"Platoche", wie man ihn liebevoll zu nennen pflegt, ist im kollektiven Gedächtnis der Franzosen das Arbeiterkind aus Lothringen, der Itaker aus Joeuf, wo 1955, als er dort geboren wurde, zwei Hochöfen rund um die Uhr glühten und noch doppelt so viele Menschen wie heute lebten.
Schwarze Locken
Er bleibt für viele der schmalschultrige Jüngling mit den schwarzen Locken in der Stirn, der es in den mutmasslich besseren Zeiten der Immigration in Frankreich zu etwas gebracht hatte und als einer der ersten Franzosen dann sogar im Ausland, bei Juventus Turin, für damalige Verhältnisse sehr viel Geld verdient hatte.
Am Ende seiner Fussballerkarriere 1987 ging er sogar in die Literatur ein, als sich es eine etwas überkandidelte Marguerite Duras nicht nehmen liess, mit ihm ein wahrlich surrealistisches Interview für die Tageszeitung "Liberation" zu führen.
Trauriger Held
Als Spieler war er die Verkörperung der filigranen Technik, der Präzision und der Eleganz auf dem Spielfeld, der Mann vieler entscheidender Tore und der Kapitän der Fussballnationalmannschaft im Jubel und im Leid.
Unvergessen das Drama, aus dem Fussballgeschichte entstanden ist: WM Halbfinale, Sevilla, 1982. Da hielt Platini wie ein jugendlicher Vater minutenlang die Hand seines Vorstoppers Battiston, als der ohnmächtig am Boden und dann auf der Bahre lag und an diesem Sommertag 1982 aus dem Stadion von Sevilla getragen werden musste, weil ihm ein gewisser Harald-Toni Schumacher, der Keaper der deutschen Nationalmannschaft, die Zähne eingetreten, damit eine schwere Gehirnerschütterung verschuldet hatte und danach auch noch dümmlich gönnerhaft äusserte, er würde dem Franzosen schon die Zahnarztrechnung bezahlen.
Von einem Tag auf den anderen erinnerten sich damals wieder viele in Frankreich an die Kriege mit Deutschland, die Politik musste sich einschalten, um zu besänftigen. Fast ein Dutzend Bücher wurden später über dieses Spiel geschrieben, in dem Michel Platini, Frankreichs Kapitän, der traurige Held gewesen war - weil am Ende, obwohl über weite Phasen des Spiels deutlich schwächer, wieder einmal die rumpelnden Deutschen gewonnen hatten.
WM-Organisator
Als Platini dann im Alter von nur 32 die Fussballstiefel ausgezogen hatte, spielte er zunächst weiter den braven, etwas unbedarften und bescheiden wirkenden Helden von früher, war dann vier Jahre lang ein eher glückloser Trainer der französischen Nationalmannschaft, bevor er Kleider und Rolle wechselte und in eine andere Welt abglitt. "Platoche" legte in kürzester Zeit mehrere Kilo zu, zwängte sich in Anzüge, begann, Krawatten zu tragen, und wurde seit 1992 Coorganisator der WM 98 in Frankreich, die am Ende im eigenen Land auch noch gewonnen wurde - was Platini in Spanien 1982 und 1986 in Mexiko als Kapitän des Trikolore Teams verwehrt geblieben war. Noch einmal durfte sich Platini Mitte Juli 98 im Ruhm des Fussballs sonnen, bevor er endgültig die Funktionärskarriere einschlug und sich von einem gewissen Sepp Blatter als Berater anheuern lies - über drei Jahre lang sollte er diese nicht näher definierte Tätigkeit, die ihm heute zum Verhängnis werden dürfte, ausüben.
Schock
Dieser Mann droht nun vom Podest zu stürzen, ausserhalb Frankreichs hat man ihn de facto bereits begraben.
In Frankreich sah seit Wochen fast jeder in Michel Platini, dem Fussballnationalhelden der 80er Jahre, den künftigen Fifa-Präsidenten und Nachfolger von Sepp Blatter. Um so grösser ist nun der Schock, dass auch Platini von der Ethik-Kommission der Fifa für 90 Tage suspendiert wurde und auch seine Aufgaben als UEFA-Präsident nicht mehr wahrnehmen kann – nachdem am 24. September bekannt geworden war, dass er im Frühjahr 2011 2 Millionen Schweizer Franken kassiert hatte, für angebliche Leistungen, die fast 10 Jahre zurücklagen.
Politikum
Der wahrschinliche Sturz der nationalen Ikone ist in Frankreich innerhalb kürzester Zeit zu einem echtem Politikum geworden – schliesslich findet im Land in 8 Monaten die Fussballeuropameisterschaft statt, und es geht um das Image des Landes und eines seiner Nationalhelden. Angesichts dessen halten massgebliche Politiker und das französische Fussballmilieu Platini fast verzweifelt die Stange.
