Sind es bloss Stolpersteine, die weggeräumt werden können oder ist der Weg zu einer zukünftigen Kooperation durch Felsbrocken verschüttet? Mit dem deutlichen Nein zur SVP-Begrenzungsinitiative am 27. September 2020 signalisierte das Schweizer Volk seine Verbundenheit mit der EU. Jetzt zählen wir auf positive Reaktionen aus Brüssel, was die Verhandlungsprobleme beim hängigen Rahmenabkommen betrifft. Hier eine kleine Auswahl an relevanten Problempunkten.
Dauerbrenner: Institutionelles Rahmenabkommen (InstA)
Kommt Zeit, kommt Rat? Diese alte Erkenntnis scheint auch gegenwärtig berechtigt. Je länger die Schweiz mit der EU über ein Rahmenabkommen verhandelt (seit Mai 2014!), desto klarer wird das Bild: In der jetzigen Form ist das vorgespurte Abkommen in der Schweiz chancenlos. Wir brauchen also Zeit, um klarer zu sehen. Der schmale Grat zwischen altmodischem «Unverhandelbar» und zeitgemässer «Kooperation» muss «angeseilt- gesichert» begangen werden. Beide Seiten müssen flexibler werden.
Dabei scheint es wichtig, dass in unserem Land das Verständnis für vertragliche Konzessionen wächst und ebenso es in der EU akzeptiert wird, dass gewisse ihrer Vorstellungen unvereinbar sind mit der eidgenössischen Souveränität. Solange sich innerhalb der EU einzelne Mitgliedsländer wie Ungarn, Polen und Rumänien seit Jahren ungestraft um die EU- Vorschriften foutieren, ist es unangebracht, Druck oder Zwang auf die Schweiz auszuüben. Andererseits ist das schweizerische «Rosinenpicken» ein Relikt aus vergangenen Zeiten.
Durch Verhandeln zum Win-win-Erfolg
Als Beispiel, was unsere Verhandlungsdelegation in Brüssel erwartet: Hinter dem im zu erarbeitenden Rahmenvertrag festgelegten Begriff «Prozeduren» verstecken sich veritable Konfliktbrocken. Bei Uneinigkeit, wie verbindlich das EU-Recht für die Schweiz gelten soll, wird zuerst der gemeinsame Ausschuss versuchen, eine Lösung zu finden. Gelingt das nicht, wird ein paritätisches Schiedsgericht eingesetzt. Geht es aber um die Auslegung oder Anwendung des EU-Rechtes, ruft das Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof an. Und dieses Urteil ist für das Schiedsgericht verbindlich, doch dieser Europäische Gerichtshof ist keine neutrale Instanz, sondern das Parteigericht der EU.
Rudolf Strahm wies im TA darauf hin, dass diese Verfahrensbestimmung längerfristig einer Delegation der schweizerischen Wirtschaft- und Arbeitsmarktpolitik in vielen Bereichen an die EU gleichkommt, also quasi einem Politik-Outsourcing nach Brüssel. Und der nächste Stolperstein folgt sogleich: Innerhalb von sechs Monaten nach Vertragsunterzeichnung muss das alte Freihandelsabkommen von 1972 zwingend revidiert werden. Da wären dann echt schweizerische «Spezialitäten» betroffen, wie Staatsgarantien für Kantonalbanken, Gebäudeversicherungen, das Kartellrecht oder die Wettbewerbspolitik.
Die Klärung solcher Fragen wird nicht leicht sein. Denn, anders als es einzelne EU-Mitgliedstaaten seit Jahren vorführen, gedenkt die Schweiz sich an die ausgehandelten Vereinbarungen zu halten. Es ist zu hoffen, dass die EU den Druck auf die Schweiz zur Unterzeichnung dieses Vertrags nicht erhöhen wird, denn dies würde unweigerlich zu Gegendruck führen. Letztlich hat dann das Volk das letzte Wort und dort ist die Souveränität der Schweiz in Stein gemeisselt.
