben in jeder Form noch einen absoluten, unantastbaren Wert darstellte, waren die Hilflosen sicherer.
Alte pflegebedürftige Menschen könnten unter Druck kommen, in passive oder gar aktive Sterbehilfe einzuwilligen, ohne wirklich dafür bereit zu sein. Vernachlässigung und Lieblosigkeit beschleunigen das Sterben. In Amerika werden heute schon demente Alte, die sich nicht mehr identifizieren können, manchmal von ihren überforderten Angehörigen in den Eingangshallen von Spitälern in ihren Rollstühlen einfach stehen gelassen. Es sind auch andere «Beseitigungsmethoden» denkbar. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein.
«Sozialverträgliches Frühableben» war in Deutschland das Unwort des Jahres 1998. Der damalige Präsident der deutschen Ärztekammer fragte sich in aller Öffentlichkeit, ob angesichts politischer Forderungen nach Kostensenkungen im Krankheitswesen nicht das sozialverträgliche Frühableben gefördert werden müsse. Die Erweiterung der Entscheidungsfreiheit hat die Leitplanken versetzt. Das neue Schweizer Erwachsenenschutzrecht verankert deshalb den Schutz von nicht mehr urteilsfähigen abhängigen Menschen. Weder Ehepartner noch Angehörige haben das Recht, allein über deren Existenz zu entscheiden.
Verantwortungsvolles Sterben
Dem natürlichen Abbau des Körpers stehen medizinische Kompensationsmöglichkeiten gegenüber, die verantwortungsvolle Entscheidungen verlangen. Nicht alles Mögliche ist auch sinnvoll. Aber wo muss die Grenze gezogen werden, und wer soll sie ziehen? Kirche und Ärzte haben an Autorität eingebüsst. Die gesetzlichen Regelungen hinken dem gesellschaftlichen Konsens hinterher. Wenn die Entscheidung über das eigene Leben in erster Linie beim verantwortungsfähigen Individuum liegt, fragt es sich, wie Verantwortungsfähigkeit definiert werden muss. Wie ist die Grenze zwischen «urteilsfähig» und «mental inkompetent» zu ziehen? Wann muss ein Mensch vor sich selber und vor anderen geschützt werden? Wie wird die Verantwortung zwischen Betroffenen, Angehörigen, Ärzten und der Gesellschaft aufgeteilt?
Entscheidungen sind unumgänglich. «Wieviel darf ein Lebensjahr kosten?» stand als Titel über einem Zeitungsbericht, der einen Prozess zwischen Patient und Krankenkasse zum Gegenstand hatte. Das Dilemma der Entscheidungsträger artikuliert sich in der Frage der Organtransplantationen besonders scharf. Ist es sinnvoll, einem Siebzigjährigen eine der raren Spendernieren einzupflanzen und sie einem Dreissigjährigen vorzuenthalten? Welche lebensverlängernden Operationen sollen die Krankenkassen, und damit die Allgemeinheit finanzieren? Dürfen sich finanzstarke Alte Behandlungen kaufen, die den anderen nicht zugänglich sind?
Wir schrecken davor zurück, materielle Überlegungen einzubeziehen, wenn es um Leben und Tod geht. Indessen ist es vernünftig, sich zu fragen, wer in einer Situation welche Interessen hat, und wie sie möglichst fair gegeneinander ausbalanciert werden können. Die Ressourcen sind nicht unbegrenzt, weder bei den Spenderorganen, noch bei den Pflegenden, noch in finanzieller Hinsicht – was unter Umständen harte Entscheidungen verlangt. Gegenwärtig kämpfen die Entscheidungsträger um gute Entscheidungskriterien.
Selbstsorge für Körper und Geist
Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem eigenen Körper schont die Ressourcen. Das Leben unseres Körpers ist ein Wunder, ein komplexes, erstaunliches Zusammenspiel, das wir in jungen Jahren als Selbstverständlichkeit beanspruchten. Der alternde Körper mit seinen Schwächen und Ausfällen öffnet uns dafür die Augen. Das Gesamtkunstwerk Körper will im Alter aufmerksam geschätzt und unterstützt werden. Gar nicht oder möglichst spät medizinische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, wünschen sich alle.
Das lässt sich bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Nichts verbessert die Lebensqualität im Alter mehr als ein guter Umgang mit dem Körper. Es lohnt sich, mit Suchtmitteln vernünftig umzugehen, langsam, genussvoll und gut zu essen, genügend zu schlafen und dem Körper Bewegung zu gönnen. Sich täglich Zeit nehmen für einen Spaziergang wirkt schon Wunder. Der Perspektivenwechsel zwischen drinnen und draussen, das Wetter und die Natur im Wechsel der Jahreszeiten rücken alles in angemessene Proportionen. Bewegung hält nicht nur den Körper, sondern auch den Geist fit, wie neuere Untersuchungen zeigen.
Es ist viel einfacher, einen gesunden Körper vorbeugend gut zu unterstützen, als eine einmal eingetretene Störungen wieder in Ordnung zu bringen. Der Körper rächt sich, wenn er vernachlässigt wird. Die Verlängerung der gesunden Lebenserwartung im Alter erweist sich als hochwirksame Bremse der Gesundheitskosten. Ein guter Umgang mit dem eigenen Körper ist auch ein rücksichtsvolles Verhalten den Angehörigen und der Gesellschaft gegenüber, die die Auswirkungen körperlicher Vernachlässigung mittragen müssen.