Als vor über zwei Wochen die dubiose Fifa-Zahlung von 2 Millionen Schweizer Franken an Michel Platini bekannt wurde, staunte man nicht schlecht, dass hierzulande die allererste Reaktion darauf doch tatsächlich von Frankreichs Regierungschef, Manuel Valls, persönlich kam:
"Wir haben das Glück", so der Premierminister, "Michel Platini zu haben, der ein grosser Sportler war und ein grosser Sportmanager ist und ich vertraue ihm ganz und gar." Kurz danach leistete sich der legendäre Sportchef von Radio France, Jacques Ventroux, verwandt mit der Familie von Madame De Gaulle, eine sportjournalistische Ungeheuerlichkeit, indem er voll des Pathos verkündete, Michel Platini sei unbesorgt und habe sich nichts vorzuwerfen und er, Jacques Ventroux, schliesse aus, dass sich Frankreichs Fussballidol der 80-er Jahre habe etwas zu Schulden kommen lassen.
Seitdem ist es, als sei das künftige Schicksal des suspendierten UEFA Präsidenten in Frankreich von nationalem Interesse und als ginge es darum, das Monument Platini mit allen Mitteln zu stützen und zu schützen. Noch vor wenigen Tagen sagte Frankreichs Sportminister , bis das Gegenteil bewiesen sei, habe Michel Platini seine volle Unterstützung, auch wenn die jüngsten Ererignisse das ideale Szenario durcheinanderbringen würden, das man sich für die Nachfolge von Sepp Blatter vorgestellt habe.
Fussballwelt hinter Platini
Michel Platini selbst, der seine 90-tägige Suspendierung zunächst schlicht als Farce bezeichnet hatte und per Kommuniqués immer wieder betont, er habe sich nichts vorzuwerfen, hat am Samstag vormittag offiziell Einspruch gegen seine Suspendierung durch die FIFA Ethikkommision eingereicht, wenig später wurde bekannt, dass der Französische Fussballverband für Platini nächste Woche sogar vor das oberste internationale Sportgericht ziehen will, um die Suspendierung des ehemaligen Mittelfeldstrategen rückgängig zu machen. Der Präsident des französischen Fussballverbands, Noël Le Graet, bringt seit zwei Wochen fast täglich seine Solidarität mit Platini zum Ausdruck und handelt nach dem Motto: "Augen zu und durch". - "Platini", so Le Graet, " ist der Mann der Stunde, diese Suspendierung scheint mir extrem überstürzt. Sie kompliziert natürlich die Dinge, aber Platini hat seine Kandidatur eingereicht und bleibt offiziell Kandidat."
Noch steht Frankreichs Fussballwelt – wie etwa Vereinspräsidenten und alle ehemaligen Nationaltrainer – geschlossen hinter Michel Platini. Ex Teamchef Gerard Houiller sieht eine Kabale, in die Platini von Blatter mit hineingerissen wurde, alles deute darauf hin, dass man Platini eine Falle gestellt habe. Etwas zurüchaltender wirkt der derzeitige Teamchef der französischen Fussballnationalmannschaft, Didier Deschamps, als er beteuerte, er kenne Michel menschlich sehr gut, alle wüssten, was er an der Spitze der UEFA seit 2007 geleistet hat. Natürlich, so Deschamps, kenne er nicht alle Einzelheiten, doch sei er davon überzeugt, dass Platini integer ist.
Dies obwohl nach wie vor ungeklärt bleibt, wofür genau Platini 2011 die 2 Millionen Schweizer Franken bekommen hatte. Angeblich für eine Arbeit, für die er aber mit der FIFA offensichtlich keinen Vertrag hatte. Ebenso unklar bleibt, warum ihm diese Summe, die einem saftigen Jahresgehalt von 1 Million Euro entspricht, erst 9 Jahre später ausgezahlt wurde - just wenige Monate, nachdem die Weltmeisterschaften nach Russland und Katar vergeben worden waren und Platini für Katar gestimmt hatte und wenige Monate bevor Blatter - mit letztendlicher Unterstützung von Platini - sich hatte erneut zum FIFA Präsidenten wählen lassen.
Presse geht auf Distanz
Bis Ende letzter Woche musste man warten, bis wenigstens die französische Presse anfing, nach und nach auf Distanz zu Platini zu gehen. Die am meisten gelesene überregionale Tagerszeitung «Le Parisien/Aujourd'hui», die in jedem Bistro ausliegt, druckte über ein Platini Photo auf der Titelseite die zwei Worte : «Rote Karte». In mehreren Kommentaren war die Rede davon, dass Platini politisch tot sei und im französischen Rundfunk konnte man die Einschätzung hören, Platini bekunde zwar seine Unschuld, doch das Übel sei angerichtet. Blatter habe ihn mit in die Tiefe gerissen, Platini sei nahe daran gewesen, alles zu gewinnen, heute könne er alles verlieren.
Wie sehr die Zukunft Platinis in Frankreich zu einem Politikum geworden ist, zeigen schliesslich Informationen vom Wochenende, wonach das Dossier Platini selbst im Elyseepalast rund um Präsident Hollande genau beobachtet werde. Für den Staatschef, so hies es, sei es eine Horrovorstellung, dass nach Dominique Strauss- Kahn mehr vier Jahre später ein zweiter, weltweit bekannter Franzose und interrnationales Aushängeschild, abrupt vom Podest stürzen könnte.