In seinem neuesten Buch erzählt Andreas Iten Episoden aus seiner Kindheit, um sich darüber klar zu werden, wie diese sein Leben geprägt haben. Dank seiner erzählerischen Kunst gelingt es ihm, die Leser in seine Geschichten so einzuspinnen, dass sie ihm nur zu gerne folgen. Andreas Iten ist auf einem Bauernhof bei Unterägeri aufgewachsen. Seine Kindheit wurde durch das Leben auf dem Hof bestimmt. Seine Schilderungen lassen die damalige Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs mit ihren aus heutiger Sicht idyllischen Seiten, aber auch mit ihren Härten lebendig werden.
Das Zentrum des Bauernhauses war die Wohnküche. Hier versammelte sich nicht nur die Familie. Hier sassen hin und wieder auch diejenigen, die wie «der Melker» auf dem Hof arbeiteten, und es kamen Nachbarn und andere Bekannte und Freunde. Besonders lebhaft ging es bei Festen zu, etwa der «Metzgete». Da labten sich alle an den Blutwürsten eines frisch geschlachteten Schweines.
Das Beziehungsgeflecht
Vielleicht hat die Erinnerung an die Wohnküche Andreas Iten zu dem Kunstgriff gebracht, in jedem Kapitel einzelne Personen in den Mittelpunkt zu stellen. Er erzählt von ihren Tätigkeiten, ihren Eigenheiten und bisweilen skurrilen Seiten. Und in fast allen Kapiteln treten seine Eltern auf. In diesem Beziehungsgeflecht erlebte er seine Kindheit und erfuhr Prägungen für sein ganzes Leben. Deswegen hat Andres Iten den Untertitel «Psycho-archäologische» Geschichten gewählt.
Dieses Leben hatte auch sehr dunkle Seiten. Einmal schildert Andreas Iten den Judenhass, von dem er als Kind völlig überrascht wurde und der ihm eine Seite von seinem Vater zeigte, die er lieber nicht gesehen hätte. Oder er schildert, wie die Katholiken jeweils am Karfreitag, der für die Protestanten im Gegensatz zu den Katholiken ein hoher Feiertag war, die Protestanten provozierten.
Heimweh
Eines Tages kamen Gäste aus Basel. Daraus ergab sich die Idee, dass Andreas Iten dort doch einige Zeit verbringen könnte. Aber schon am ersten Tag plagte ihn derartig heftiges Heimweh, dass sein Aufenthalt ein äusserst schnelles Ende fand. Daraus lernte er, wie stark er in seinem Elternhaus und seiner Umgebung verwurzelt war. Wie sehr, fragt er in der Betrachtung zu diesem Erlebnis, müssen Kinder von Vertriebenen heute leiden?
Aber er stellte auch fest, dass er nicht zu einem Bauern geschaffen war. Sein Vater tadelte ihn einmal heftig, als er auf dem Feld grundlegende Fehler machte. Er sei ein Träumer. Entscheidend wurden dann mehr oder weniger zufällige Bemerkungen aus der Nachbarschaft, dass er der geborene Lehrer sei oder dass er eines Tages in einem politischen Amt eine Rede zum 1. August halten werde. Damit sei sein «Logos» getroffen worden, und danach habe sich sein ganzes Leben ausgerichtet. So unterrichtete er am Lehrerinnenseminar Bernarda in Menzingen Pädagogik und Psychologie. Und sein politischer Weg führte ihn über mehrere Stationen bis in den Ständerat. Dazu kamen zahlreiche Ämter und Ehrenämter.
Verletzlichkeit
Aber Andreas Iten scheut sich auch nicht, seine vielleicht verletzlichste Seite offenzulegen. Eines Tages schlug sein Klassenlehrer vor, dass er doch die zweite Klasse überspringen könne. Seine Eltern waren damit einverstanden, aber der Pfarrer legte sich quer. Also blieb Andreas Iten in der zweiten Klasse. Die dritte Klasse wurde im selben Raum unterrichtet. Als dort ein Schüler an einer Aufgabe scheiterte, rief der Lehrer Andreas auf, weil er meinte, dass er die Lösung kenne. Die kannte er aber nicht. Der Lehrer reagierte darauf mit Verachtung. Dieses Trauma begleitet Andreas Iten bis heute. «Darum bereitete ich mich stets gründlich vor, wenn ich hervorzutreten hatte. Ich wollte eine gute Figur machen, ‘bella figura’, wie die Italiener sagen, und nicht an den Platz zurückgeschickt werden, wie damals als Zweitklässler.»
Literarisch hat Andreas Iten ein überzeugendes Mittel gefunden, um seine Erlebnisse aus der Kindheit mit den Einsichten seines langen Lebens – er ist jetzt 88 Jahre alt – zu verbinden. Die Episoden aus seiner Kindheit schildert er in der dritten Person. Er blickt quasi von aussen auf das Kind, das er einmal war. Die Interpretationen und Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, bilden jeweils die zweiten Teile der Kapitel und sind in der ersten Person, also «ich», formuliert.
Andreas Iten ist mit seinen «psycho-archäologischen Geschichten» ein Buch gelungen, dem auch eine überregionale Verbreitung zu wünschen ist.
Andreas Iten: Lebensacker. Psycho-archäologische Geschichten. 151 Seiten, Bucher, CHF 25.90