In der schwäbischen Metropole finden sich aus fast jeder Epoche der letzten hundert Jahre exemplarische Bauten. Das Megaprojekt Stuttgart 21 scheint zudem einen Link zwischen der Architekturgeschichte des 20. und jener des 21. Jahrhunderts zu bilden.
Die Reihe der Vorzeigeobjekte in Stuttgart beginnt mit der 1927 im Rahmen einer Ausstellung eröffneten Weissenhofsiedlung, die in der Geschichte der modernen Architektur eine überragende Stellung einnimmt. Die Liste der beteiligten Architekten – u. a. Mies van der Rohe, Le Corbusier, Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer, J. J. P. Oud, Mart Stam – liest sich wie ein Who’s who des Neuen Bauens. Auch wenn durch Kriegsschäden nicht mehr alle Gebäude erhalten sind, zeugen die bestehenden von der damaligen Aufbruchstimmung. Eines der beiden von Le Corbusier entworfenen Häuser wurde als Museum eingerichtet und ist somit auch im Innern zu besichtigen.
Wenig bekannt, aber für die Nazizeit exemplarisch, ist die Kochenhofsiedlung, bei der 1933 unter der Leitung von Paul Schmitthenner 25 Architekten Einzelhäuser errichteten im Sinne eines Manifestes gegen die weisse Moderne. Statt Flachdächer wurden konsequent Satteldächer verwendet, statt Beton musste man Holz als Werkstoff nutzen und statt Bandfenster zeichnete man hochrechteckige Sprossenfenster mit traditionellen Flügeln.
Antimodern ist auch der gewaltige, bereits 1914 begonnene, aber erst 1927 eingeweihte Hauptbahnhof mit dem Turm von Paul Bonatz mit den Fassaden aus rustikalen Bruchsteinquadern, was den Eindruck eines an den Historismus anknüpfenden Monumentes verstärkt.
Nach dem Krieg zeugen die zwei von 1955 bis 1959 hochgezogenen Punkthäuser «Romeo und Julia» von Hans Scharoun in Stuttgart-Rot von der Hochkonjunktur und von der gewaltigen Nachfrage nach Wohnraum. Entstanden sind in Aussenquartieren in aller Eile gebaute lieblose Wohnsilos, von denen sich «Romeo und Julia» auf den ersten Blick nicht fundamental unterscheiden. Immerhin fallen sie mit raffinierter Grund- und Aufrissgestaltung auf.
Geradezu als Mahnmal der Postmoderne kann die 1984 eröffnete Neue Staatsgalerie von James Stirling, Michael Wilford & Associates gelten. Zudem fügt sie sich in die Reihe spektakulärer Museumsbauten ein, die in den 1980er Jahren in sämtlichen Architekturzeitschriften und in unzähligen Monografien gefeiert wurden.
Neue Museen und eine Bibliothek
Zwei Jahrzehnte später waren es die Automobilkonzerne Porsche und Mercedes-Benz, die in auffälligen Gebäuden ihre Geschichte erzählten. Der 2006 eröffnete Turm der von Ben van Berkel und seinem UNStudio entwickelten Mercedes-Benz-Welt ist eher vertikal komponiert und zeichnet sich durch wellenartige, in Glas und Metall ausgeführte Strukturen in der Umhüllung aus. Im komplex verschachtelten Innern herrscht Sichtbeton vor. Die Besucher werden zum obersten Niveau geführt und auf Rampen durch die verschiedenen Abteilungen mit den entsprechenden historischen Fahrzeugen gelenkt. Es sind faszinierend fliessende Räume und Verbindungen mit einer vollständigen Abkehr vom rechten Winkel.
2009 bekam die Mercedes-Benz Welt Konkurrenz durch das Porsche-Museum, wofür das Wiener Architekturbüro Delugan Meissl Associated Architects verantwortlich war. Auch hier herrscht das Prinzip Raumkontinuum vor (was insofern nicht überraschend ist, als für beide Museumseinrichtungen das Büro HG Merz Architekten Museumsgestalter beauftragt wurde), doch das strahlend weisse Gebäude ist eher vertikal geschichtet und weist, als ob es gegen Mercedes-Benz ankämpfen möchte, scharfe Kanten und spitzwinklige Ecken auf. Von gewissen Positionen aus fotografiert, gleicht die Silhouette dem berühmten expressionistischen Chilehaus von Fritz Höger in Hamburg. Der eigentliche Ausstellungsraum ist durch schräge Stützen von der Eingangshalle angehoben und auf der Unterseite verspiegelt.
