Es gehört zur ethnologischen Folklore, Magie und Zauberglauben mit „primitiver“ Entwicklungsstufe des Menschen zu assoziieren. Nun beobachten die Ethnologen im globalen Süden immer wieder Praktiken, die moderne Technologie mit alten magischen Vorstellungen verschmelzen: Internet-basiertes Voodoo in Haiti; hellseherische Chirurgen in Brasilien; Aerosole, die den schützenden Geist der Santa Muerte in Mexiko versprühen; schwerbewaffnete Geistermedien in Uganda; nicht zu vergessen ein berüchtigtes Paar dämonisch besessener Unterhosen in Ghana. Solche Phänomene bekräftigen natürlich das Klischee von der „zurückgebliebenen“ Dritten Welt, deren Bevölkerung einfach nicht den Anschluss an die Moderne findet.
Sind wir Modernen oder Postmodernen so anders? Schauen wir auf eine technologisch höchst avancierte Gesellschaft wie die japanische. In Kotohira steht ein berühmtes altes shintoistisches Heiligtum, der Schrein Kotohira-gū. Dort findet man eine Tafel zu Ehren des ersten japanischen Kosmonauten, Akiyama Toyohiro. Genauer besehen, wird nicht nur Toyohiro Ehre bezeugt, sondern es wird auch Konpira, dem Gott der Seefahrer, für den sicheren Flug gedankt.
Eine seltsame Verschränkung von alter Religiosität und moderner Technologie. Mit solchen religiös-technischen Hybriden ist die kulturelle Landschaft Japans gespickt. Es gibt Begräbnisrituale für Hunderoboter, iPhone-Apps für Exorzismus und Wahrsagerei, Speichersticks als magische Amulette, buddhistische Stupas (turm- oder glockenförmige Gebilde mit einer herausragenden Spitze), die Thomas Alva Edison und Heinrich Hertz als den „göttlichen Patriarchen der Elektrizität und der elektromagnetischen Wellen“ gewidmet sind.
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Hüten wir uns hier vor einem anderen Klischee, jenem des „mystischen“ Asiens. In den USA herrscht geradezu eine „Okkultur“, um den gelungenen Neologismus des Religionswissenschaftlers Christopher Partridge zu verwenden. Im New-Age-Spiritualismus und der Popkultur wimmelt es seit den 1960ern nur so von Geistern, Dämonen, Magiern, Superhelden, und ohnehin spukt in den Köpfen der Amerikaner der Glaube an Telepathie, ESP, Ufos, Aliens, Hexen, Hellsehen, Reinkarantion, Astrologie.
Aufs Ganze gesehen implizieren Umfragestatistiken, dass nur etwa ein Viertel der US-Bevölkerung nicht an das Paranormale glaubt. Mehr als ein Viertel soll dagegen dem Hexenglauben anhängen, obwohl – oder eher: weil – populäre Fernsehserien wie „Bewitched“ das Hexenbild sozusagen haushaltskompatibel gemacht haben. Nach wie vor führen allerdings christliche Fundamentalisten einen Feldzug gegen Hexen, und der evangelikale Sturmtruppführer Pat Robertson entblödet sich nicht, vor Frauen mit eher emanzipatorischen Anliegen zu warnen, sie würden Hexerei praktizieren.
Brüsten wir Europäer uns nur nicht vorschnell damit, im Kerngebiet der Aufklärung zu leben. Zwar kursiert das Gerücht, Gott sei im Engadin getötet worden, und nicht wenige Europäer suchen sich gegenüber Amerikanern gerade durch ihre Säkularität hervorzutun. Mehr als die Hälfte der Engländer soll nach einer jüngsten Umfrage nicht an Gott glauben. Zudem sorgt die agressive Bewegung der neuen Atheisten für ein Dawkinsches Lüftchen.
Aber der Tod Gottes bedeutet nicht notwendig den Tod des Zauberglaubens. Statistische Vergleiche zeigen ein ähnliches Bild wie in den USA: Der Glaube an das Übernatürliche ist weitverbreitet. Auch auf dem Kontinent wimmelt es nach wie vor von verhexten Orten, Schutzengeln, Stimmen aus dem Jenseits, Geistheilern. Im entgotteten Vakuum tanzen fröhlich die Gespenster.
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Nichts ist hartnäckiger als der Mythos der Aufklärung, der uns einredet, Wissenschaft und Technik hätten uns aus dem Entwicklungsstadium des „Primitiven“ herausgehoben. Max Weber gebrauchte 1913 zum ersten Mal den Begriff, der die Folgezeit charakterisieren sollte: Entzauberung der Welt. Das geschah in einer Zeit des blühenden Okkultismus, demgegenüber sich Weber übrigens aufgeschlossen zeigte.