In einem Interview meinte der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: «Die Schweiz muss sich bewegen. Was nicht ausschliesst, dass sich die Europäische Union auch bewegen muss.» Eben.
Das Volk gegen die Richter
Ein kleineres Erdbeben löste dieses Jahr ein Urteil des obersten Deutschen Gerichts aus: Darin rügte es den Europäischen Gerichtshof (EuGH), weil er die Grundsätze von Demokratie und Volkssouveränität missachtet habe. Stein des Anstosses ist der milliardenschwere Kauf von Staatsanleihen. «Abgesehen von der grundsätzlichen Merkwürdigkeit der Flutung der Märkte durch die Europäische Zentralbank (EZB) ist die Gutheissung dieses Vorgehens durch den Europäischen Gerichtshof fragwürdig. Um die Ziele der EU zu fördern, lässt er nur eine begrenzte gerichtliche Kontrolle zu. Die Folge davon: Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten erodiert, die Kompetenzen werden zusehends nach Brüssel verlagert.» (NZZ am Sonntag)
Diese Bemerkung ist wichtig. Anstelle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers treiben Richter die EU-Integration voran. Wir in der Schweiz sollten hellhörig sein im Zusammenhang mit der weiteren Integration in der EU. Wir wählen ja nicht nur, sondern entscheiden über Sachabstimmungen oder Verfassungsänderungen an der Urne. Der Diplomat Paul Widmer meint dazu: «Die Schweiz hat zum Glück demokratieerprobte Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Hoffentlich verstehen diese die Warnzeichen aus Karlsruhe.»
Der grosse Kuhhandel
750 Milliarden Euro zahlt die EU in den Wiederaufbaufonds zur Bewältigung der Corona-Jahrhundertkrise. Inwieweit diese Massnahme sinnvoll ist und wie sich diese Politik 2021 weiterentwickeln wird, falls Covid-19 ihr auch dannzumal noch den Stempel aufdrücken wird, soll hier nicht diskutiert werden. Es geht um einen Richtungswechsel, der still und leise innerhalb der EU abläuft und den die Analystin Judy Dempsey (Senior Fellow beim Thinktank Carnegie Europe und Chefredaktorin von «Strategic Europe») in der NZZ am Sonntag hart kritisiert.
Worum geht es? «Das ursprüngliche Ziel, die Auszahlungen an die Mitgliedsländer an Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit zu binden, hat sich während des Gipfels in Luft aufgelöst.» Sie verweist auf Ungarn, Polen, Rumänien, die Slowakei und dass es die EU schlicht verpasst habe, dieses enorme Geldpaket an die Rechtsstaatlichkeit zu binden. Besonders betrübt sie die Rolle von Angela Merkel, die nicht den politischen Willen einer Konfrontation mit Orban aufgebracht hätte. «Orban ist der Sieger und bekommt noch Milliardenbeträge, nur weil er damit gedroht hat, den Gipfel scheitern zu lassen.»
Etwas resigniert meint Dempsey schliesslich: «Sie können keinen Frieden kaufen [die EU ist ursprünglich ein Friedensprojekt], indem sie Schulden aufnehmen oder Zuschüsse und Kredite verteilen. Beim Frieden geht es um Werte. Und von diesen hat sich die EU verabschiedet.»
Lieber morgen als heute
Diese Schuldenwirtschaft ist alles andere als nachhaltig. Zählt man die 750 Milliarden Euro mit dem Haushaltsbudget von 1074 Milliarden Euro zusammen, ergibt sich ein unglaublicher Schuldenberg von 1824 Euro, der bis 2058 zurückbezahlt sein soll. Wer soll’s bezahlen? Die nächsten Generationen. Diese Problematik wird also in die Zukunft verschoben; gleichzeitig wird bei den eigentlichen Zukunftsthemen massiv gespart. Wer dies als «grossen Wurf» bezeichnet, denkt zu kurzfristig, wer von einem «historischen Gipfel» spricht, denkt in Schlagworten.
Die EU auf dem Weg zur Schuldenunion – ein Zukunftsprojekt mit schalem Nachgeschmack.