Information, so lautet die klassische Kurzdefinition aus der Kommunikationstheorie, ist Beseitigung von Ungewissheit. Damit ist Folgendes gemeint: Wenn ich zum Beispiel über den aktuellen Wochentag im Ungewissen bin, dann habe ich die Wahl zwischen sieben Möglichkeiten. Informiert bin ich, wenn diese Palette von Alternativen auf eine einzige reduziert ist. Jemand sagt mir zum Beispiel „Mittwoch“. Er hat mich informiert: die sieben Alternativen auf idealerweise eine reduziert. Je mehr Alternativen, desto höher der Informiertheitsgrad. Wenn nur zwei Alternativen existieren, kann diese Reduktion durch eine einzige Frage erfolgen: „Ist heute Mittwoch oder nicht?“, „Ist der Schalter ein oder aus?“, „Zeigt die Münze Kopf oder Zahl?“, „Ist der Virentest positiv oder negativ?“. Eine Antwort genügt und ich bin informiert. Eine solche Antwort ist das „Atom“ der Information: das Bit.
Information braucht ein Modell
Die Definition hat ihre Tücke. Wenn ich informiert bin, dass heute Mittwoch ist, dann bedeutet dies noch nicht, dass tatsächlich Mittwoch ist. Meine Ungewissheit über die sieben möglichen Alternativen ist einfach beseitigt. Aber der Informant könnte sich getäuscht haben oder lügen. Das heisst, die scheinbar einfache Ein-Bit-Antwort ist im Grunde eingebettet in ein Modell, das gewisse Annahmen trifft, zum Beispiel, dass mein Informant wahrheitsgetreu antwortet. Das Atom der Information existiert also nicht „an sich“, sondern immer nur relativ zu einem Modell. Die Frage „Ist der Schalter ein oder aus?“ geht vom Modell einer elektrischen Vorrichtung aus, die genau zwei Zustände kennt. Das ist der Transistor. Leicht denkbar wäre eine Vorrichtung mit kontinuierlichem Übergang von Ein zu Aus. Dann genügte eine Antwort – ein Bit – nicht mehr.
Das Modell ist nicht die Realität
Daraus folgt sogleich eine zweite Tücke. Das Modell ist nicht die Realität, die es modelliert. Wir müssen also Information und Wahrheit auseinanderhalten. Bin ich darüber informiert, dass heute Mittwoch ist, dann weiss ich noch nicht, ob die Information stimmt. Meine anfängliche Ungewissheit ist jetzt einfach beseitigt. Beseitigte Ungewissheit bedeutet nicht Wahrheit. Die Situation könnte komplizierter sein. Zum Beispiel könnte es nicht genügen, zu fragen „Ist heute Mittwoch?“, sondern vielleicht auch „Kenne ich meinen Informanten?“, „Hält er sich an die Fakten?“ und so weiter ... Dieses Spiel des Zweifels liesse sich ins paranoide Extrem treiben. Modellabhängigkeit der Information bedeutet also, dass wir, soll die Information uns etwas über die Wirklichkeit sagen, irgendwann einmal diesen skeptischen Regress abbrechen müssen. Anders gesagt: Der Wirklichkeitsbezug unserer Informationen basiert auf dem Vertrauen in ein Modell, oder wie man heute auch sagt: in einen oft impliziten „Frame“.
Das Ein-Bit-Denken
Eine dritte Tücke ist jene des Ein-Bit-Denkens. Je simpler das Modell, desto geringer der Informationsgehalt, man könnte auch sagen: desto schneller ist man informiert, und trotzdem ignorant. Auch Falschinformation ist Information, und in einem medialen Universum, wie wir es heute kennen, hat Information Priorität, ungeachtet, ob sie wahr oder falsch ist. Das heisst, die Ungewissheit ist beseitigt, man kann sich komfortabel in Gewissheit einmauern und weiss nichts über die Welt.
Das Ein-Bit-Denken zeitigt also das paradoxe Resultat, dass Informiertheit Ignoranz verstärken kann. Und zwar geschieht dies genau dann, wenn wir unserem Denken sozusagen die binäre Kappe überstülpen, unsere Weltsicht in zwei gegensätzliche Raster aufteilen: Einheimische oder Fremde, Freunde oder Feinde, Linke oder Rechte, Gläubige oder Ungläubige. Wer diese binäre Kappe trägt, ist schnell informiert: Ein Bit genügt. Das Merkmal ignoranter Informiertheit.
