Technologie ist das Problem, für dessen Lösung sie sich hält. Nicht wir drücken die App, sondern die App drückt uns. Die vermeintliche Entlastung mit digitalen Systemen kann uns entmündigen.
Aus Woody Allens Film «Alice» ist mir der etwas dubiose chinesische Naturheiler Dr. Yang in Erinnerung, vor allem sein Satz: «There is a herb for everything.» Dieser Satz muss für die heutigen Verhältnisse umgeschrieben werden. Apple hat es für das iPhone vor über zehn Jahren getan: «There’s an App for That.»
Apps befeuern eine Bedürfnis-Technologie. Das heisst, ihnen wohnt die unterschwellige Suggestion inne, unsere Bedürfnisse und deren Befriedigung an sie zu delegieren – dies immer im Zeichen einer multifunktionalen «Entlastung» und «Erleichterung» des Alltags.
Technik wird immer paternalistischer, böse gesagt: autoritärer.
Die Tastatur eines Smartphones quillt über von solchen elektronischen Little Helpers. Technik wird immer paternalistischer, böse gesagt: autoritärer. Umgekehrt haben autoritäre Systeme schon immer eine Affinität zur technischen Lösung gesellschaftlicher Probleme gehabt.
Flächendeckende Einführung neuer Technologie sorgte zum Beispiel in vielen kommunistischen Ländern für einen «disruptiven» Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Heute befinden sie sich im Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft. Seit mehr als einem halben Jahrhundert psalmodiert die sozialistische Rhetorik vom gesellschaftlichen Segen dank wissenschaftlich-technischen Fortschritts, angefangen bei Chruschtschow über Ulbricht, Kim Il-Sung, bis zur heutigen chinesischen Führungsriege.
Vollautomatisierter Luxuskommunismus
Versteifen wir uns nicht exklusiv auf kommunistische Länder. Der Techno-Paternalismus erobert auch die kapitalistischen Länder. Hier fällt er als Trend zum vollautomatisierten Luxuskommunismus auf, um hier den Begriff des Journalisten und Linksaktivisten Aaron Bastani zu verwenden. Die technischen Mittel der Automation – so Bastanis Argument – trügen das Ihre bei zu einer gesellschaftlichen Umwälzung, einer Überwindung des Kapitalismus. Und zwar würden die smarten Geräte uns endlich von der Fron der Arbeit entlasten, jeder Mensch nähme im digitalen Elysium teil am Segen der neuen Technologien.
App-Kapitalisten schaffen die Arbeit nicht ab, vielmehr definieren sie mit ihren smarten Plattformen die Arbeitsbedingungen um.
Das erinnert natürlich an Paul Lafargues «Recht auf Faulheit» im 19. Jahrhundert. Aber die Vision ist verpeilt. App-Kapitalisten schaffen die Arbeit nicht ab, vielmehr definieren sie mit ihren smarten Plattformen die Arbeitsbedingungen um, indem sie einen Markt für kleine, temporäre Handy-Jobs kreieren. Tatsächlich entpuppen sich diese Bedingungen für viele Arbeitnehmer als zunehmend prekärer.
Wenn Automatisierung das Delegieren der Arbeit an Maschinen bedeutet und wenn dieses Delegieren in der Regel ein Prekariat nach sich zieht, dann stellt sich die Schlüsselfrage: Wie verträgt sich die Abschaffung von menschlicher Arbeit mit der Idee des Kommunismus? Wie soll ein Kommunismus funktionieren, der primär auf App-Konsum beruht?
Blüht uns eine Gesellschaft, in der für den Menschen «Arbeit und Musse ineinander zerfliessen», wie Bastani so schön schreibt? Hier liegt ein fundamentales Missverständnis vor. Eine solche Gesellschaft ist auf eine Art unfrei, von der sich selbst Marx noch keinen Begriff machen konnte, obwohl er durchaus die Gefahren der Automation voraussah.
«Technosolutionismus»
Nichts trifft auf die aktuelle Situation besser zu als Karl Kraus’ berühmtes Diktum über die Psychoanalyse – neu formuliert: Technologie ist das Problem, für dessen Lösung sie sich hält. Und zwar handelt es sich beim Problem um eine Haltung, die im Englischen den Namen «Technosolutionism» trägt. «There’s an App for That» ist die schlagende Formel dafür: Es gibt eine technische Lösung für das Problem. Das stimmt zwar immer bis zu einem gewissen Grad. Aber der kritische Punkt liegt in der Bestimmung des Grades. Und diese Einschätzung ist nicht ein technisches, sondern ein politisches Problem.
Am bedenklichsten erscheint der Appell an die Autorität der Technologie, als handle es sich um eine neutrale Instanz, die über den sozialen und politischen Niederungen schwebt. Besonders in Zeiten politischer Polarisierung, wie wir sie gegenwärtig erleben, bieten sich technische Lösungen mit dem Anschein der Unparteilichkeit an, die sich allein an der Sachfrage orientiert.
Auf politischem Terrain sind «Sachen» unlösbar in Verwendungs- und Deutungszusammenhänge eingebettet.