Ein Jahrhundert später zeigt schon ein kursorischer Blick: Die Welt des Kapitalismus ist verzaubert wie nie zuvor – durch Technik. Wir schaffen andauernd „technische Wunderwerke“. Verwunderlich dabei ist allerdings, wie wenig wir uns wundern. Wir lassen uns von den neuesten Apps und Gadgets durchaus verzaubern, aber diese Verzauberung verläuft in kommerzialisierbaren Bahnen.
Der Zauber selbst ist nun zum Industrieprodukt geworden. Er führt meist kaum weiter als zum reibungslosen Gebrauch und zu einer fiebrigen Erwartung neuer Versionen und Updates; nur nicht zur Frage, wie das Ding funktioniert. Magie und technischer Analphabetismus bedingen einander wechselseitig. Von einem Klassiker der Science-Fiction, Arthur C. Clarke, stammt der vielzitierte Satz: „Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie ununterscheidbar.“
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Man könnte auch sagen: Technologie ist Magie mit modernen Mitteln. Wir leben in einer Epoche der rationalisierten Magie. Das Wort ist altpersischer Herkunft: „maga“ bedeutet bestimmte aussergewöhnliche Fähigkeiten oder Kräfte von Menschen, Tieren oder Dingen. Diese Kräfte können beansprucht oder verliehen werden. Am besten denkt man bei Magie an Charisma. Charismatische Personen haben die „Magie“, andere zu „verzaubern“, das heisst auch, sich anderer zu bemächtigen.
Heute läuft das Design der Artefakte primär in diesem Sinne darauf hinaus, sie charismatischer zu machen. Das iPad wurde als „magisch“ lanciert. Laut dem Chefdesigner von Apple, Jonathan Ive, sei die Aufgabe der Firma, harte, schwierige Probleme zu lösen, ohne die Komplexität der Probleme sichtbar werden zu lassen. Produkte-Design ist „Magifizierung“. Man betrachte das Smartphone: ein glatter, handlicher, undurchsichtiger Kleinmonolith. Mit einer leichten Berührung lässt sich alles herbeizaubern. Magie heisst nach der Definition des Ethnologen Marcel Mauss: Kurzschluss zwischen Wunsch und Erfüllung. Das Wischen über das Display des Smartphones ist ein magischer Akt.
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Zurzeit wird bekanntlich viel über den „neuen“ posthumanen Menschen schwadroniert, der sich dank Technik auf ein nie dagewesenes Entwicklungsniveau hangelt. Nüchtern betrachtet, nähern wir uns aber eher früheren animistischen Kulturen, die wir doch überwunden zu haben glaubten. Wir sind magiegläubiger denn je. Statt unserem eigenen Verstand vertrauen wir mehr dem „Verstand“ der Maschinen-Software, und in dieser Hinsicht gleichen wir dem „Primitiven“, der seine Baum- und Wassergeister beschwört. Wahrscheinlich ist dieser „Primitive“ uns darin sogar voraus, dass er seine Lebensbedingungen ziemlich gut kennt und im Griff hat.
Max Weber fragte seine Zuhörerschaft, ob sie eine grössere Kenntnis ihrer Lebensbedingungen habe, „als ein Indianer oder ein Hottentotte (...) Wie der Wilde es macht, um zu seiner täglichen Nahrung zu kommen, und welche Institutionen ihm dabei dienen, das weiss er.“ Wogegen die zunehmende Technisierung unserer Lebenswelten „nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen (bedeutet), (...) sondern (...) etwas anderes: (...) den Glauben daran: dass man alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne.“ Der Glaube an das „im Prinzip“, wohlgemerkt.
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Edward Burnett Tylor, ein Pionier der Religionsanthropologie, schrieb 1871 in seinem Buch „Primitive Cultures“: „Die Welt wimmelt erneut von intelligenten und mächtigen (...) spirituellen Wesen, deren direkte Wirkung auf Geist und Materie wir ebenso vertrauensvoll annehmen wie in jenen Zeiten und Ländern, in denen es der Physik (...) noch nicht gelungen war, die Geister und deren Wirkungen aus der Natur auszustossen.“
Man ersetze „intelligente und mächtige spirituelle Wesen“ durch „intelligente und mächtige virtuelle Wesen“, und man hat einen prägnanten heutigen Lagebeschrieb. Wir werden die Geister auch weiterhin nicht los. Die Entzauberung, also die Aufklärung, misslingt uns. Wir sind Neoprimitive auf technisch avanciertestem Niveau.