1669 erschienen posthum die «Pensées» von Blaise Pascal. Darin schreibt der Philosoph den denkwürdigen Satz: «Das ganze Unglück des Menschen kommt aus einer einzigen Ursache: nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben zu können.» Pascal unternimmt eine Art Kulturkritik im Blick auf die adlige Gesellschaft seiner Zeit. Diese sei geprägt von dem unaufhörlichen Bedürfnis nach Zerstreuung, was nichts anderes sei als eine Flucht vor ihrer inneren Not. Sie flüchteten in den dauernden Tumult, um ihr inneres Elend und ihre Probleme zu vergessen.
Aufstieg im Pulverschnee
Dreihundert Jahre später, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, sprachen Soziologen von der «Unrast des Gegenwartsmenschen», ein Begriff, der Ähnliches meint wie das von Pascal angesprochene Getriebensein.
Letzten Donnerstag ging ich mit einem Freund auf einen Höhenzug in Graubünden, der auf der Landkarte keinen Namen hat. Es war sonnig, aber bitterkalt, sodass der Pulverschnee, der vorher gefallen war, auf den flachen Nordhängen federleicht und weich war. Wir schauten auf die Karte und verständigten uns über die Route, danach redeten wir nicht mehr viel.
Die Schneelandschaft lag in völliger Stille, man hörte nur hier und da ein leichtes Knirschen der Tourenbindung oder ein Schieben der Skifelle im Schnee. Aus dem Tal kam zwar dann und wann das Geräusch von einem Auto herauf, aber ansonsten umarmte uns die Lautlosigkeit wie eine Anästhesie, ein heilsamer Schock.
Die Aprilsonne blendete stark. So stark, dass dort, wo sie flach über die Hänge schien, die Schneekristalle im Gegenlicht leuchteten und glühten vor Lichtenergie.
Angst vor der Leere
Der Norweger Erling Kagge, der allein zu Fuss die 1310 Kilometer an den Südpol gegangen ist, sagte einmal: «Auf meinem 50-tägigen einsamen Marsch ohne jeden Radarkontakt habe ich die Erfahrung einer inneren und äusseren Stille gemacht, die mein Leben verändert hat (…) Ich vermute, dass die Menschen Angst vor der Stille haben, weil sie die Begegnung mit dem eigenen Selbst fürchten. Das ununterbrochene Rauschen schützt vor dieser Konfrontation.» (Tagesanzeiger Magazin, November 2017)
Mit dem ununterbrochenen Rauschen bezog sich Kagge nicht nur auf den Funkkontakt, sondern auch auf Leute, die, wo sie gehen und stehen, Ohrenstöpsel tragen. Manche haben das Hämmern der Musik so laut gestellt, dass man es durch den Kopfhörer hört, wenn man neben ihnen im Tram sitzt. Andere müssen ununterbrochen telefonieren, sie kommen einem auf dem Trottoir entgegen wie irre Nachtwandler im Selbstgespräch. Die unausweichliche kleine Spassmaschine namens Smartphone verwandelt die Welt in ein Geräuschgefängnis. Bevölkert von Leuten, die wie Reiz-Reaktions-Automaten permanent auf der Suche nach Stimulation von aussen sind. Der flexible Mensch, wie der Soziologe Richard Sennett ihn nannte, ist nie ganz anwesend, da ihn das Abwesende mit dem Versprechen, besser zu sein als das Anwesende, ständig ablenkt.
Die Stille ist ein seltenes Gut geworden. Ich bin überzeugt, dass man nicht an den Südpol gehen muss, um sie kennenzulernen. Auch beim Hemden glätten oder bei Yogaübungen kann man ihren Wert erfahren. Nun ist dieses seltene Gut – zumindest als äussere Beruhigung – zwangsläufig über uns gekommen. Eine ansteckende Krankheit breitet sich aus und bewirkt, dass es allenthalben etwas ruhiger geworden ist. TV-Reporter stehen auf dem menschenleeren Markusplatz in Venedig und sagen in die Kamera, so etwas habe man seit Menschengedenken nicht erlebt. Vielen macht das Angst. Man liest in den Zeitungen von Leuten, die befürchten, Versammlungsverbote, Kontaktsperren und Abschottung könnten zu sozialer Isolierung, schmerzhafter Einsamkeit und Depression führen.
Andere wollen die Seuche als eine Chance begreifen. Die Klimaaktivisten sagen, man sehe nun, wie leicht es sei, weniger CO₂ auszustossen. Globalisierungs-Skeptiker argumentieren, es müsse jetzt ein Ende haben mit grenzenloser kapitalistischer Wachstumslogik. Und Gläubige wie der Dominikaner Frei Betto rufen zur Umkehr, denn die Krise sei ein Protest der Natur, die der Mensch misshandelt habe.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir in der Krise erfahren könnten, dass Stille wertvoll ist. Vielleicht können wir wieder lernen, Leere und Langsamkeit auszuhalten und gar zu schätzen. Vielleicht können wir lernen, durchlässig zu werden für die Erfahrung unserer Sinne.
Glücksgefühle im Flow
Das Gehen im weichen Schnee mit den Fellen unter den Skiern ist eine gleichmässige Bewegung, die meditativ sein kann. Man vergisst Zeit und Raum und gerät in einen Schwebezustand, den Glücksforscher in den 80er-Jahren als «flow» bezeichnet haben. Viele haben beim Bergsteigen oder Skitouring diese Erfahrung gemacht.
Mir fiel beim Aufstieg ein Satz des Argentiniers Julio Cortázar ein. Man fragte ihn in einem Interview in Madrid, ob er Angst vor dem Tod habe. Er entgegnete, er wisse, dass er nicht unsterblich sei, aber er denke nicht an den Tod, habe aber auch keine Angst davor. Er verdränge einfach die Existenz des Todes und das helfe ihm, unter der Sonne zu leben: «Y eso me ayuda a vivir de una manera … cómo decirlo? Bajo el sol. Solar.»
Dieser Ausdruck «Unter der Sonne leben. Sonnig» ist einfacher zu übersetzen als zu verstehen. Aber man ahnt etwas von diesem sonnigen Gemüt in dem Moment, in dem man die Erfahrung macht, dass man an einem Aprilmorgen in Graubünden erfüllt sein kann von dem Wunder einer verschneiten Landschaft in der Sonne. Auf einer Zeitinsel. In der grossen Stille.
Der Abenteurer aus Norwegen entgegnete auf die Frage, ob Flucht in die Stille eine Flucht in ein Versteck sei: «Nein, im Gegenteil. Ruhe hat nichts damit zu tun, dass man der Welt den Rücken zukehrt. Ruhe bedeutet, die Welt ein wenig klarer zu sehen, seinen Kurs zu halten und zu versuchen, das Leben zu lieben.»