Die alawitisch kommandierten Elitetruppen Hafez al-Asads umzingelten im Februar 1982 Hama und bombardierten die Stadt drei Wochen lang. Dann drangen sie in die Ruinen ein und plünderten, was noch zu plündern war. Männliche Überlebende wurden erschossen oder in Lager verbracht, von denen aus sie in die Gefängnisse des ganzen Landes verteilt wurden. Manche verbrachten 20 Jahre im Wüstengefängnis von Tadmor (Palmyra). Die Todesopfer wurden vom Staat auf 2000 geschätzt; unabhängige Quellen errechneten Zahlen, die von 10'000 bis zu 30'000 reichten.
Ein zweites Hama?
Gegenwärtig stehen die Truppen des Sohnes, Baschar al-Asad, rund um die benachbarte Stadt Homs und beschiessen sie, nun schon seit sechs Tagen. Die Bewohner, ohne Strom, ohne Wasser, ohne Nahrung, erwarten jeden Augenblick, dass die Truppen mit ihren Tanks in ihre Strassen eindringen. Sie wissen, sie werden begleitet sein von den Geheimdienstagenten, die die Erschiessungen und die Verhaftungen vornehmen werden. Auf die Verhaftungen folgt Folter.
Doch die Truppen lassen sich Zeit. Es gibt noch bewaffnete Gegner in der Stadt. Sie sind Überläufer aus der Armee. Ihre Kommandanten haben den Befehl ausgegeben, die Munition zu sparen, bis die Soldaten versuchen werden, in die Strassen einzudringen. Gegenwärtig mit Gewehren und Maschinenpistolen auf den Artilleriebeschuss zu antworten, hat keinen Sinn.
Das Gleiche ist auch verschieden
Wiederholt sich die Geschichte? - Ja, in mancher Hinsicht. Doch es gibt auch Unterschiede:
Damals erfuhr die Welt nichts Genaueres darüber, was in Hama geschah, bis das Massaker vorüber war. Die Stadt war umzingelt, alle Zugänge abgesperrt, die Telefonleitungen gekappt. Das syrische Fernsehen verbreitete jeden Abend Bilder "aus Hama", auf denen begeisterte Asad-Anhänger zu sehen waren, die vor der Fassade des Rathauses von Hama tanzten und jubelten. Sie priesen die Baath Partei. Wahrscheinlich war die Fassade eine Kulisse oder ein altes Bild. Die Jubilanten wurden im Studio davorgestellt.
Die Stadt war von der Aussenwelt abgeschnitten. Wochenlang wusste man nicht, was in ihr geschah. Es gab Gerüchte, doch die staatlichen Medien, andere gab es nicht, dementierten sie nachdrücklich. Erst als die Bulldozer der Armee daran waren, die ruinierten Stadtteile platt zu walzen, und als mancherorts Brettergerüste die schlimmsten Ruinen abdeckten, so dass man sie von der Strasse aus nicht mehr sehen konnte, wurde die Strasse wieder geöffnet. Sie ist die wichtigste Überlandstrasse Syriens, die Damaskus mit Aleppo verbindet.
Dann sickerten allmählich Berichte über die Einzelheiten durch, über die im Lande selbst immer nur flüsternd, niemals gedruckt, Informationen umgingen.
Als die Aussenwelt etwas darüber erfuhr, war das grosse Massaker von Hama schon Geschichte geworden. Später wurde ein Luxushotel mit grünem Park über den völlig zerstörten Altstadtteilen errichtet. Die ausländischen Touristen bezogen das Hotel.
"In real time": der Kanonendonner
Heute jedoch kann die ganze Welt übers Internet die Stimmen der schreienden Frauen und Kinder von Homs hören, die sich beklagen: "Was sollen wir tun? Wir sind alleine! Niemand kommt uns zu Hilfe!" Ihre Stimmen werden übertönt von den Explosionen der Granaten. Die Bilder zeigen leere Strassen, totenstill, auf denen manchmal eine Leiche liegt. Geschlossene Rollläden mit Einschüssen, Rauch, zerstörte Fassaden. Die Strassen sind alle lebensgefährlich, weil es Scharfschützen gibt, die auf alles schiessen, was sich bewegt.