Newsfeed – überfressen an Information
Verstärkt wird diese Ignoranz überdies durch einseitige Diät. Dafür sorgen primär die Algorithmen der Nachrichtenbeschaffung: der Newsfeed. Sie sind so konzipiert, dass sie mir „persönliche“ Informationen liefern, und das heisst dann häufig: Sie liefern Nachrichten, die in meinen Ein-Bit-Raster passen, die mein Bescheidwissen verstärken. Information aber, wir erinnern uns, setzt Ungewissheit voraus. Wo keine Ungewissheit ist, gibt es keine Information.
Noch ein anderer kontinuierlicher Wandel zeichnet sich hier ab. In den frühen Tagen des Netzes „surfte“ man primär. Man suchte also aktiv nach anderen Websites und entsprechenden Informationen. Der Nutzer bewegte sich auf die Information zu. Heute kommt die Information zum Nutzer. Er wird „gefüttert“. Das verdanken wir grösstenteils der zunehmenden Raffinesse der Algorithmen, die aus dem „lernen“, was der Nutzer mit ihnen tut.
Menschliche Kollektive – kleine oder grosse – können ein „Wissen“ kultivieren, das man sich gegenseitig immer wieder bestätigt; dem man huldigt wie einer Devotionalie. Kein Zweifel steckt einen an. Man weiss im Grunde schon, was man zu hören bekommt. Die News sind nichts Neues. Man braucht gar nicht mehr informiert zu werden, weil man sich schon im Zustand informativ überfressener Gewissheit befindet.
Desinfodemie
Verschwörungstheorien sind ein typisches – ein malignes – Symptom für diesen Zustand. Das zeigt sich gerade in der gegenwärtigen Pandemie. Alle hungern nach Information, und die wenigsten verfügen über die Kompetenz, Information von Desinformation zu trennen. Die Leute befinden sich in einem Schwellenraum: Man weiss nicht, wohin das Ganze führt, zurück in die alte, oder vorwärts in eine neue Normalität. Um Klarheit in das umgepflügte Alltagsleben zu bringen, versucht man, möglichst viele Informationen zu sammeln. Dadurch gerät man möglicherweise in ein zwangshaftes Informationshamstern, bei dem auch immer mehr Desinformation anfällt. Und hyperinformiert versinken wir zusehends tiefer in Unwissenheit, die sich als Wissen tarnt. Es entsteht eine Desinfodemie.
Der Appell an die Autorität
Wissen ist bekanntlich Macht und Informiertheit lässt uns unabhängiger werden. Unsere hyperinformierte, hypervernetzte Gesellschaft deutet freilich das Gegenteil an: Die Überinformiertheit macht uns nicht kognitiv autonomer, sondern vielmehr abhängiger vom Urteil anderer Leute oder auch künstlicher Ratingsysteme. Der alte Appell an die Autorität erstarkt. Aber an welche?
Fragt man jemanden, warum er an den Klimawandel glaube (oder nicht glaube), dann dürfte die häufigste Antwort lauten: Weil ich den einschlägigen Berichten aus den Medien vertraue, Zeitungen, Magazinen, Fernsehkanälen, Websites. In der Regel lesen wir nicht Artikel im „International Journal of Climatology“, sondern lesetaugliche Abstracts von verlässlichen Journalisten. Unser Vertrauen ist also, genau besehen, bereits zweiter Ordnung: Wir vertrauen Journalisten, die Forschern vertrauen. Wir sind als Laien kaum in der Lage, die wissenschaftliche Debatte aus erster Hand zu verfolgen. Deshalb beruft man sich nicht so sehr auf die Information als auf die Reputation der Informanten. Reputation ist das Gütesiegel von Information. Längst haben journalistische Schlauberger und Schlitzohren mitgekriegt, dass man eine Information entwerten kann, indem man den Informanten entwertet.
Kreditwürdigkeit des Wissens
Wir Bürger hochtechnisierter Gesellschaften sind sensibel und vital auf „kreditwürdige“ Informationsquellen angewiesen. Ohne Vertrauensbasis lässt sich das prekäre Kollektivgut Wissen mit blosser Information zerstören. In den Meinungskloaken von Facebook und Twitter ist informierte Ignoranz bereits endemisch.
Wir alle besitzen zwar durchaus individuelles Wissen, Wissen aus Erfahrung, eigener Nachforschung, Lektüre, Reisen, Bekanntschaften, Beziehungen. Aber ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger ist immer Wissen, das nicht „je meines“ ist. „Zivilisation beruht auf der Tatsache, dass wir alle von einem Wissen profitieren, das wir nicht besitzen“, schrieb Friedrich Hayek in seinem Buch „Gesetz, Recht und Freiheit“. Wissen, das wir nicht besitzen, beruht auf Vertrauen. So gesehen müssen wir erst das ABC des Vertrauens neu lernen.