Streng und auf einen transparenten Würfel reduziert präsentiert sich das 2005 eröffnete Kunstmuseum der Berliner Architekten Hascher und Jehle am Schlossplatz, im Herzen von Stuttgart. Der Kubus über einem eingezogenen Keil, der das abfallende Gelände ausgleicht, ist vollständig in Glas aufgelöst. Die Ausstellungsräume werden von fensterlosen Wänden ummantelt, die zusätzlich mit rohen Kalksteinquadern ausgefacht sind. Im schmalen Bereich zwischen den Fassaden und dem Kern sind die Treppenaufgänge angelegt, die den Besuchern eine beeindruckende Aussicht auf den Schlossplatz schenken.
Ein weiterer interessanter Kubus, die Stadtbibliothek, steht seit 2011 inmitten der neuen Überbauung, die im Zusammenhang mit Stuttgart 21 noch im Entstehen begriffen ist. Der Entwurf stammt vom südkoreanischen Architekten Eun Young Yi. Die Aussenfassaden bestehen aus einem Raster mit Öffnungen, die teilweise mit Glasbausteinen versehen sind und eine Lücke zum Kern generieren. Aus diesem Dazwischen dringt nach Einbruch der Nacht über die Fenster blaues Licht nach aussen.
Im Innern überraschen die Leerräume, von denen derjenige, der vom Erdgeschoss bis zum dritten Stockwerk reicht, der enigmatischste ist, weil sein Zweck nicht ersichtlich ist. Aber auch in den Geschossen darüber staunt man über die Grosszügigkeit des Nicht-Nutzbaren. Von der obersten Ebene fällt der Blick in einen sich nach unten verjüngenden Lichthof, der von den dekorativ erscheinenden Bücherregalen umgeben ist.
Es gibt zwar Sitzmöglichkeiten, doch im Unterschied etwa zu skandinavischen Beispielen wird die Benutzerin nicht optisch eingeladen, hier zu verweilen und sich dem Lesevergnügen hinzugeben. Es scheint, als ob es primär um eine Verneigung vor diesem an Piranesi gemahnenden Interieur ginge und nicht um das Schmökern in Büchern.
Die neue Stadtmitte
Mit dem gigantischen Projekt Stuttgart 21 wird das Zentrum in den nächsten Jahren radikal umgebaut. Die Planungen für die Umgestaltung des Bahnhofs begannen schon 1994 und lösten über Jahre hinweg die heftigsten Kontroversen aus. Die Grundidee ist bestechend: Statt eines Kopfbahnhofs wird die Linienführung der Züge um 90 Grad gedreht, um eine hindernisfreie Abwicklung zu garantieren. Zudem wird der gesamte Bahnhof unterirdisch angelegt, sodass oberirdisch ein neuer Platz für die Bevölkerung angelegt werden kann. Ein weiterer Pluspunkt betrifft den ausgedehnten Schienenstrang, der für die ein- und ausfahrenden Züge unabdingbar war. Diese rund ein Quadratkilometer grosse Fläche wird in näherer Zukunft für neue Quartiere und Grünzonen freigegeben.
Aufgrund des 1997 verabschiedeten Masterplans ist inzwischen das Europaviertel fast vollendet, während die übrigen Quartiere erst nach der Inbetriebnahme des neuen Bahnhofes projektiert werden können. Wer im überlangen Wikipedia-Artikel all die Streitigkeiten um Stuttgart 21 nüchtern analysiert, kann die vorgetragenen Argumente nicht wirklich nachvollziehen. Es spricht – mit Ausnahme der in der Tat perversen Kostensteigerung von 2,5 Milliarden auf gegenwärtig 10 Milliarden und der ständig verzögerten Einweihung (derzeit 2025) – nichts gegen dieses Projekt.
Stuttgart kann sogar zu einer Modellmetropole werden, die nicht mehr von ihren Gleisanlagen belästigt wird. Die Renderings des künftigen Stuttgarter Bahnhofs mit den ausgeklügelten Stützen, die gleichzeitig Lichtschächte sind, überzeugen. Problematisch ist einzig der Umgang mit dem denkmalgeschützten Kopfbau von Bonatz, der in seiner Bedeutung als Reisezentrum ausgedient hat. Abgesehen davon wirkt er nun durch den Abriss der beiden Flügel wie ein amputierter Koloss, der zu allem Unglück durch den Wegfall der zuführenden Bahnsteige auch kein Rückgrat mehr besitzt.
Fotos © Fabrizio Brentini