Die staatlichen Medien dementieren wie eh und je. Homs werde nicht bombardiert, sagen sie. Doch diesmal weiss die gesamte Umwelt ziemlich genau, was wirklich geschieht. BBC hatte dieser Tage sogar einen eigenen Korrespondenten in der beschossenen Stadt. Al-Jazeera sendet laufend Bilder.
Damals eine Sekte, heute ein Volk
Es gibt auch politische Unterschiede: Damals in Hama war es eine Gruppe von Syriern, die Muslimbrüder, die den Widerstand ausgelöst hatte, die Waffen besass und die niedergekämpft wurde. Grosse Teile der Bevölkerung lehnten ihre politischen Ziele ab. Der "Muslimische Staat", den sie zu verwirklichen hofften, schaute zurück auf die Zeit des Propheten und auf die grosse Vergangenheit des Islams. Wieder ein Kalifat mit einem "Beherrscher der Gläubigen"?
Die wohl überwiegende Mehrheit der Syrer sah dies nicht als ihr Ziel. Sie wünschten einen modernen Nationalstaat, der in der Lage sein sollte, sich gegenüber der Aussenwelt - in erster Linie gegenüber dem feindlichen Nachbarn Israel - durchzusetzen. Die Hoffnung, dass dieses im Namen des Islams verwirklicht werden könne, teilten nur ganz spezielle, allerdings weit verbreitete Sekten der islamischen Radikalen. Das Wort "Islamisten" war damals noch nicht geprägt.
Neue Ziele, mehr zeitgemäss
Auch heute dürften die Überlebenden und die neu wiederauflebenden Muslimbrüder mit zum Widerstand gehören. Doch sie sind nicht mehr seine einzigen Träger. Es ist die grosse Masse des Volkes, die sich erhoben hat.
Auch ist ihr Ziel ein anderes. Sie wollen "Demokratie". Darunter verstehen sie einen transparenten Staat mit Machtwechsel auf Grund von Volksabstimmungen, unabhängige Gerichtsbarkeit und Information. Islamisch darf er schon sein, aber nicht, wie stets bisher, autoritär.
Syrien 30 Jahre später
Die 30 Jahre zwischen Hama und Homs sind nicht ohne Wirkung an Syrien vorbeigegangen. Die Bevölkerung ist seither ärmer geworden, die Not der riesigen Aussenquartiere der Städte drückender. Diese Bevölkerung weiss, dass es auch Leute gibt, die seither Geld angehäuft haben: "das Regime" und seine Mitläufer.
Das Regime aber hat sich zusehends abgesichert. Die Geheimdienste und die Sicherheitsapparate umfassen heute ein Vielfaches der früheren. Die Minderheit der 15 Prozent, zu denen die Asads gehören, jene der Alawiten, hat alle führenden Positionen in der Armee und in den Sicherheitsdiensten besetzt. Sie ist die Staatsmacht geworden, nicht mehr die ursprünglich pan-syrisch, ja pan-arabisch, ausgerichtete Baath Partei. Die Partei gibt es noch; sie dient jedoch nur noch als eine Fassade des Regimes.
Im wirtschaftlichen Bereich haben die herrschenden Alawiten sich mit den Grosshändlern zusammengetan, die oft Christen und manchmal auch Sunniten sind, um Geschäfte zu tätigen, zu Gunsten der Machthaber und auf Kosten der Allgemeinheit.
Die Minderheiten fürchten die Zukunft
Eine weitere Minderheit, jene der Drusen, scheint abzuwarten, wie das Ringen enden wird. Alle Minderheiten fürchten die zu erwartende Rache der sunnitischen Mehrheit, falls der Aufstand sich durchsetzen sollte. Sie wissen - seit 40 Jahren (Asad Vater ergriff 1971 die Macht) fühlt sich diese Mehrheit von der Macht ausgeschlossen - und je mehr Blut nun fliesst, desto wahrscheinlicher wird das "vae victis". Die Furcht davor hält die Alawiten auf der Seite der Staatsmacht zusammen.
Neu sind auch die Leute, die gegen die Armee kämpfen. Es sind die Überläufer aus der Armee, gewiss überwiegend Sunniten, die sich weigern auf ihre Brüder zu schiessen, jedoch nicht mehr wie damals die Sondergruppe der Muslimbrüder. Ebenfalls neu ist die Ausdehnung der Kontestation. Damals war aller Widerstand auf die eine Stadt Hama konzentriert.
