Die von einer Burg gekrönte weisse Kleinstadt Castelo de Vide, rund 220 Kilometer nordöstlich von Lissabon gelegen, gehört zu den Juwelen im portugiesischen Grenzgebiet zu Spanien. Im früheren Judenviertel mit seinen schmalen Gassen und Treppen scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, aber dieser Schein trügt.
Die Zeiten, in denen hier eine wichtige jüdische Gemeinde zu Hause war, sind längst passé. Im Jahr 1496 wurden die Juden vor die Wahl gestellt, sich taufen zu lassen oder das Weite zu suchen. In Castelo de Vide beherbergt die frühere Synagoge heute ein jüdisches Museum, das auch an die Opfer des einstigen Fanatismus erinnert.
Im Jahr 1989 bat Portugals damaliger Präsident, Mário Soares, just in diesem Städtchen die Juden um Verzeihung für Verfolgungen und Unrecht.
Pässe für die Nachfahren
Im Jahr 2013 folgte – auf Initiative des kleinen konservativen Partido Popular (CDS-PP), der damals an der Regierung war, und des seinerzeit oppositionellen Partido Socialista (PS) – eine weitere, späte Geste der Aussöhnung. In seltener Einstimmigkeit billigte das Parlament in Lissabon eine Änderung des Gesetzes über die Staatsangehörigkeit. Sie ermöglicht es den Nachfahren einst vertriebener Sepharden – iberischer Juden –, sich einbürgern zu lassen und damit portugiesische Pässe zu bekommen.
Seit der Reglementierung des Gesetzes im Jahr 2015 gingen über 49’000 entsprechende Anträge ein, davon gut die Hälfte allein im Jahr 2019. Mehr als 40’000 aller Anträge kamen aus Israel sowie über 2’000 aus der von politischen Turbulenzen geschüttelten Türkei. In Portugal mögen die Mühlen der Bürokratie zwar langsam mahlen. Aufgrund dieses Gesetzes vergab das Land aber schon rund 16’500 Pässe, deren Inhaber sich nicht nur in Portugal zu Hause fühlen dürfen. Sie können sich überall in der EU niederlassen und auch in manche Drittländer leichter einreisen als mit ihren bisherigen Pässen.
Die heutige Religion spielt keine Rolle
Wer auf diesem Weg den portugiesischen Pass erwerben will, muss Belege für sephardische Wurzeln in Portugal erbringen, was nach 500 Jahren nicht immer einfach ist. Als Nachweise können etwa Urkunden von Synagogen oder jüdischen Friedhöfen, Eigentumstitel oder Testamente dienen, aber auch typische Familiennamen und Kenntnisse des „Ladino“, einer Sprache der iberischen Juden. Interessenten können sich dann von den jüdischen Gemeinden in Lissabon oder Porto die sephardische Abstammung bescheinigen lassen und – gegen Vorlage von „sauberen“ Auszügen aus dem Strafregister und Zahlung der amtlichen Gebühr von 250 Euro – die Staatsangehörigkeit beantragen. Ob sie selbst Juden, Christen, Muslime oder Atheisten sind, spielt keine Rolle.
Portugal gestaltete die Einbürgerung leichter als Spanien, wo etwas später ein ähnliches Gesetz in Kraft trat. Anders als in Spanien – und anders als andere Ausländer ohne portugiesische Wurzeln – müssen die Antragsteller in Portugal keine Sprachkenntnisse nachweisen. Im Gegensatz zu Portugal erlaubte es Spanien seinen neuen Staatsbürgern zudem nicht, ihre Pässe bei Konsulaten abzuholen. Sie mussten sich dafür schon persönlich ins Land begeben. Obendrein war das Angebot der Einbürgerung in Spanien von vorherein auf drei Jahre befristet. Es lief 2019 ab.
Antisemitismus im Rucksack?
