Noch vor 40 Jahren bestand Rotkreuz, ein kleines Dorf zwischen Luzern und Zug, lediglich aus wenigen Häuserzeilen beim Bahnhof. Nach 2000 setzte ein gewaltiger Bauboom ein mit neuen Quartieren südlich und ausgedehnten Industriearealen nördlich des Schienenstranges.
Dass Rotkreuz eine solche Entwicklung erlebte, hat im Wesentlichen mit der Attraktivität des Kantons Zug zu tun, der mit Tiefststeuern nationale und internationale Konzerne (einige davon mit zweifelhaftem Ruf) anzog. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man wegen den knapp werdenden Grundstücken in der Ebene der Lorze nach Alternativen Ausschau hielt und im Umfeld von Rotkreuz auch fündig wurde.
Mitte der 1970er Jahre fing die Planung der Autobahn Luzern–Zug an, die nördlich von Rotkreuz nach Schwyz abzweigt und damit ideale Voraussetzungen für den Warentransport auf der Strasse schuf. Es dauerte auch nicht lange, bis die durch die Autobahn eingerahmte Fläche für Werkhallen genutzt wurde. Ein städtebauliches Konzept gab es jedoch nicht. Was realisiert wurde, verdient denn auch keinen Schönheitspreis. Umso mehr muss man es schätzen, dass mit zwei Arealen, dem Roche-Diagnostikzentrum unnd der Siedlung Suurstoffi, zumindest punktuell eine Korrektur des Gesamtbildes vorgenommen wurde.
Roche Campus
Die 1969 gegründete Roche Diagnostics International AG, ein Tochterunternehmen des Roche-Konzerns in Basel, wählte die grüne Wiese mit dem Flurnamen Foren als Firmensitz und begnügte sich lange Zeit mit bescheidenen Gebäuden. Erst 2005 bestellte die Firma beim Luzerner Architekturbüro Scheitlin und Syfrig, das schon drei Jahre zuvor das an Mies van der Rohe gemahnende Roche Forum in Risch entworfen hatte, einen Gestaltungsplan für eine ambitionierte Erweiterung.
Vorgesehen war ein zentraler Platz, der von einem Punkthaus und weiteren, niedrigeren Gebäuden umrahmt werden sollte. Dies wurde bis 2015 auch weitgehend umgesetzt. Der Zürcher Landschaftsarchitekt Günther Vogt erforschte wie ein Archäologe den Boden und rekonstruierte auf dem zentralen Platz den prähistorischen Zustand, der nun sozusagen museal auf Inseln und bekiesten Streifen dargestellt wird, mit Pflanzen und Bäumen, die damals die Vegetation bereicherten, und sogar mit versteinerten Mammutbäumen aus Beton. Die übrige Fläche wurde mit einem hellen Werkstoff ausgegossen.
Der aus einem Wettbewerb erkorene Entwurf für eine 68 Meter hohe Vertikale stammt vom Zürcher Team Burkhart+Partner AG. Die zwei anderen markanten Körper, ein zweiteiliges Restaurant und ein Kundenzentrum, projektierten Scheitlin Syfrig Architekten. Der Unterschied zu den benachbarten Gebäuden ist augenfällig.
Der von der Firma nun als Campus bezeichnete Sitz ist einladend und für jedermann frei zugänglich. Kernstück ist der lauschige Hauptplatz, der für ein Industriequartier einmalig ist, auch wenn die Gebäude nur Angestellten zugänglich sind. Aber dass man dabei Lust verspürt, hier zu verweilen, spricht für das Konzept, den Ort der Arbeit für die Bevölkerung zu öffnen.
Auch die Art und Weise, wie die Fassaden der Neubauten gezeichnet wurden, grenzt diese von den nüchternen Nullachtfünfzehnhüllen der anderen Hallen deutlich ab. Das Hochhaus ist als ein eleganter Glaskörper mit einem überhöhten Abschlussgeschoss gestaltet. Hinter der Haut wird das Skelett, bestehend aus einem in Beton ausgeführten Rautengitter, sichtbar, womit die glatten Flächen sich mit einem geometrischen Muster verzahnen und gleichzeitig das Innere je nach Sonneneinstrahlung mehr oder weniger klar erahnen lassen.
Augenfälliger ist die Zeichnung der Fassaden des Kundenzentrums und des Personalrestaurants. Bei diesem sind die beiden Volumina, die auf einem eingezogenen gemeinsamen Sockel ruhen, mit einer netzartigen Struktur in Weiss eingehüllt. Das Kundenzentrum ist ein gewaltiger Bau, auf dessen Grundgeschoss zwei unterschiedlich hohe Trakte aufgesetzt sind. Sie bestehen aus befensterten Kassetten, welche so eingefügt sind, dass keine Geschossgrenzen markiert sind.
Ob bewusst intendiert oder nicht, mit dem Turm und den benachbarten Gebäuden gleicht das Zentrum einer italienischen Piazza, die von Geschlechtertürmen und Palazzi eingefasst wird.
Suurstoffi
Wer häufig mit dem Zug auf der Strecke Luzern–Zürich unterwegs ist, wurde in den letzten Jahren Zeuge einer radikalen Veränderung entlang des Bahnhofgeländes in Rotkreuz. Da wuchsen unterschiedlich hohe, formal auffällige Blöcke in den Himmel, die nun nach Vollendung der gesamten Anlage das Wahrzeichen von Rotkreuz bilden und – um eine weitere Assoziation zu Italien zuzulassen – wie eine moderne Paraphrase der Fronten am Canale Grande in Venedig wirken.