Letzter Dienst an der Gemeinschaft
In anderen Zeiten und Ethnien konnte sich die Gemeinschaft das Durchtragen der Alten bis zu ihrem natürlichen Tod nicht leisten. Die Alten wurden von den Eingeweihten des Stammes auf ihr für das Überleben des Clans notwendiges Ende vorbereitet, und sie verlangten selber von sich diesen letzten Dienst an ihrer Gemeinschaft. Bei den Inuit verliessen die todgeweihten Alten das Iglu, um in der Kälte zu sterben.
Ein ergreifender Film aus Japan zeigt das Stammesritual der Aussetzung der Alten, wie es vor Zeiten üblich war: Wenn die Zeit gekommen ist, muss der älteste Sohn seine Mutter oder seinen Vater auf den heiligen Berg tragen und sie dort der Kälte und dem Tod ausetzen. Im Film ist es die Mutter, die das kritische Alter erreicht hat. In einer feierlichen Zeremonie werden Mutter und Sohn von den Dorfältesten und den Schamanen auf diesen schweren Gang vorbereitet. Die beiden werden in die Gesetze dieses Rituals eingeweiht und erhalten den Segen der Gemeinschaft, der sie mit diesem Menschenofper dienen. Die Bereitschaft, diesen Gang anzutreten, wird von der Mutter erwartet, aber auch als Ausdruck ihrer Reife und Opferbereitschaft verehrt. Mit gefasster Ruhe steigt die Mutter auf das Tragbrett, das ihr Sohn an den Rücken geschnallt hat. Der Film zeigt in langen Einstellungen den beschwerlichen Aufstieg des Sohnes mit seiner schweren Last. Man sieht, wie seine Füsse an der steilen Bergflanke mühsam Halt suchen. Am Todesplatz angekommen steigt die Mutter vom Rücken des Sohnes hinunter. Der Sohn erträgt den Abschied von seiner Mutter nicht und klammert sich an sie, bis sie ihn fortjagt. Es ist ihm verboten, zurückzuschauen. Die Kamera bleibt auf die Mutter gerichtet, die ihre Meditationsmatte ausbreitet und aufrecht im Lotussitz ihren Tod erwartet. Ihre stoische Silhouette im Schneegestöber bleibt unvergesslich. Es ist ein Bild der Ruhe und der Menschenwürde.
Was die medizinische Versorgung anbelangt, sind letzlich die Betroffenen die wichtigsten Entscheidungsträger. Die ethische Substanz eines Individuums ändert sich mit dem Alter wenig. Wer sich früher am Gemeinwohl orientierte, wird das auch im Alter tun, oder im Alter erst recht. Das Ausmass der Beanspruchung von Medizinal- und Pflegeleistungen hängt nicht nur von der körperlichen Verfassung eines Menschen ab. Sowohl seine Werte als auch seine Einstellung zur Sterblichkeit spielen eine Rolle. Wo es darum geht, einen verdrängten Tod möglichst ad infinitum hinauszuschieben, entscheidet man anders, als wenn vom Ende her gedacht und Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der verbleibenden Lebensstrecke im Auge behalten werden.
Wer die Gesetzmässigkeit von Werden, Sein und Vergehen alles Lebendigen wirklich verinnerlicht hat, kann seine Sterblichkeit akzeptieren. Körperlicher Abbau ist dann nicht mehr der zu bekämpfende Feind, sondern eine der Endstation des Lebens gemässe und deshalb zu ertragende Gegebenheit. Eine einvernehmliche Einstellung dazu lässt sich mit der Menschenwürde am besten vereinbaren. Aus dieser Haltung heraus können die Alten gute Entscheidungen treffen, die weder von einer egozentrischen Lebensgier noch von einer falschen Selbstaufopferung geleitet sind.
Weiterführende Literatur:
BG Borasio, Gian Domenico: Über das Sterben. München 2011
BM Von Brück, Michael: Ewiges Leben oder Wiedergeburt? Freiburg 2007
CS Cave, Stephen: Unsterblich. Frankfurt am Main 2012
GP Gross, Peter: Wir werden immer älter. Vielen Dank. Aber wozu? Freiburg im Breisgau 2013
KE 1 Kübler-Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden. Chicago 1969
KE 2 Kübler-Ross, Elisabeth im Interview mit Franz Alt 2005. Google 19.11.14
KH 1 Küng, Hans und Jens, Walter: Menschenwürdig sterben. München 2009
KH 2 Küng, Hans: Jesus. München 2012
FR Reich, Felix: Exit-Offensive für den Altersfreitod, Reformiert, 25. September 2014
RM 1 Renz, Monika: Zeugnisse Sterbender. Paderborn 2000
RM 2 Renz, Monika: Hinübergehen. Feiburg im Breisgau 2011
TB Tommer, Benjamin: Demenz verursacht alarmierend hohe Kosten. Neue Zürcher Zeitung vom 12.9.10
YI Yalom, Irvin D.: Staring at the sun. San Francisco 2009