In anderen Orten, vor allem in den Innenstädten von Damaskus und Aleppo, hatten die Muslimbrüder auch den Aufstand geprobt. Ihr Ringen mit Asad hatte über zehn Jahre gedauert. Asad selbst entging dreimal nur knapp Mordanschlägen. Doch an den anderen Schauplätzen waren die Brüder 1982 bereits niedergeschlagen. Hamas war der letzte und grausamste Kampf. Nachher herrschte Ruhe.
Fast überall Widerstand
Diesmal gehen die Demonstranten und Herausforderer des Regimes, zunehmend verstärkt durch die wachsende Zahl der Überläufer, landesweit gleichzeitig vor. Es begann im vergangenen März tief unten im Süden, in Deraa, an der jordanischen Grenze. Der Auslöser war, dass die Sicherheitsdienste dort Jugendliche gefoltert hatten, weil sie Slogans auf die Mauern gemalt hatten.
Heute gibt es zahlreiche Widerstandszentren, in Deir ar-Zor am Euphrat, in den kurdischen Zonen des Nordostens an der Nordgrenze Syriens; in der Bergregion von Edlib; an der nordwestlichen türkischen Grenze vor Antiochien; in den Städten und Vororten vor Damaskus, und rund um Aleppo; im Antilibanon mit dem Ort Zabadani; immer noch weiter im südlichen Deraa und seiner Umgebung, wo die Bewegung begann; in Hama, wo sie bisher zweimal niedergeschlagen wurde... Doch Homs ist zum Zentrum geworden.
Noch einmal ein Paukenschlag für das Ende?
Vielleicht hofft das Regime nach dem Modell von Hama aus dem Jahr 1982 nun 2012 in Homs ein Exempel zu statuieren, wie es damals in Hama geschah, dermassen grausam und rücksichtslos, dass der Widerstand überall endgültig gebrochen werde. Doch es ist keineswegs sicher, dass die Dinge gleich ablaufen werden. Denn heute steht das ganze Land in Brand, nicht nur eine Stadt. Es ist nicht bloss eine Sekte, die sich erhoben hat, sondern ein ganzes Volk, aufgebracht und verzweifelt, das ursprünglich gehofft hatte, mit gewaltlosen Demonstrationen das Regime zu entscheidenden Konzessionen zu bewegen.
Die Vorbilder von Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen hatten diese Hoffnungen ausgelöst. Ein Volk, das aber nun durch die Kämpfer auf beiden Seiten immer mehr in einen bewaffneten Bürgerkrieg getrieben und verwickelt zu werden droht.
Bürgerkrieg wird Stellvertreterkrieg
Wenn der Bürgerkrieg voll ausbrechen sollte, dies weiss man schon heute, wird er auch ein Stellvertreterkrieg werden, in dem sich die beiden politischen Fronten des Nahen Ostens, die "schiitische": Iran; die Hizbollah in Libanon; die heute herrschende schiitische Mehrheit im Irak und als Bindeglied das Alawiten-Regime in Syrien, messen werden mit der Gegenfront der "Sunniten" unter saudischer Führung. Beide Parteien werden einander bekriegen, indem sie sich hinter die beiden syrischen Fronten stellen. Der Krieg wird dadurch verschärft und verlängert werden - auf Kosten der Syrer.
Dass die arabische oder die internationale Gemeinschaft noch eingreifen könnten, bevor es zu diesem vollen Bürgerkrieg kommt, wird immer unwahrscheinlicher. Die Arabische Liga hat versagt, der Sicherheitsrat ist blockiert.
Dem Regime steht noch immer die Armee mit ihren schweren Waffen und sogar eine Luftwaffe zur Verfügung, trotz der wachsenden Zahl der Überläufer. Die Überläufer sind im besten Falle lediglich leicht bewaffnet, und ihre Munition sowie ihr ganzer Nachschub und auch ihre Finanzen dürften äusserst knapp bemessen sein. Das Regime wird sich sagen: Wenn das Exempel Homs nicht genügen sollte, so grausam es auch ausfallen wird, müssen wir uns eben noch ein paar weitere Strafobjekte vornehmen: eine abtrünnige Stadt nach der anderen.