Auch der edelsten Absicht drohe die Nutzung für andere Zwecke, meint nun die sozialistische Parlamentarierin (und Innenministerin der Jahre 2015–17) Constança Urbano de Sousa, die für ihre Partei einen Vorschlag zur Änderung des Gesetzes erstellte. In einem Meinungsartikel schrieb sie etwa über einen jungen Briten, der zwar von Sepharden abstamme, sich bis zum Brexit aber nie als sephardischer Jude gefühlt habe. Um EU-Bürger bleiben zu können, habe er die Einbürgerung beantragt – und zwar in Portugal, weil dies dort leichter sei als in Spanien.
Laut einem ersten Vorschlag zur Gesetzesänderung sollten Antragsteller künftig mindestens zwei Jahre in Portugal gelebt haben – was die meisten potenziellen Interessenten ausgeschlossen hätte. Von „Antisemitismus im Rucksack“ sprach der frühere Vorsitzende des konservativen CDS-PP, José Ribeiro e Castro, der als Vater des Gesetzes für die Einbürgerung gilt. Er bekam vorgehalten – wenngleich eher implizit und unter der Hand als auf der grossen politischen Bühne, denn die Diskussion ist heikel –, wohl auch an eigene Interessen zu denken. Er gehört zu einer Anwaltskanzlei, die sich unter anderem auf Fragen der Staatsbürgerschaft spezialisiert hat. Auch in den USA und Israel werben Anwaltskanzleien für ihre Dienste – inklusive der Forschung in Stammbäumen – bei der Einbürgerung in Portugal. Als Vorteil preisen sie mehr den Besitz des Passes als die Aussöhnung mit dem Land der Vorfahren.
Kritik auch im linken Lager
Ein revidierter Vorschlag für die Gesetzesänderung verlangt nur noch den Nachweis einer „effektiven Bindung“ an Portugal. Einige historische Figuren des Partido Socialista äusserten Bedenken gegen jedwede Änderung des geltenden Gesetzes. Ein Unbehagen bekundete unter anderem der frühere Staatspräsident der Jahre 1996–2006, Jorge Sampaio, der mütterlicherseits selbst jüdische Wurzeln hat.
Auch der linke Historiker Rui Tavares sprach sich gegen jede Änderung des Gesetzes aus. Er erinnerte daran, wie Nazi-Truppen im Zweiten Weltkrieg die Niederlande besetzten. In Amsterdam hätten rund 4’000 Juden portugiesischen Ursprungs die (erhalten gebliebene) portugiesische Synagoge frequentiert und sich gegenüber den Besatzern als Portugiesen zu erkennen gegeben. In Portugal erklärte sich Diktator Salazar zu ihrer Aufnahme bereit, sofern sie im Besitz portugiesischer Reisepässe seien. Mangels solcher Pässe habe ihr Weg in die Konzentrationslager geführt, schrieb der Historiker.
Der Konsul, der dem Diktator trotzte
Eine späte Ehre gebührt in Portugal (wie auch unter anderem in Israel) dem früheren Konsul des Landes in Bordeaux, Aristides Sousa Mendes (1885–1954), weil er sich im Kriegsjahr 1940 aus humanitären Motiven über Anweisungen Salazars hinwegsetzte. Als Nazi-Truppen in Frankreich einfielen, hofften viele Menschen, unter ihnen zahlreiche Juden, ins neutrale Portugal zu entkommen und sich dort nach Amerika einschiffen zu können. Ohne ein portugiesisches Visum hätten sie aber schon die Grenze nach Franco-Spanien nicht überqueren können.
Salazar untersagte den portugiesischen Konsulaten derweil die Vergabe von Visa an Personen, die nicht in ihre Heimatländer zurückreisen konnten – eine zynische Umschreibung für Juden und andere Verfolgte. Sousa Mendes setzte sich über Salazars Verbot hinweg und vergab einige Wochen lang Visa an alle Menschen, die diese beantragten. In den Medien kursiert die (schwer verifizierbare) Zahl von 30’000 Personen, denen er auf diesem Weg die Flucht nach Portugal ermöglicht haben dürfte. Sousa Mendes wurde seines Postens enthoben und starb in Armut. Seine Nachfahren mussten bis nach dem Sturz der Diktatur durch die Nelkenrevolution von 1974 auf seine Rehabilitierung warten.