Auf dem Gelände, das ein langgezogenes Dreieck beschreibt, wurde von 1926 bis 1966 Gas-Acetylen produziert, was dazu führte, dass die Bevölkerung den Komplex «Suurstoffi» nannte. Dieser Begriff sollte bleiben. Nach Beendigung der Produktion war das Areal bis 2010 eine Industriebrache. 2008 wurde der erste Bebauungsplan genehmigt, worauf die Firma Zug Estates das gesamte Grundstück erwarb und für die definierten Baufelder unterschiedliche Gebäude erstellen liess. Das letzte Puzzlestück wird 2023 eingesetzt.
Von den ursprünglichen Firmengebäuden rettete man zwei niedrige Trakte, die unter Denkmalschutz gestellt und sorgfältig restauriert wurden. Sie erhalten nun den Bezug zur Geschichte des Ortes aufrecht.
An der Gesamtüberbauung beteiligten sich insgesamt elf Architektur- und drei Landschaftsarchitekturteams, die aufgrund verschiedener Verfahren ausgewählt wurden. Das ganze Quartier ist autofrei; lediglich auf der Zugangsstrasse neben den Schienen sind Fahrzeuge zu sehen. Alle Gebäude sind in eine vielfältige Parklandschaft eingebettet, wofür sich die Gestalter von den englischen Gärten inspirieren liessen. Die Wege schlängeln sich durch und um die niedrigen, teilweise auf polygonalen Grundrissen errichteten Wohnhäuser, weiten sich an einigen Stellen zu Plätzen mit Wasserflächen aus und schenken stets neue Blicke auf die modulierten grünen Inseln mit variantenreicher Bepflanzung.
Gleichsam im Brennpunkt steht ein 80 Meter hoher Wohnturm (Ramser Schmid Architekten GmbH), das höchste Gebäude, das den Park in die Fassaden hochzieht. Die Balkone wurden nach dem Vorbild des Bosco Verticale in Mailand grosszügig begrünt. Formal nicht optimal gelöst ist der Übergang vom schmalen viergeschossigen Sockel zum ausladenden doppelteiligen Turm, was den Eindruck erweckt, als ob dieser auf fragilen Stelzen balancieren würde.
Der ganze Bereich wird durch eine Reihe mit massiven und unterschiedlich hohen Blöcken von den Geleisen und damit auch vom Lärm des Schienenverkehrs abgeschirmt. Sie bieten Räume für das Wohnen und (schwergewichtig) für die Bildung an, weiter auch für die Freizeit sowie für Dienstleistungsunternehmen. Die Silhouette zeigt ein Auf und Ab mit Durchbrüchen, mit Abstufungen und mit kleineren Plätzen zwischen den Einheiten.
Am westlichen Ende steht eine Dreiergruppe (Manetsch Meyer Architekten AG und Büro Konstrukt AG), die von der Hochschule Luzern genutzt wird. Dem 60 Meter hohen Turm ist ein niedrigerer Block mit Dachterrasse angeschlossen und davon losgelöst ein weiteres, sehr transparentes Gebäude. Bei allen drei Trakten ist dem aus Holz bestehenden Skelett eine Curtain Wall aus Glas und Messing vorgehängt worden. Die Fassaden werden durch ein feines Raster gekennzeichnet, das allerdings durch raffiniert eingefügte Unregelmässigkeiten durchbrochen wird. So wird an drei Seiten des Turms die Fassade auf unterschiedlichen Höhen mittig etwas vorgefaltet. Und beim Solitär ragt jedes Geschoss minimal über das untere hinaus, sodass das Volumen nach oben zunimmt.
Dieser Gruppe folgen sechs Einheiten (Holzer Kobler Architekturen GmbH und Bob Gysin+Partner AG), die in Bezug auf Materialität, Tektonik und Farbwahl reichlich komplex sind. Die Architekten und Architektinnen wählten bewusst nicht die Harmonie, sondern den Kontrast, wobei die Lust am Experimentieren doch eher ein formales Zuviel generierte. Abgeschlossen wird die Zeile im Osten von einem wuchtigen zweiteiligen Block mit einer markanten dunklen Rasterfassade.
Es ist angebracht, Suurstoffi als ein gelungenes Modell für eine verdichtete Bauweise zu werten. Was man heute sieht, ist das Resultat einer geduldigen und langen Planung, die Wert auf technische Innovation und hohe architektonische Standards gelegt hatte.
Nächste Etappe: 2025
Bis 2025 wird unter der Leitung von Peter Glanzmann der nächste Zonenplan beendet sein, bei dem es insbesondere um die Vernetzung der Siedlungen nördlich und südlich des Bahnhofes geht. In der Tat trennen die Geleise auf brutale Weise den Ort in zwei Teile. Zwar überbrückt eine Fussgängerüberführung diese Schneise, doch das ist noch ungenügend. Man kann somit gespannt sein auf die Weiterentwicklung, bei der die Gestaltung eines neuen Zentrums um den Bahnhof herum eine grosse Herausforderung für alle an der Planung Beteiligten sein wird.
Alle Fotos: © Fabrizio Brentini