Freunde im Ausland
Das Regime kann auf Unterstützung aus dem Iran und von Seiten der Russen und der Chinesen zählen. Die Russen liefern auch Waffen, die Iraner steuern Geld und Fachleute für Unterdrückung bei. Es dürfte diese Rückendeckung sein, die nach dem Scheitern der Mission der Arabischen Liga und nach dem Veto im Sicherheitsrat Damaskus ermutigt hat, massiver als bisher vorzugehen.
Das Regime setzt weiter auf die möglichst rasche und durchgreifende Zerschlagung des Aufstandes. Wahrscheinlich ist ihm bewusst, je länger dieser dauert, desto schwieriger er zu bewältigen sein wird. Aus seiner Sicht muss der Flächenbrand erstickt werden, solange er erstickt werden kann. Es ist gegenwärtig immer noch möglich, dass dies dem Regime gelingen könnte.
Jedenfalls aber setzt es einzig auf diesen Ausweg. Wahrscheinlich ist Asad gar nicht in der Lage, irgendeinen Kompromiss mit der sunnitischen Mehrheit einzugehen. Sogar falls er dies wollte, denn er befindet sich in der Hand seiner Sicherheitstruppen und deren alawitischer Führung. Sie weiss ihrerseits, dass ein Kompromiss für sie den Anfang vom Ende bedeuten würde. Sie wird ihn deshalb nicht zulassen, ob Asad selbst will oder nicht.
Unheilvolle Zukunftsaussichten
Die beiden wahrscheinlichsten Entwicklungen in Syrien sind heute: ein Sieg des Regimes oder ein voller Bürgerkrieg mit der geschilderten Entwicklung hin zum Stellvertreterkrieg, in dieser Hinsicht vergleichbar mit dem libanesischen Bürgerkrieg, der volle 15 Jahre lang dauerte (1975-1991).
Nicht voraussehbare Varianten sind möglich, vor allem die noch gefährlichere eines Krieges der Israeli (und Amerikaner?) gegen den Iran. Solch ein Krieg würde auch die heute gegebene Lage in Syrien verändern, weil der Brand sich dann auch auf die ganze weitere nahöstliche Umgebung ausdehnen würde - mit heute noch kaum absehbaren aber wahrscheinlich weltweit verheerenden Folgen.
Asad noch der beste denkbare Ausgang?
Soll man sich angesichts dieser überaus gefährlichen Perspektiven fragen, ob es nicht noch die beste aller verderblichen Entwicklungen wäre, wenn Asad sich noch einmal, wie sein Vater in Hama, durchsetzen könnte?
Dies ist die Karte, auf welche die christlichen Minderheiten setzen. Sie sehen ihre Zukunft als verwirkt an, falls der heutige Aufstand weiter andauert, falls er in einen vollen Bürgerkrieg umschlagen oder falls er gar siegen sollte. Sie blicken dabei auf den Iraq und die dortige Auswanderung und Austreibung der Christen. Und gleich auch noch auf die ägyptischen Kopten, denen die Wirren der arabischen Revolution bisher eine noch etwas schlechtere Lage beschert haben als sie unter Mubarak bestand.
Der Westen weiss diesmal, was vor sich geht
Auch die Situation der westlichen Mächte ist heute eine andere als sie es damals war. Schon weil damals niemand klar wusste, was in Hama geschah, bis Grabesruhe entstanden war. Während heute täglich die Bilder, der Kanonendonner, die Notschreie aus der beschossenen Stadt weltweit "überspielt" werden.
Doch es sieht nicht so aus, als ob dies viel ändern werde. Amerika ist mit den Wahlen beschäftigt; Europa mit seinen Schulden; die Libyen-Aktion war offenbar höchstens ein halber Erfolg. Die Libyer schiessen nun aufeinander. Niemand will eine solche Aktion auf dem ungleich gefährlicheren Terrain von Syrien wiederholen. Das russische Veto ist ein guter Vorwand, um nichts weiter zu tun. Man kann ja nun den Russen die Schuld zusprechen.
Doch die europäischen Politiker müssten eigentlich erkennen, dass sie vor der Wahl stehen, entweder einen Eingriff in Syrien zu wagen, oder dermassen gefährliche Zukunftsentwicklungen anlaufen zu lassen, dass ein Sieg Asads denkbarerweise noch den am wenigsten verderblichen von allen voraussehbaren Ausgängen abgäbe.