Aber «reine» Sachfragen gibt es auf politischem Terrain nicht. Hier sind «Sachen» unlösbar in Verwendungs- und Deutungszusammenhänge eingebettet. Die gleiche App, die die Ausbreitung des Virus verfolgt, kann ebenso leicht die Bewegungen des App-Benutzers verfolgen. In digitalen Gesellschaften verschmelzen Mensch und «persönliches» Gerät ohnehin zu einer neuen hybriden Einheit. Soziales Atom ist nicht mehr die Person, sondern Person plus Smartphone.
Wie man vernimmt, ist es in China bereits gang und gäbe, sich öffentlich nur bewegen zu können, wenn die App den «richtigen» Farbcode angibt. Umgekehrt lassen sich dubiose Interventionen ins Familiäre und Private durch Covidkontrolle legitimieren oder «weisswaschen». Im Englischen gibt es einen Begriff für diese Form der zunehmenden Überwachung: «Covidwashing». Pandemie und öffentliche Gesundheit sind quasi ihr aktuelles Übungsfeld.
Dass sie zum Usus wird, ist nicht unwahrscheinlich. Krisenzeiten ziehen Kreise. Was sich in Krisensituationen bewährt hat, kann leicht überdauern und in Nachkrisen-Situationen Anwendung finden – etwa, indem man einfach die normale Situation als «Krise» definiert. Dazu neigen Techno-Autokraten jeglicher Observanz.
Gigantische Konditionierungsmaschine
Die Autorität der Technologie, sagt man, ist immer die Autorität von Machthabenden: einer Elite, Regierung, Industrie, Partei, Klasse. Freilich läuft diese personalisierende Zuschreibung – Zuckerberg, Musk, Apple, die KI-Forscher, das chinesische Politbüro – heute immer mehr ins Leere, sie riecht sogar nach Konspirationismus. In hochtechnisierten Gesellschaften «zerstreut» sich Macht, entgleitet bewusster menschlicher Kontrolle.
Die App ist eine künstliche Verhaltenszurichterin. Ich drücke nicht auf den Knopf, der Knopf drückt auf mich.
Die App ist schon längst keine blosse «Applikation» mehr, derer man sich bei Gelegenheit mit Absicht und Umsicht bedient – die App ist eine künstliche Verhaltenszurichterin. Ich drücke nicht auf den Knopf, der Knopf drückt auf mich. Die App sinkt ein in unsere Psyche. Sie bemächtigt sich unseres Unbewussten. Und genau darin liegt der Kern ihrer Macht.
Die App-Industrie entwickelt unentwegt eine mobile Armatur aus smarten Fitbitarmbändern, Hautpflastern, Textilien und anderen «wearables», die Informationen über Herzaktivität, Blutdruck, Körperfett, Atmung, Schlafmuster, Essgewohnheiten, ja, sogar über unsere Stimmung aufzeichnen und übermitteln können. Eine gigantische Konditionierungsmaschine – und wir merken das Entscheidende nicht: Wir sind diese Maschine.
Menschen «ohne Eigenschaften»
Darauf sollten wir unser Augenmerk vermehrt richten, will heissen: das Augenmerk auf uns selbst. Darauf, wie und in welchem Mass wir unsere «veralteten» Fähigkeiten an versatile Geräte abtreten. Diese Fähigkeiten haben immer noch ihre Geltung. Aber sie bedürfen besonderer Achtung und Pflege. Wir müssen sie jetzt in der Konstellation der KI-Systeme neu gewichten, um eine angemessene Balance zu gewinnen.
Mir kommt in diesem Zusammenhang Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften» in den Sinn, der Protagonist Ulrich aus dem grossen Roman. Ulrich sieht sich eines Tages durch einen Bericht in den Medien irritiert und herausgefordert. Es ist nämlich die Rede von einem «genialen Rennpferd». Wenn nun schon Tiere «Genie» haben, so überlegt Ulrich, was soll denn der Mensch mit all seinem Genie anfangen. Er verfügt zwar darüber, aber «die Möglichkeit (seiner) Anwendung (kommt) ihm abhanden.»
Mittel-Zweck-Umkehr
Dieses Abhandenkommen schlummert als verstecktes Risiko in den «genialen» KI-Systemen. Wir werden zu Menschen «ohne Eigenschaften», zu Fortsätzen der von uns geschaffenen Geräte. Wer oder was ist in der Mensch-Technik-Symbiose Zweck, wer oder was ist Mittel? Unterschwellig findet eine Umkehr des Mittel-Zweck-Verhältnisses statt: eine Entmündigung im vernunftlosen Technikgebrauch. Unmündig ist ein Zustand, sagt Kant, in dem ein Seelsorger den Ort unseres Gewissens einnimmt oder ein Arzt für uns entscheidet, was unsere Diät zu sein hat.
Wir tun gut daran, uns zweimal zu überlegen, von welchen Fähigkeiten wir uns «entlasten» wollen.
Genau dies ist der Zustand vieler Techniknutzer, die ihre Entscheidungen an das «Urteil» einer App delegieren. Wir tun gut daran, uns zweimal zu überlegen, von welchen Fähigkeiten wir uns «entlasten» wollen. Technik macht uns in dem Masse frei, in dem wir uns nicht von unserem Verstand befreien.